Möglichkeiten und Grenzen eines digitalen barocken Gedächtnisses Ein DFG-Projekt in der Rückschau

Müller, Melissa
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Wie kann ein literaturwissenschaftlich und linguistisch annotiertes Korpus barocker Dramen Teil eines kulturellen Gedächtnisses1  sein? Und hat diese Form der Daten Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis? Welche Möglichkeiten und Grenzen eröffnen sich dadurch? Diese Fragen werden anhand eines Korpus, das im Rahmen des DFG-Projekts Interaktionale Sprache bei Andreas Gryphius – datenbankbasiertes Arbeiten zum Dramenwerk aus linguistisch-literaturwissenschaftlicher Perspektive entstanden ist, beantwortet (Informationen zum Korpus: https://gryphius.sprache-interaktion.de ; Tagsets und Annotationsguidelines: https://gryphiusprojekt.wordpress.com/ ) . Das Ziel des genannten Projektes war es, mithilfe eines annotierten Korpus (auf der Basis der Datenbankarchitektur ANNIS3; https://corpus-tools.org/annis/ – Krause/Zeldes (2016)), aus literatur- und sprachwissenschaftlich übergreifender Perspektive zu klären, welche Formen konzeptioneller Mündlichkeit sich in barocken Dramentexten finden lassen und ob Korrelationen zwischen linguistischen Phänomenen interaktionaler Sprache (vgl. Schwitalla 2012; Fiehler 2016; Hennig 2006, z.B. Gesprächspartikeln, Responsive etc.) und literaturwissenschaftlichen Kategorien zu finden sind. Hierbei wird interaktionale Sprache verstanden als Form sprachlichen Handelns, das unabhängig von seiner medialen Realisation (mündlich oder schriftlich) durch die gemeinschaftliche Erzeugung von Bedeutung von zwei oder mehr SprecherInnen gekennzeichnet ist. Das Korpus (240.521 Token) enthält das gesamte Dramenwerk von Andreas Gryphius (1616-1664), der als hochkanonischer Autor bereits zu Lebzeiten durch sein lyrisches und dramatisches Werk Popularität erlangte (vgl. Jeßing 2020). Die Verschriftlichung der Dramentexte folgt der historisch-kritischen Ausgabe Eberhard Mannacks (1991). Die Annotation fand mithilfe des Annotationstools WebAnno ( https://webanno.github.io/webanno/ ) bzw. INCEpTION ( https://inception-project.github.io/ ) statt. Durch die Annotation von sowohl linguistischen als auch literaturwissenschaftlichen Phänomenen kann ein umfassenderer Blick auf interaktionale Sprache geworfen werden, da die sprachlichen Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit mit literarischen Darstellungselementen konsequent enggeführt werden. Das Korpus ist sowohl über eine ANNIS -Instanz ( https://annis.fdm.uni-hamburg.de/annis-gui-3.6.0/gryphius ) als auch über das Archivsystem TALAR (Tübingen Archive of Language Resources) ( https://talar.sfb833.uni-tuebingen.de/erdora/cmdi/DATENZENTRUM/GRYPHIUS ) zugänglich, das Teil der „Tübingen CLARIN-D Repository“-Initiative ist.2 

Das Poster zeigt die Möglichkeiten und Grenzen eines digitalen kulturellen Gedächtnisses des Barock am Beispiel dieses Korpus auf und thematisiert, wie diese Form der Datenaufbereitung den Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses beeinflusst.

Möglichkeiten eines digitalen kulturellen Gedächtnisses des Barock

Digitale annotierte Ressourcen können unser Verständnis von Artefakten erweitern und so zum kulturellen Gedächtnis beitragen. Für das Dramenwerk von Andreas Gryphius bedeutet dies, dass die Texte um die Annotation von linguistischen und literaturwissenschaftlichen Phänomenen angereichert wurden. Dies erlaubt eine Durchsuchbarkeit sowohl nach Token und Textpassagen als auch nach den Annotationen. Des Weiteren ist es mithilfe des Korpus möglich, die durch die Annotation erfassten literaturwissenschaftlichen und linguistischen Phänomene miteinander zu kombinieren und so eventuelle Korrelationen festzustellen (z.B. die Korrelation von Gesprächspartikeln und dramatischer Gattung (vgl. Imo/Müller (i.V.); Müller (i.V)), Gesprächspartikeln und Versmaßabweichungen, Ellipsen und dramatischer Gattung (vgl. Imo (i.V.)). Diese neuen Einblicke in ein kanonisches Artefakt des kulturellen Gedächtnisses sind nur im Digitalen möglich. Die Aufbereitung der Texte mithilfe von Annotationen eröffnet die Möglichkeit, die Texte anders wahrzunehmen und zu verstehen sowie Erkenntnisse zu generieren, die in analoger Textrezeption bzw. -analyse (z.B. Close-Readings) nur schwer zugänglich sind.

Ein Novum stellt außerdem die systematische Annotation von Kategorien der Interaktionalen Linguistik (vgl. Imo/Lanwer 2019) in historischen Texten dar. Durch diese Annotation ist ein Zugriff auf historisch-literarische Texte mit aktueller linguistischer Forschung möglich. Dies bedeutet in Bezug auf das kulturelle Gedächtnis, dass neue Strukturen hinzutreten und das kulturelle Gedächtnis erweitert wird. Neben den hier aufgeführten Möglichkeiten, die durch ein Korpus dieser Beschaffenheit entstehen, sind auch Grenzen in Bezug auf ein kulturelles Gedächtnis zu erkennen.

Grenzen eines digitalen kulturellen Gedächtnisses des Barock

Die Zielsetzung des Projektes Phänomene interaktionaler Sprache zu erfassen, mindert den Input in ein digitales kulturellen Gedächtnis des Barock in dem Sinne, dass einerseits die Varianz zwischen den Druckversionen letzter Hand und der DKV-Ausgabe nach Mannack (1991) nicht abgebildet ist und andererseits das Korpus die Kommentare zu Entstehung, Wirkung, Quellen und Inhalt sowie die Stellenkommentare von Mannack (1991)3  nicht enthält, sodass sie separat hinzugezogen werden müssen, was aber die Verfügbarkeit der DKV-Ausgabe voraussetzt. Dadurch geht ein Teil des barocken kulturellen Gedächtnisses, das in der analogen Ressource vorhanden ist, im digitalen Raum verloren. Ein weiteres Manko ist die für projektexterne NutzerInnen wenig ansprechende Benutzeroberfläche von ANNIS und die, wenn man ANNIS noch nicht verwendet hat, komplexe Query-Language ( https://korpling.github.io/ANNIS/4.3/user-guide/aql/ ), die zur Suche im Korpus benötigt wird. Die Darstellung der Suchergebnisse in ANNIS (vgl. Abbildung 2 ) weicht von den auf analoger Textrezeption basierenden Lesegewohnheiten ab (vgl. Abbildung 1 ) und stellt eine andere Form der Repräsentation von kulturellem Gedächtnis dar. Dies bedeutet für einen Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses im Digitalen, dass neben anderen für das Korpus wichtigen Faktoren, wie z.B. die Auswahl der zu annotierenden Phänomene und deren Organisation in Layern und Tagsets und die Wahl des Annotationstools, auch die letztendliche digitale Darstellung des Gegenstandes berücksichtigt und um eine gute Lesbarkeit und somit auch einen guten Zugang zu ermöglichen, eventuell von bisher für Einzeldisziplinen bewährten Tools abgewichen werden muss.

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Abb. 1: Ausschnitt DKV-Ausgabe nach Mannack (analoge Textrezeption).
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Abb. 2: Ausschnitt Ergebnispräsentation ANNIS (digitale Textrezeption).

Fußnoten

1 Zum Begriff des kulturellen Gedächtnisses: Assmann/Assmann 1990; Assmann 1992; 1995. Welchen Beitrag Dramen zum Gedächtnis und zu Erinnerungen leisten, legt Assmann (1999) am Beispiel von Shakespeares Dramen dar.
2 Der Persistent Identifier (PID) lautet: https://hdl.handle.net/11022/0000-0007-F00B-E.
3 Im DFG-Projekt wurde auf eine Digitalisierung und Annotation der Kommentare verzichtet, da der Fokus auf sprachlichen Strukturen, die als interaktional zu beschreiben sind (auf die Kommentare trifft dies nicht zu), lag.

Bibliographie

  • Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H.Beck.
  • Assmann, Jan (1992): Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H.Beck.
  • Assmann, Jan (1995): "Text und Kommentar". In: Assmann, J. und B. Gladigow (Hrsg.): Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV. München: Fink, 9-33.
  • Assmann, Aleida / Assmann, Jan (1990): "Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis". Funkkolleg Medien und Kommunikation. Konstruktionen von Wirklichkeit, Studieneinheit 1, Studienbrief 5. Weinheim/Basel: Hessischer Rundfunk, 41-82.
  • Fiehler, Reinhard (2016): "Gesprochene Sprache". In: Wöllstein, A. und P. Eisenberg (Hrsg.): Duden - die Grammatik. Berlin: Dudenverlag, 1181-1260.
  • Gryphius, Andreas (1991): Dramen. Hrsg. v. Eberhard Mannack. Frankfurt/M.: Bibliothek deutscher Klassiker.
  • Hennig, Mathilde (2006): Grammatik der gesprochenen Sprache in Theorie und Praxis. Kassel: Kassel Univ. Press.
  • Imo, Wolfgang (i.V.): Interaktionale Ellipsen: Nicht-finite Prädikationskonstruktionen (NFPK) und Aposiopesen im Dramenwerk von Andreas Gryphius.
  • Imo, Wolfgang / Lanwer, Jens Philipp (2019): Interaktionale Linguistik. Eine Einführung. Berlin: Metzler.
  • Imo, Wolfgang / Müller, Melissa (i.V.): Von „Ey Pickelhaͤring / das ist wider Ehr und Redligkeit“ zu „ey TImo; lass_ma RISCHtisch laut (.) öh schrEIen“ – „ey“ und „ei“ gestern und heute.
  • Jeßing B. (2020): "Gryphius, Andreas". In: Arnold H.L. (Hg.): Kindlers Literatur Lexikon (KLL). J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_6573-1 [zuletzt abgerufen am 23.11.21].
  • Krause, Thomas / Zeldes, Amir (2016): "ANNIS3: A new architecture for generic corpus query and visualization." in: Digital Scholarship in the Humanities 2016 (31). http://dsh.oxfordjournals.org/content/31/1/118 [zuletzt abgerufen am 23.11.2021]
  • Müller, Melissa (i.V.): „O Himmel / ich fall über den hauffen“ – „Ach warumb sterben wir Princesse nicht zusammen?“: Die Interjektionen „ach“ und „o“ im Dramenwerk von Andreas Gryphius.
  • Schwitalla, Johannes (2012): Gesprochenes Deutsch. Berlin: E. Schmidt.