Perspektiven kritischer Interfaces für die Digital Humanities im 3DH-Projekt
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Einleitung
Eine Haupttätigkeit von LiteraturwissenschaftlerInnen ist die Interpretation von literarischen Texten. Unter „Interpretation“ wird „ein Sprechen oder Schreiben über Texte [verstanden], in dem ihnen auf methodische und argumentierende Weise Bedeutungen zugeschrieben werden“ (Albrecht et. al. 2015: 1). Mit dem Einzug digitaler Methoden in die literaturwissenschaftliche Praxis werden dabei insbesondere die Formen der Bedeutungszuschreibung und -produktion sowie die damit verbundene Frage nach einem Textverstehen zur Disposition gestellt (vgl. Rockwell/Sinclair 2016). Eine wichtige Rolle in der Gestaltung von digitalen Zugängen zur Textinterpretation spielen in diesem Kontext User Interfaces im Allgemeinen und interaktive Visualisierungen im Speziellen. Unter „Interfaces“ verstehen wir die gesamte visuelle Struktur und Bedienlogik einer Software, mit „Visualisierungen“ bezeichnen wir interaktive Teile des Interfaces, die Nutzern auf Daten (in diesem Fall Textdaten) basierende visuelle Repräsentationen zugänglich und diese manipulierbar machen.
Die Frage, wie solche Interfaces und Visualisierungen an den Bedürfnissen interpretierender LiteraturwissenschaftlerInnen orientiert sein sollten, um eine Textanalyse und -interpretation sinnvoll zu unterstützen, ist Teil des Forschungsanliegens des Projekts 3DH – Dreidimensionale dynamische Datenvisualisierung und Exploration für Digital Humanities-Forschungen der Universität Hamburg. 1
Vor dem Hintergrund, dass Interfaces und Visualisierungen in den Geisteswissenschaften eine wachsende Relevanz zugesprochen wird, plädieren wir für eine designbasierte kritische Perspektive. Darunter verstehen wir die Einbindung von Methoden aus dem nutzerzentrierten Design in die Tool-Entwicklung. Diese erlauben eine an Nutzerbedürfnissen und -erwartungen orientierte Gestaltung von Interfaces und Visualisierungen. Dieser Ansatz zielt darauf, die Grenzen der klassischen Verfahren der Datenerhebung und -verarbeitung, wie sie bereits von bestehenden Annotationstools (z. B. CATMA; siehe http://catma.de) unterstützt werden, neu auszuloten.
Zunächst stellen wir die aus unserer Sicht notwendigen normativen Anforderungen an ein kritisches Interface- und Visualisierungskonzept vor, um dann darzulegen, welche Strategie wir in der Gestaltung und Entwicklung solcher Interfaces und Visualisierungen verfolgen. Im Anschluss werden beispielhaft einzelne Wireframes diskutiert.
Grundlagen eines kritischen Interface- und Visualisierungskonzeptes
Eine kritische Bestandsaufnahme aktueller Visualisierungstools und -metaphern und deren Anwendung in den Geisteswissenschaften (vgl. Bradley 2008; Drucker 2011, 2014; Gibbs/Owens 2012) führte im 3DH-Projekt zur Formulierung von vier konzeptionellen Postulaten. 2 Definiert werden damit die Prinzipien, die einem Interface bzw. einer Visualisierung zugrunde gelegt werden müssen, sofern diese literaturwissenschaftliche Arbeitsprozesse sinnvoll unterstützen sollen. Es handelt sich um die Postulate
Die normativen Anforderungen an ein reflektiertes Interface- und Visualisierungskonzept rekurrieren auf die spezifischen Eigenschaften eines literaturwissenschaftlichen Arbeitsprozesses. Dieser folgt keinem finiten Set von methodischen Regeln oder Verfahrensweisen. Vielmehr tritt die Textanalyse und -interpretation als komplexer epistemisch und ästhetisch geformter sowie zirkulär organisierter Prozess auf, der sich als in hohem Maße subjektiv und kontextsensitiv erweist (vgl. Winko 2015: 486).
Für die praktische Entwicklung literaturwissenschaftlicher Interfaces und Visualisierungen gehen wir von zwei Annahmen aus.
Die Komplexität des Interpretationsprozesses kann erstens auf eine Reihe von grundlegenden „routineförmige[n] Tätigkeiten“ (Albrecht et al. 2015: 2) bzw. „scholarly primitives“ (Unsworth 2000) zurückgeführt werden, die iterativ von LiteraturwissenschaftlerInnen zur Bedeutungszuweisung durchgeführt werden. Diese routineförmigen Tätigkeiten sind „oftmals nicht vollständig durch explizierbare Regeln oder Methoden bestimmt, sondern [beruhen] in hohem Maße auf implizitem Wissen und Können“ (Albrecht et al. 2015: 2).
Zweitens nehmen wir an, dass nutzerzentrierte Gestaltung als etablierter Prozess, dessen Methodenrepertoire sich sowohl aus dem an der Praxis orientierten Design speist, als auch aus der eher wissenschaftlich orientierten Human-Computer-Interaction (HCI), als Vorgehen besonders geeignet ist, implizites Wissen und Können von Nutzern herauszufinden. In diesem Sinne steht die Entwicklung eines Interfaces nicht am Ende „as an afterthought, thrown together after completing the core functionality” (Gibbs/Owens 2012), sondern ist Teil der Ausdifferenzierung und Analyse von Textinterpretation. Mit der Integration von Designmethoden, so die Argumentation des 3DH-Projekts, begegnen wir der von Gibbs und Owens beklagten mangelnden Nutzerzentriertheit bestehender DH-Annotationstools.
Annäherung an die literaturwissenschaftliche Arbeitspraxis über nutzerzentrierte Szenarien
Mithilfe von Szenarien werden besagte ‚routineförmige Tätigkeiten‘ untersucht und erfassbar gemacht. 3 Kollaborativ wurden bislang drei generische Szenarien konstruiert, die das Spektrum typischer interpretierender Forschungstätigkeiten repräsentieren. 4
Die Konzepte erstrecken sich vom klassischen „Close Reading“-Beispiel mit Fokus auf noch nicht taxonomisch gelenkte freie Annotationen und Kommentare bis zum „Distant Reading“-Beispiel unter Anwendung des probabilistischen Verfahrens „Topic Modeling“.
Analog zur Konstruktion der Szenarien ist auch der von uns verfolgte nutzerzentrierte Gestaltungsprozess typischerweise durch ein iteratives Vorgehen gekennzeichnet. 5
Abbildung 1 zeigt eine Auswahl von Varianten sogenannter „Wireframes“, d.h. von Designskizzen zu einem Interface für die Tätigkeit „Kommentieren“ in dem Szenario „Exploration freier Annotationen zwecks Schärfung der literaturwissenschaftlichen Fragestellung“.
In der Abbildung wird der Entwicklungsstand der visuellen Gestaltung dieser Tätigkeit zu zwei verschiedenen Zeitpunkten sichtbar. Der untere Wireframe präsentiert einen fortgeschrittenen Stand. Die Wireframes illustrieren die Verschränkung einzelner Tätigkeiten, die im Szenario beschrieben werden. Hier sieht man etwa den Zusammenhang zwischen den Tätigkeiten „Annotieren“ und „Kommentieren“ dargestellt, in dem Sinne, dass ein Kommentar in der Regel (wenn auch nicht immer) einer Annotation zugeordnet ist, die eine diskrete Position im Text besitzt, also häufig nicht isoliert von der Tätigkeit des Annotierens betrachtet werden kann.
Erste Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Bereits in diesem grob umrissenen Beispiel von Varianten einer visuellen Unterstützung der Tätigkeit „Kommentieren“, manifestieren sich zwei der wesentlichen Herausforderungen an die Erarbeitung und Implementierung eines kritischen Interface- und Visualisierungskonzeptes:
Überlagerung und Wechselwirkung routinemäßiger Tätigkeiten im Interface
Aufgabe der Designiterationen von Szenarien und Wireframes wird es sein, für die Überlagerung und Wechselwirkung der routinemäßigen Tätigkeiten in der Gestaltung des Interfaces eine adäquate Entsprechung zu finden.
Auf Grundlage der bisher erstellten Wireframes für die drei Szenarien ließen sich zwei Modi des literaturwissenschaftlichen Interpretationsverfahrens ausmachen. Zum einen besteht der Interpretationsprozess aus Tätigkeiten, die primär die analytische, investigative Erforschung des Textes adressieren (Annotieren, Sammeln, Kommentieren). 6 Komplementär dazu verhalten sich zum anderen die argumentativen, vornehmlich synthetisierenden Tätigkeiten der Textinterpretation (Gruppieren, Ordnen, Strukturieren). Um den literaturwissenschaftlichen Arbeitsprozess adäquat unterstützen zu können, so unsere Annahme, müssen Interfaces beide Modi in enger Verschränkung umfassen und stetigen Wechsel zwischen diesen ermöglichen. Abbildung 2 zeigt einen ersten Versuch, die Ebene der Bedeutungsproduktion – von uns als „semantic plane“ bezeichnet – d.h. die Ebene, die analytische und synthetisierende Tätigkeiten umfasst und miteinander verknüpft, in die Interface-Entwürfe zu integrieren.
Flexibilität und Manipulierbarkeit von Visualisierungen
Um eine flexiblere Unterstützung des literaturwissenschaftlichen Arbeitsprozesses im Interface zu ermöglichen, ist ferner der Einsatz unterschiedlicher Visualisierungen sinnvoll (vgl. Cheema et al. 2015). Diese sollten vergleichbar sein in ihren Resultaten und ihre Darstellungsform, Interaktivität und der jeweils repräsentierte Datenausschnitt sollte individuell bestimmbar sein.
Im Interesse einer Justierbarkeit der Visualisierungen orientieren wir uns an den Visualisierungssystematiken, wie sie Wilkinson mit seinem „Grammar-of-Graphics“-Ansatz vorschlägt (vgl. Wilkinson et al. 2005). Es existieren bereits verschiedene Implementierungen dieses Ansatzes, die es erlauben, die oben genannten Parameter einer Visualisierung mithilfe einer Grammatik beschreibbar und manipulierbar zu machen (vgl. Satyanarayan et al. 2017). In unserem Kontext ist die deklarative Sprache VEGA 7 interessant, die auf der verbreiteten Javascript-Visualisierungsbibliothek D3 8 beruht und es Nutzerinnen und Nutzern ermöglichen würde, ihre Visualisierungsspezifikationen in JSON zu formulieren.
Im Sinne einer nutzerzentrierten Gestaltung ist es wichtig, diese Funktionalitäten an die unterschiedlichen Vorkenntnisse der Nutzerinnen und Nutzer anpassen zu können. Weniger fortgeschrittene Nutzerinnen und Nutzer sollen stets auf Standardvisualisierungen zurückgreifen können. Unserem Anspruch gemäß steht die Unterstützung des interpretierenden Prozesses als Ganzheit mit dem Interface im Vordergrund.
Fazit
Ein reflektiertes Interface- und Visualisierungskonzept ist nach unserer Einschätzung besonders relevant, um eine Durchdringung und Neuausrichtung der Verfahren und Zugänge der Datenverarbeitung und -exploration der Textanalyse und –interpretation zu unterstützen. Die Integration von Methoden aus dem nutzerzentrierten Design stellt in diesem Kontext einen noch kaum erprobten Weg dar, um neue Tools in den DH zu entwickeln. So dient unsere designbasierte kritische Perspektive, die im Sinne einer Interface- und Visualisierungsutopie zu verstehen ist, letztlich auch der „epistemologischen Selbstaufklärung“ (Albrecht et al. 2015, 10) der literaturwissenschaftlichen Disziplin. Denn wie im 3DH-Projekt bereits deutlich wird, trägt ein reflektiertes Interface- und Visualisierungskonzept zur interdisziplinären Methodendiskussion in der Literaturwissenschaft bei.
Um den Mehrwert eines Interface- und Visualisierungskonzepts praktisch belegen zu können, wird eine sorgfältige Überprüfung unserer auf den Szenarien beruhenden Annahmen notwendig sein. Während das informelle Feedback von Expertinnen und Experten zwar hilfreich sein kann, so erlaubt es doch noch keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Eignung und Aufgabenangemessenheit der Interfaces und Visualisierungen in der Praxis. Vorgesehen ist deshalb, im nächsten Schritt das bisher nur in Form statischer Wireframes umgesetzte Konzept in Form von funktionalen Interaktions-Prototypen mit Nutzern zu testen, um belastbarere Aussagen über seine Validität zu erhalten.
Fußnoten
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