Der Haken von Frazier, der Ali 1971 zu Boden schickte, hat jetzt eine URI: Zur Modellierung, Transkription und Visualisierung performativer kultureller Objekte
https://zenodo.org/records/4621948
Sport ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur (Hitzler 1991: 485f), der Boxsport
war bereits bei den olympischen Spielen der Antike in Form des antiken Faustkampfes
vertreten (Rudolph 1965: 8ff). Im letzten Jahrhundert wurden Boxkämpfe teilweise stark
politisiert und erlangten dadurch Bedeutung auch außerhalb der sportlichen Domäne
selbst (Hughes 2018 und Bloom & Willard 2002). Als komplexe Ereignisse werden die
Kämpfe zunächst durch die Performativität der einzelnen Handlungen ihrer Akteure konstituiert:
(Meid-) Bewegungen im Ring und Faustschläge (Fischer-Lichte 2004). Die Regeln, die
das Boxen ausmachen, bieten den Akteuren im konkreten Ereignis eines Boxkampfes einen
Spielraum, um unterschiedliche Techniken auszuführen, die ihnen im kompetitiven Vergleich
zum Sieg verhelfen sollen (Fiedler 1983: 63). Die Bandbreite der nach den Regeln des
modernen Boxens möglichen Techniken ist bereits 1963 von Horst Fiedler (Fiedler 1963)
in einem Schema erfasst und dabei gewissermaßen nicht-formal modelliert worden. Auch
wenn Boxtechniken in konkreter Anwendung gegenüber den üblichen kulturellen Objekten
martialisch anmuten, erscheint es aus oben genannten Gründen sinnvoll, sie dennoch
als solche anzusehen und das Ziel ihrer Analyse auf der Grundlage ihrer Verdatung
auszugeben. Dazu wurde ein Workflow erarbeitet, der es ermöglicht, die Boxtechniken
als konkrete Umsetzungen der von Horst Fiedler ermittelten Schlag- und Bewegungsvarianten
zu interpretieren und formal zu erfassen, um sie einer weiteren Auswertung zugänglich
zu machen. Auf der Basis des Fiedler-Schemas wurde ein Modell erstellt, das bei der
Transkription von Videoaufzeichnungen als Grundlage für mehrere Annotationsebenen
und das kontrollierte Vokabular dient. Als Datengrundlage werden dabei Videos von
Boxkämpfen auf der Plattform YouTube genutzt. Im Ergebnis entsteht eine Annotation
der Aufnahmen von Boxtechniken, die durch das verwendete Modell im Kontext des entsprechenden
Boxkampfes und der einzelnen Runden verknüpft sind. Dadurch erhält jede erfasste Aktion
einen eigenen Unique Resource Identifier (URI), über den nicht nur ein sekundengenauer
Zugriff auf die jeweilige Stelle im Video möglich wird, sondern auch eine Verknüpfung
mit anderen Instanzen der jeweiligen Boxtechnik. Die Modellierung von Boxkämpfen bringt
somit den Vergleich von Aufnahmen von Umsetzungen bestimmter Techniken zu Wege, beispielsweise
von linken Haken in den 1970er Jahren mit denen in heutigen Kämpfen. Dies wird durch
die Verwendung von CIDOC CRM (
http://www.cidoc-crm.org/
) als für das Modell zugrundeliegende Ontologie realisiert. CIDOC CRM ist eine etablierte
Technologie zur Erfassung kultureller Objekte (Doerr 2003).
Der Workflow besteht aus den folgenden Schritten: Die Transkription beziehungsweise
Annotation der Videos erfolgt in ELAN (
https://tla.mpi.nl/tools/tla-tools/elan/
), die erzeugten Daten liegen in einem XML-Format vor. Die Transkriptionsdaten werden
in oXygen mittels XSLT vorverarbeitet und als Triples formuliert. Die Codierung selbst
geschieht in RDF/XML (unter Verwendung von CIDOC CRM Version 6.2). Die erzeugten RDF-Triples
werden am Ende des Workflows in ein RDF4J-Repository (
https://rdf4j.eclipse.org/
) überführt und können von dort aus mit SPARQL abgefragt werden. Die Befüllung des
Triple Store geschieht über die zugehörige RDF4J API, die durch eine Java-Anwendung
angesprochen wird.
Anschließend können auf Basis der verknüpften Daten Analysen durchgeführt und Visualisierungen erstellt werden, anhand derer an die der ausgeführten Technik entsprechenden Stelle in der Videoaufnahme gesprungen werden kann. Zur Veranschaulichung der Daten wurden zwei verschiedene Visualisierungsformen gewählt: In der ringförmigen Visualisierung werden die einzelnen Aktivitäten pro Runde auf einem Kreis dargestellt. Dabei werden die unterschiedlichen Aktivitätstypen durch entsprechende Symbole verdeutlicht. Die zweite Visualisierung ordnet die durch die Akteure durchgeführten Ereignisse auf einer Art Zeitstrahl an. Zudem wird die zugrundeliegende Videoaufnahme von YouTube direkt auf der Seite mit eingebunden.
Am Beispiel des Boxsports wird gezeigt, wie durch Videoaufnahmen festgehaltene Ereignisse
und deren Teilereignisse in einem Datenmodell erfasst werden können. Diese werden
anschließend über Abfragen zugänglich gemacht, zudem wird über Visualisierungen die
Exploration der Daten ermöglicht. Durch die Verwendung von CIDOC CRM werden die Daten
semantisch modelliert. Dieser Ansatz sollte auf andere Bereiche performativer Kulturobjekte
übertragbar sein, für die ähnliche Daten vorliegen. Dabei müsste lediglich das Modell
beziehungsweise die Modelle an die entsprechende Domäne angepasst werden.
Das Poster soll den Workflow diagrammatisch darstellen und Einblicke in die verschiedenen
Stationen, vor allem in das verwendete Modell und die am Ende entstehenden Visualisierungen,
liefern.
Bibliographie
- Bloom, John / Willard, Michael Nevin (2002): “Introduction. Out of Bounds and between the Lines: Race in Twentieth-Century American Sport” in: Bloom, John / Willard, Michael Nevin (eds.): Sports Matters: Race, Recreation, and Culture. New York & London: New York University Press 1–10.
- Doerr, Martin (2003): “The CIDOC CRM – an Ontological Approach to Semantic Interoperability of Metadata”, in: AI Magazine 24.
- Fiedler, Horst (1983): Boxsport, 2nd ed. Berlin: Sportverlag Berlin.
- Fiedler, Horst (1971): Boxen. Eine Anleitung für die Ausbildung der Anfänger, 3rd ed. Berlin: Sportverlag Berlin.
- Fischer-Lichte, Erika (2004): Ästhetik des Performativen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Hitzler, Ronald (1991): “Ist Sport Kultur?“, in: Zeitschrift für Soziologie 20: 479–487.
- Hughes, Jon (2018): Max Schmeling and the Making of a National Hero in Twentieth-Century Germany. Cham: Springer International Publishing.