Software-Einsatz in der geisteswissenschaftli-chen Forschungspraxis: Ergebnisse einer Umfrage
https://zenodo.org/records/4645279
Zielstellung
Mit unserem Vortrag leisten wir die folgenden Beiträge für die Digital Humanities:
1. Vorstellung und kritische Reflexion der Forschungsergebnisse anhand der abgeschlossenen Umfrage für Berlin/Brandenburg: Hier werden wir vor allem zeigen, zu welchen Ergebnissen wir mit unserer Umfrage gelangt sind und welche Anforderungen an zukünftige Forschungsarbeiten in den Geisteswissenschaften und der Informatik gestellt werden müssen.
2. Reflexion über die Nutzung von TaDiRAH (Taxonomy of Digital Research Activities in the Humanities) als methodische Basis für die Umfrage: In unserem Vortrag werden wir unsere Probleme aufzeigen, die bei der Nutzung der Taxonomie aufgetreten sind. Diese Probleme sind einerseits auf die Verwendung bestimmter Fachbegriffe, andererseits auch auf eine teilweise fehlende systematische Abgrenzung zwischen den Forschungstätigkeiten in TaDiRAH zurückzuführen. Wir werden konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Taxonomie vorstellen.
3. Reflexion zum Einsatz einer Umfrage als Forschungsinstrument: In diesem Teil des Vortrags werden wir vor allem auf statistische Anforderungen, die aus der Nutzung eines solchen Forschungsinstruments erwachsen, eingehen und zeigen, inwiefern unsere Ergebnisse verallgemeinerbar sind.
Methodischer Ansatz
Die Umfrage-basierte Studie orientiert sich an folgendem Vorgehen (Müller et al. 2014): (1) Definition der Forschungsziele, (2) Bestimmung der Zielgruppe, (3) Spezifizierung des Fragenbogendesigns, (4) Überprüfung durch Pre-Tests, (5) Durchführung der Umfrage sowie (6) Analyse der Daten. Wir werden auf diese einzelnen Schritte im Folgenden kurz eingehen.
Definition der Forschungsziele
Der Anlass für diese Studie ist der Sammelband #bbdh – Berliner Beiträge zu den Digital Humanities, welcher vom Einstein-Zirkel Digital Humanities im Januar 2016 veröffentlicht wurde. Der darin erscheinende Beitrag „Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften oder wieviel Digital Humanities gibt es in den Geisteswissenschaften?“ (Müller-Birn et al. 2016) liefert einen Überblick über den Einsatz von Software innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis. Wir wollen dabei unter anderem die folgenden Fragen beantworten:
- In welchem Umfang wird Software eingesetzt?
- Inwiefern gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Softwareeinsatz und dem Forschungskontext?
- Welche Software wird eingesetzt und welche typischen Softwarenutzungsmuster lassen sich identifizieren?
Darüber hinaus soll die Studie einen Beitrag für den Forschungsbereich E-Research leisten. Durch den Einsatz von Software ändert sich, wie WissenschaftlerInnen forschen. Besonders in den Geisteswissenschaften scheint diesbezüglich ein Wandel stattzufinden. Unser Ziel ist es besser zu verstehen, welche Anforderungen an zukünftige Software gestellt werden und wie die Informatik ForscherInnen im Prozess der Wissensgenerierung gezielter unterstützen kann. Daher wurden explizit Personen angesprochen, die noch keine oder wenig über die gängigen Office-Programme hinausgehende Software in ihrer persönlichen Forschungspraxis einsetzen.
Bestimmung der Zielgruppe
Wir haben unsere Umfrage auf WissenschaftlerInnen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen in der Region Berlin und Brandenburg beschränkt.
Spezifizierung des Fragenbogendesigns
Eine große Herausforderung war es, den Begriff der Forschungspraxis näher zu definieren. Hierfür haben wir bestehende Fragenbögen zu Arbeitspraktiken im Bereich DH analysiert. Diese überwiegend im angloamerikanischen Raum durchgeführten Studien konzentrieren sich vor allem auf text-zentrierte Forschungsmethoden und zeigen die zunehmende Durchdringung von digitalen Methoden in der textbezogenen (insbesondere philologischen, linguistischen und historischen) Quellenarbeit (vgl. Unsworth 2000; Houghton et al. 2004; Toms und O’Brien 2008; Ceccarelli et al. 2011; Kemman et al. 2014). Als Studien für den deutschsprachigen Raum wurden Burghardt et al. (2015) und Stiller et al. (2015) herangezogen. In der Auswertung dieser Studien stellte sich heraus, dass die Begrifflichkeiten variieren bzw. sehr unterschiedlich verwendet wurden, wodurch die Ergebnisse nicht oder nur schwer vergleichbar waren.
Daher haben wir uns entschieden, die Forschungsaktivitäten aus TaDiRAH zugrunde zu legen (Perkins et al. 2014), welche unter anderem auf Arbeiten von Unsworth (2000) sowie Gasteiner und Haber (2010) basiert. Die in TaDiRAH definierten Forschungsaktivitäten (research activities) sind in Unteraktivitäten unterteilt. Wir haben diese als Tätigkeiten bezeichnet. Jeder einzelnen Tätigkeit wurde in einem ersten Schritt die jeweils für die Tätigkeit geeignete Software zugeordnet.
Die einzelnen Konzepte wurden wie folgt in der Umfrage zusammengeführt:
Forschungsaktivitäten sind alle Aktivitäten, die auf die Untersuchung von bestimmten Phänomenen in der Forschungsarbeit abzielen. Solche Phänomene können beispielsweise die Pariser Jahrhundertwende oder dramatische Strukturen im elisabethanischen Theater sein. Um solche Phänomene näher zu untersuchen, werden beispielsweise textuelle, bildliche oder vertonte Quellen genutzt. Diese Quellen werden mithilfe bestimmter Tätigkeiten bearbeitet, die wiederum durch Software unterstützt werden.
Der Umfrageteilnehmer bzw. die Umfrageteilnehmerin wird dabei zunächst nach einer Priorisierung der Aktivitäten befragt und dann nach der Häufigkeit der Anwendung ausgewählter Tätigkeiten sowie der zugehörigen Software. Darüber hinaus werden eine Reihe weiterer Fragen zur Zusammenarbeit mit anderen GeisteswissenschaftlerInnen gestellt sowie demographische Angaben abgefragt.
Überprüfung und Vortesten
Im Rahmen der Fragebogenerstellung wurde extensives Pre-Testing betrieben. Es wurden 15 Wissenschaftler_innen aus dem Bereich der Geisteswissenschaften gewonnen, eine Word-Version des Fragebogens zu begutachten. In drei Iterationen wurde der Fragebogen weiterentwickelt und vor allem die Wortwahl an die Zielgruppe angepasst.
Des Weiteren wurde die Übersetzung von TaDiRAH präzisiert und Inkonsistenzen in der Beschreibung entfernt. Neben der Überprüfung des Fragebogens durch die Zielgruppe wurde ebenfalls eine Evaluation aus statistischen Gesichtspunkten durchgeführt, wodurch weitere Anpassungen in der Art der Fragestellung erforderlich waren.
Überprüfung durch Pre-Tests
Die Umfrage wurde mit Hilfe der Software Questback erstellt und war vom 17. September 2015 bis zum 2. November 2015 verfügbar.
Weitere Informationen zur Online-Umfrage und der gesamten geplanten Studie sind auf der Webseite verfügbar: https://practices4humanities.wordpress.com/ (Müller-Birn 2015).
Analyse der Daten
Mit dem Stand Dezember 2015 wurde der Fragebogen von 270 Personen beantwortet, darunter über 100 WissenschaftlerInnen (N = 123) aus Berlin / Brandenburg. Nach Abschluss der Umfragephase wurden die erhobenen Daten analysiert. Aus den Umfrageergebnissen konnten wir fünf typische Softwarenutzungsmuster ableiten: 1) Word+, 2) Suchmaschine, 3) Annotationen, 4) Social Media und 5) Basissoftware. Drei Nutzungsmuster beschreiben Personen und ihre Forschungspraxis mit dem Einsatz unterschiedlicher Software, zwei Nutzungsmuster zeigen einen eher selektiven Einsatz von Software. Diese Nutzungsmuster werden genauer beschrieben und ihre Bedeutung analysiert.
Ausblick aus DH-Perspektive
Als Referenzrahmen bietet diese Umfrage die Möglichkeit, in regelmäßigen Abständen und an unterschiedlichen Orten Entwicklungen aufzunehmen, zu analysieren und zu begleiten. Eine derart gestaltete, breitere Umsetzung ist im Rahmen von DARIAH-EU anvisiert (Anne Baillot in Zusammenarbeit mit Laurent Romary).
Die Umfragedaten liefern eine solide Basis für Antworten auf zentrale Fragen der europäischen Digital Humanities. Dies betrifft an erster Stelle die Ermittlung des Bedarfs der Forscher_innen im Hinblick auf ihre Arbeitsprozesse und die Software, die sie täglich benutzen. Die Umfrageergebnisse spiegeln ebenfalls die Selbstwahrnehmung der wissenschaftlichen Gemeinschaft als digital forschend wider und leisten in diesem Sinne einen Beitrag zur reflexiven Entwicklung digitaler Methoden in den europäischen Geisteswissenschaften.
Ausblick aus informatischer Perspektive
Die Umfrage ist Bestandteil einer breit angelegten Studie, die uns über die wissenschaftliche Arbeit und die bestehenden Praktiken der Geisteswissenschaften Aufschluss gibt. Sie konkretisiert, wie diese Forschungsarbeit durch Softwareanwendungen unterstützt wird und in welchen Kontexten Technologien eingebettet sind. Die Erkenntnisse aus der Umfrage bilden die Basis für Interviews, die im Rahmen von sogenannten Arbeitsplatzstudien durchgeführt werden. Die Frage, ob der Umfrageteilnehmer bzw. die Umfrageteilnehmerin auch für ein Interview zur Verfügung stehen würde, haben über 40 Personen in der vollständigen Stichprobe (N = 270) positiv beantwortet und ihre E-Mail-Adresse angegeben. Ziel ist es herauszufinden, wie sich ausgewählte Technologien und Infrastrukturen in die tägliche Arbeit von Forscher_innen einbetten. Dabei soll bewusst die angemahnte Ingenieursperspektive auf Software überwunden werden (Fuller 2008) und Software dahingehend untersucht werden, wie Forscher_innen diese für ihre epistemologischen Prozesse und ihre tägliche Forschungspraxis verwenden (Berry 2011). Die dabei gesammelten Einsichten sollen vor allem der (Weiter-)Entwicklung von Software für die geisteswissenschaftliche Forschungspraxis dienen.
Bibliographie
- Berry, David M. (2011): „The computational turn: Thinking about the digital humanities“, in: Culture Machine 12: 1-22.
- Burghardt, Manuel / Wolff, Christian / Womser-Hacker, Christa (2015): „Informationswissenschaft und Digital Humanities“, in: Information – Wissenschaft & Praxis 66, 5-6: 287–294.
- Ceccarelli, Diego / Gordea, Sergiu / Lucchese, Claudio / Nardini, Franco Maria / Tolomei, Gabriele (2011): „Improving Europeana Search Experience Using Query Logs“, in: Proceedings oft he 15th International Conference on Theory and Practice of Digital Libraries Research and Advanced Technology for Digital Libraries 384-395.
- Fuller, Matthew (2008): Software studies. A lexicon. MIT Press.
- Gasteiner, Martin / Haber, Peter (eds.) (2010): Digitale Arbeitstechniken für die Geistes- und Kulturwissenschaften. Vienna: UTB.
- Houghton, John W. / Steele, Colin / Margaret Henty: (2004): „Research practices and scholarly communication in the digital environment“, in: Grewal, Bhajan S. / Kumnick, Margarita (eds.): Engaging the New World. Responses to the Knowledge Economy. Melbourne: Melbourne University Publishing 169-203.
- Kemman, Max / Kleppe, Martijn / Scagliola Stef (2014): „Just Google It - Digital Research Practices of Humanities Scholars“, in: Proceedings of the Digital Humanities Congress.
- Müller, Hendrik / Sedley, Aaron / Elizabeth Ferrall-Nunge (2014): "Survey research in HCI", in: Olson, Judith S. / Kellogg, Wendy A. (eds.): Ways of Knowing in HCI. New York: Springer 229-266.
- Müller-Birn, Claudia (2015): practices4humanities. Wissenschaftliche Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften https://practices4humanities.wordpress.com/ [letzter Zugriff 09. Februar 2016].
- Müller-Birn, Claudia / Schlegel, Alexa / Baillot, Anne / Klawitter, Jana (im Druck): „Forschungspraxis in den Geisteswissenschaften oder wie digital sind die Geisteswissenschaften?", in: Baillot, Anne / Schnöpf, Markus (eds.): #bbdh – Berliner Beiträge zu den Digital Humanities. Berlin.
- Perkins, Jody / Dombrowski, Quinn / Borek, Luise / Schöch, Christof (2014): „Building bridges to the future of a distributed network: From DiRT categories to TaDiRAH, a methods taxonomy for digital humanities", in: Proceedings of the International Conference on Dublin Core and Metadata Applications.
- Stiller, Juliane / Thoden, Klaus / Leganovic, Oona / Heise, Christian / Höckendorff, Mareike / Gnadt, Timo (2015): Nutzungsverhalten in den Digital Humanities. Technical Report. DARIAH-DE Projektdokumentation R 1.2.1/ M 7.6. https://wiki.de.dariah.eu/display/publicde/Reports+and+Milestones [letzter Zugriff 09. Februar 2016].
- Toms, Elaine G. / O’Brien, Heather L. (2008) „Understanding the information and communication technology needs of the e-humanist“, in: Journal of Documentation 64, 1: 102–130.
- Unsworth, John (2000): "Scholarly Primitives: What Methods Do Humanities Researchers Have in Common and How Might Our Tools Reflect This?", in: Humanities Computing, Formal Methods, Experimental Practice. Symposium, Kings College, London.