Mittwoch, 14. Juli 1971
In der Auflösungsdebatte im Nationalrat verhärteten sich die Fronten
sichtlich. Die FPÖ griff primär natürlich die ÖVP an, doch hatte
Zeillinger in seiner rüden Art auch die SPÖ ganz hart attackiert. An
das Fernsehpublikum gewendet erklärte er, dass sonst die Minister
nicht bereit sind, im Hohen Hause so lange Antworten und Rechenschaften
zu geben und deshalb das was die Minister sagen ernst genommen werden
kann. Ich glaube, dass das Fernsehen wirklich in einem Parlament nichts
verloren hat. Nicht dass ich das Parlament von der Öffentlichkeit aus-
schliessen möchte, aber ich glaube, dass überhaupt die parlamentarische
Arbeit reformiert gehört und diese Reform durch das Fernsehen nicht ge-
fördert sondern vielleicht sogar verzögert wird. Durch die Debatte ist
im Parlament noch niemals ein Gesetzentwurf anders als bereits vor der
Debatte beschlossen worden. Durch die Debatte sollen die entsprechenden
Standpunkte der Öffentlichkeit zum Bewusstsein gebracht werden. In
Wirklichkeit ist aber die Diskussion viel zu langatmig und viel zu sehr
zum Fenster hinaus, sodass meiner Meinung nach hier ein Ansatzpunkt
einer Reform sein müsste. In der Geschäftsordnung steht ausserdem, dass
ein Minister jederzeit das Wort ergreifen kann, wenn er von der Regierungs-
bank spricht. Da durch hat der Minister oder die Regierung gegenüber den
Abgeordneten einen ungeheuren Vorteil. Die ÖVP hat in den vergangenen
vier Jahren als sie in der Regierung sass, dieses Mittel eigentlich
nie richtig anwenden können, denn die soz. Abgeordneten haben sehr streng
darauf geachtet, dass von der Regierungsbank keine Polemik erfolgte.
Der Justizminister Klecatsky hatte deshalb oft einen Wirbel im Haus
ausgelöst, da er nicht Abgeordneter war und nur von der Regierungsbank
sprechen konnte. Andererseits aber wird – wenn ein Minister vom Redner-
pult aus spricht – sofort in der Opposition gesagt, die Regierungspartei
hat scheinbar nicht genug Verteidiger, weshalb die Regierung selbst ans
Rednerpult treten muss. Deshalb hat Kreisky mit Recht gesagt, dass wir
uns, wenn wir angegriffen werden, von der Regierungsbank aus verteidigen.
Daraus muss sich natürlich eine Polemik ergeben und löst damit automa-
tisch einen entsprechenden Wirbel aus. In der Geschäftsordnung steht
ausserdem natürlich kein Wort davon, dass man von der Regierungsbank
nicht polemisieren darf. Zweifelsohne auch ein notwendiger Reformpunkt.
Weiters ist es meiner Meinung nach vollkommen unmöglich, dass das Parlament
von 9 Uhr früh bis 9 Uhr abends tagt, weil mehr oder minder eine ständige
Anwesenheitspflicht notwendig ist. Das Haus besitzt kaum Räume, in denen
06-0872
arbeiten kann, sodass eigentlich die ganze Regierung blockiert ist.
Die Bevölkerung erwartet nun, dass die Arbeit geleistet wird, darüber
hinaus aber noch die Parlamentarier womöglich im Saal sind. Für den
Fernsehzuschauer oder gar den Besucher muss der Eindruck entstehen, dass
sich überhaupt niemand um die Reden kümmert. Meistens ist dies sogar auch
wirklich der Fall. Besonders wenn zu einem unbedeutenden Gesetz stunden-
lang doch gesprochen wird, auch hier wäre eine dringende Reform notwendig.
Ich habe seit eh und je die Meinung vertreten, man müsste ein anderes System
im Parlament anstreben. Die Trennung zwischen dem Parlament und der Re-
gierung soll nicht von Regierungspartei und Oppositionspartei sein, sondern
die Trennung müsste sein, dass das gesamte Parlament gegen eine Regierung
auftreten müsste. Voraussetzung dafür ist, dass die Regierung proporzmässig
zusammengesetzt ist und alle im Nationalrat vertretenen Parteien auch tat-
sächlich einen entsprechenden Anteil am Regierungsgeschäft haben. Dann müsste
es dazu kommen, dass das gesamte Parlament als Gesetzgeber, aber dann vor
allem als Kontrolle gegen die Regierung auftritt. Die Regierungsmitglieder
dürften dann auch nicht mehr Parlamentsabgeordnete sein, ihr Mandat müsste,
solange sie in der Regierung sind, ruhen. Nicht nur die Bezüge, wie das heute
der Fall ist, sondern automatisch ein Nachfolger für die Regierungszeit be-
stellt werden. Ich fürchte durch das neue Wahlsystem wird es für eine Partei
sehr schwierig sein, die absolute Mehrheit zu erreichen und es wird daher
immer Koalitionsregierungen geben. Diese Koalitionsregierungen werden dann
immer wieder im Hinblick auf die nächsten Wahlen entsprechende Arbeit leisten
und damit automatisch die innenpolitische Lage sich wesentlich verschärfen.
Sicherlich leide ich noch unter dem Trauma 1934 und bin deshalb besonders
vorsichtig und empfindlich. Andererseits habe ich seit 1945 bis zur Hoch-
blüte der grossen Koalition miterlebt, wie durch Jahrzehnte hindurch doch
die Zusammenarbeit der grossen Parteien Einmaliges geleistet hat. Mangel
innerhalb der Zeit der grossen Koalition war nur, dass auch dort die Regierungs-
kontrolle wahrscheinlich zu schwach gewesen ist. Das Anwachsen des Beamten-
apparates und viele andere Auswüchse ist auf diesen Umstand zurückzuführen.
Man darf nicht vergessen, dass die Bürokratie in Wirklichkeit keinen un-
mittelbaren Chef hat, Der Minister selbst kann sich um die Details äusserst
schwierig kümmern, und wenn kein guter Präsidialchef hier ist, dann kann
es dazu kommen, dass Ministerien postenmässig anschwellen ohne wirklich po-
sitive und wirkungsvolle Arbeit zu leisten.
Da wir im Präsidium und im Bezirksausschuss beschlossen haben, dass Wald-
brunner wieder unser Spitzenkandidat sein soll, teilte ich diesen Beschluss
Waldbrunner mit. Ich hatte vorher aber bereits mit Benya ein Gespräch und
Benya erklärte mir, dass Waldbrunner wahrscheinlich nicht mehr kandidieren
will. Er selbst sagte mir dann, dass er so vielen Genossinnen und Genossen,
wenn sie zur Altersgrenze hinkamen, erklärt hat, es ist doch viel ziel-
06-0873
führender, wenn sie sich selbst zurückziehen, bevor irgendjemand be-
hauptet, dass bis zum letzten Moment er unbedingt seinen Platz behalten
wollte. Er selbst fühlt sich zwar körperlich jetzt sehr gut und ist
mit der Entwicklung, die die Partei und insbesondere unser Bezirk ge-
nommen hat, sehr zufrieden. Er drückte mir neuerdings seine grosse
Sympathie aus und meinte, dass er jetzt wirklich beruhigend den Bezirk
als Mandatar verlassen kann, da er mit meiner Nachfolge mehr als zufrieden
ist und überhaupt meine Entwicklung als äusserst glücklich sieht. Aus
mir vollkommen unerklärlichen Gründen hat er jetzt eine viel zu gute
Meinung von mir. Ich kenne Waldbrunner schon 25 Jahre, denn er war von
der Partei als erster Verbindungsmann zu den sozialistischen Studenten
bestimmt worden. Damals hat Waldbrunner als Zentralsekretär die Aufgabe
gehabt, die Entwicklung bei den Studenten in die Hand zu bekommen.
Ich selbst war der erste Obmann der sozialistischen Studenten Wiens und
habe ihn deshalb aus dieser Zeit bereits gekannt. Näher bekannt sind wir
allerdings erst dann geworden, als ich bereits im dritten Bezirk ohne
sein Zutun, aber auch sicherlich nicht gegen seinen Widerstand von Thaller
als Bezirksmitarbeiter gewonnen wurde. Damals war ich Gott sei Dank noch
nicht Mandatar, denn in der Landstrasse hat es sehr grossen Widerstand
gegen einen Fremden gegeben. Wahrscheinlich hat dann Waldbrunner beob-
achten können, wie ich mich innerhalb kürzester Zeit von einem "Fremden"
zum Obmann-Stellvertreter und letzten Endes dann sehr bald zum Obmann
hinaufgearbeitet habe. Trotzdem bedaure ich es zutiefst, wenn Waldbrunner
nicht mehr kandidieren sollte. Waldbrunner ist heute im Nationalrat als
erster Präsident eine Säule, die kaum ersetzt werden kann. Für den dritten
Bezirk ergibt sich ausserdem, dass wir damit wahrscheinlich das zweite
Mandat verlieren werden. Ich werde natürlich versuchen, innerhalb der
Wiener Organisation das zweite Mandat zu erhalten. Da es aber viele
Bezirke gibt, die ebenfalls 15.000 soz. Wähler haben und kaum ein zweites
Mandat haben, kann ich mit Sicherheit annehmen, dass wir nicht so leicht
durchdringen werden. Natürlich wird man unsere Kandidaten – wir haben
bisher 5 gestellt – auf die Liste nehmen, aber entscheidend ist ja, wo
die entsprechenden Kandidaten platziert werden. Die Gewerkschaftsfraktion,
die bisher an der dritten Stelle in unserem Wahlkreis einen Vertreter
hatte, wird wahrscheinlich nach wie vor darauf bestehen, dass ein Arbeiter
auf die Liste kommt. Dadurch würde sich aber nur die Chance verringern,
einen auch für die Partei interessanten Kandidaten auf eine wählbare
Stelle zu bringen. Von unserem Standpunkt aus wäre es daher ideal, wenn
es Kreisky gelingen würde, vielleicht doch Waldbrunner noch für eine
neue Kandidatur zu gewinnen. Die Wahrscheinlichkeit – fürchte ich – ist
allerdings sehr gering.
Tagesprogramm, 14.7.1971