Daten im Raum Visualisierungen und Physikalisierungen im Medium Ausstellung

Bentz, Isabelle; Gfrereis, Heike; Hildenbrandt, Vera; Mayr, Eva; Offenberg, Eva; Tropper, Eva; Windhager, Florian
https://zenodo.org/records/6328217
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Hintergrund

Visuelle Repräsentationen von abstrakten Daten und komplexen Themen spielen im Museums- und Ausstellungsraum seit langem eine wichtige Rolle (Vossoughian, 2003) und ihre GestalterInnen gewannen im Zuge der digitalen Transformation substantielle neue Möglichkeiten an die Hand. Ob es um komplexe gesellschaftliche, politische, historische oder geisteswissenschaftliche Themen geht (Caraban et al., 2018; Ehmel et al., 2021; Latour & Weibel 2020; Reiner & Patkowski, 2017) oder um distante Blicke auf Sammlungen und Ausstellungen selbst (Windhager et al., 2018) – Bildstatistiken, Zeitstrahlen, Karten, Graphen und andere Formate ermöglichen die Darstellung komplexer Sachverhalte, die über Objekte allein nicht erzählt werden können. Konkrete Visualisierungsformate in diesem Feld reichen vom punktuellen Einsatz von Informationsgrafiken über interaktive Touchscreens (Hinrichs et al., 2008) und mobile Applikationen (Rogers et al., 2014) bis hin zu raumgreifenden Datenphysikalisierungen (Alexander et al., 2019; Dragicevic et al., 2021) und Ausstellungen, die sich gelegentlich von Originalobjekten ganz verabschieden, um Inhalte nur mehr über Informationsdesign zu erzählen.1   

Die durch COVID-19 erzwungenen Schließungen physischer Ausstellungsräume beschleunigten zwar vielerorts die Verschiebung von musealen Inhalten in digitale Schauräume (Hoffman, 2020; Markopoulus et al., 2021), machten aber auch die Unersetzbarkeit von Originalobjekten und die spezifische Räumlichkeit von Ausstellungserfahrungen für viele umso deutlicher spürbar ( Amorim, J. P., & Teixeira , 2021). Zudem können räumlich situierte Visualisierungen und Physikalisierungen in Ausstellungsräumen in direkten kontextuellen Relationen zu räumlichen Objekten des “close readings” kinetisch und körperlich erfahren werden, die über web-basierte Darbietungen weit hinausgehen (Rogers et al., 2014; Alexander et al., 2019). Aus Digitalisierungs- und Visualisierungsperspektive resultiert daraus ein Bedarf nach einer intensivierten Diskussion von Visualisierungen und Physikalisierungen in hybriden und realräumlichen Formaten. Während sich die methodologische und theoretische Reflexion von web-basierten Visualisierungen im Kontext von kulturellen Sammlungen bereits konsolidiert (Dörk & Glinka, 2018; Windhager et al., 2018), so steht die Reflexion von Visualisierungen und Physikalisierungen im Ausstellungsraum bislang noch aus.2    

Leitfragen 

Vor diesem Hintergrund will das in Kooperation mit der Museumsakademie Joanneum konzipierte Panel zu “Daten im Raum” hybride Praktiken von digital-materialen Vermittlungs- und Gedächtnistechnologien sondieren und relevante Positionen der Visualisierung und Physikalisierung im Ausstellungsraum mit Blick auf vier verknüpfte Themencluster kartieren.

  • Visualisierung & Ausstellungsdesign: Was sind etablierte Strategien und aktuelle Trends der visuellen Repräsentation im Rahmen der Ausstellungsszenografie? Wie lässt sich der Problematik der quasi-objektiven Autorisierung von Sachverhalten (Stichwort “Erzeugung von Evidenz”) begegnen? Gibt es Modelle, die hier eine Ebene kritischer Reflexion einführen? Welche Rolle spielen Visualisierungen und Physikalisierungen im Kontext barrierefreier Informationsaufbereitung? Wie können auch kleine Museen mit wenig Budget zu ansprechenden Datenvisualisierungen kommen?
  • Kuratorische Praxis: Inwiefern verändern sich kuratorische Zugänge unter dem Eindruck einer neuen Verfügbarkeit von Daten? Welche neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen DH-Forschung, Informationsdesign und kuratorischer Praxis sind möglich? Welche Relationen der Kontextuierung oder Hierarchisierung lassen sich zwischen Objekten und Visualisierungen im Ausstellungsraum denken? Welche Ergänzungs- oder Konkurrenz-Beziehungen gibt es zwischen physischen und digitalen Ausstellungsräumen?
  • Besucher*innen: Wie viel visuelle Diversität und Komplexität im Ausstellungsraum ist angesichts allgemeiner “Visual Literacy” möglich? Was sind Strategien der Validierung von Physikalisierungen und Visualisierungen im Ausstellungsraum? Wie sehr können bestehende Methoden der Evaluation für diesen Zweck übernommen werden, wo gibt es Bedarf für Weiterentwicklungen, z.B. mit Blick auf multiple “casual user”-Kategorien? 
  • Digitale Geisteswissenschaften: Welche Themen der digitalen Geisteswissenschaften eignen sich für visuelle und physische Remediatisierung? Welche neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen DH-Forschung, Informationsdesign und kuratorischer Praxis sind möglich? Wie können relevante Communities of Practice über DH-nahe Infrastrukturen besser vernetzt und der Diskurs zu “Daten im Raum” weiter entfaltet und fortgesetzt werden?

Impulsvorträge

Daten im Raum – physische und virtuelle Wissensorte für Austausch, Diskussion & Handlung

Isabelle Bentz (Data Design & Art BA, Hochschule Luzern)

Heute entscheiden wir über unsere Zukunft und die Art und Weise, wie wir als Individuum, als Gesellschaft und als Teil unserer Umwelt zusammen weiterleben werden. Daten sind dabei eine wichtige Grundlage von Wissen. Ihren Wert entfalten sie aber erst dann, wenn sie sorgfältig interpretiert, verständlich visualisiert, transparent vermittelt und kritisch diskutiert werden. Doch wie kann komplexe Information so dargestellt werden, dass sie nicht nur gelesen, sondern auch mit allen Sinnen erlebt, verstanden und erinnert werden kann? Wie können informierte Orte konzipiert werden, die durch Interaktion und Entdeckung die Wissensvermittlung so anregen, dass sie Menschen zum Anhalten, zum Austausch und zur Diskussion antreiben? Der Impulsvortrag gibt Einblicke in die Entwicklung, Vermittlung und Rezeption von Dateninszenierungen im physischen und digitalen Raum anhand von Beispielen aus der eigenen Praxis und Arbeiten von Studierenden.

Wie Literatur durch Daten im Raum sichtbar werden kann

Heike Gfrereis / Vera Hildenbrandt (DLA Marbach)

Beim Nachdenken über Literaturausstellungen scheint ein Satz unausweichlich: Literatur könne man nicht ausstellen, da sie – anders etwa als Werke der bildenden Kunst – nicht fürs Zeigen gemacht sei. Literarische Texte entzögen sich durch ihren Umfang, ihre Gebundenheit an das Medium Buch und ihre sprachliche Disposition, die der Erfindung und Imagination zum Beispiel einer Geschichte diene, dem Ausstellen. Ihr Ziel sei eine bestimmte literarische Erfahrung: das identifikatorische Lesen von der ersten bis zur letzten Seite, der ‚Flow‘. Diese Begründung geht vom Roman als literarische Leitgattung aus, ignoriert aber viele andere Erscheinungsformen von Literatur, ebenso wie andere Erfahrungsmöglichkeiten von Literatur. In unserem Beitrag möchten wir am Beispiel von zwei Ausstellungen („Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ im Literaturmuseum der Moderne 2020/21 sowie der neuen, für Anfang 2023 geplanten Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum) skizzieren, welche Möglichkeiten Close und Distant Reading, empirische Leserforschung und das Visualisieren von Daten im Raum dem Ausstellen von Literatur eröffnen.

Daten im physischen Raum – Vermittlungsformen

Eva Offenberg (ART+COM)

Der Kontext Raum (z. B. in Form einer Ausstellung) bietet Darstellungsmöglichkeiten für Daten, die über die Möglichkeiten von klassischen Print- oder Digitalmedien weit hinausreichen. So können bei der Vermittlung zusätzliche physische Größendimensionen, Licht, haptische Interaktionen oder auch alle Formen von großformatigen digitalen Medienflächen zum Einsatz kommen. Mit diesen Mitteln können zum einen Inhalte und Zusammenhänge auf unerwartete Weise betrachtet und neuartig vermittelt werden. Zum anderen können emotionale und ikonische Momente für den Betrachter*innen geschaffen werden, die einen hohen Erinnerungswert an die Daten und Inhalte haben. Aus der Erfahrung von 15 Jahren Ausstellungs- und Exponatentwicklung in verschiedensten Themenfeldern werden Beispiele solcher Darstellungsmöglichkeiten aufgezeigt, und deren Möglichkeiten, Potentiale aber auch Limitierungen bzw. Grenzen betrachtet. Die Ergebnisse erfordern oft einen engen Dialog zwischen Kurator*innen, Gestalter*innen und Programmierer*innen, um sowohl die Aussagen und Lesbarkeit der Daten, aber auch Machbarkeit, bezogen auf Faktoren wie Haltbarkeit oder Realisierungsbudgets, zu einem überzeugenden Gesamtergebnis zu vereinen.

Zur Visualisierung und Physikalisierung kultureller Objekt- & Biographiedaten

Eva Mayr (Universität für Weiterbildung, Krems) 

Das H2020-Projekt “In/Tangible European Heritage - Visual Analysis, Curation & Communication” ( https://intavia.eu ) bringt erstmalig die Datenbestände von europäischen Objekt- und Biographiedatenbanken zusammen, um neue Verknüpfungen und Kontextualisierungen zu analysieren, zu kuratieren und visuell zu repräsentieren. Hierbei spielt auch die dreidimensionale Visualisierung von biographischen Trajektorien in geographischer und diagrammatischer Raumzeit eine zentrale Rolle. Der Impulsvortrag geht in diesem Kontext auf diverse Optionen der kontextuellen Visualisierung und Physikalisierung ein, reflektiert Möglichkeiten der Evaluation (inkl. Stärken und Schwächen für diverse Zielgruppen), und verortet die entsprechenden Überlegungen im größeren Feld der Forschung zur Visualisierung kultureller Sammlungen ( http://collectionVis.org ).

Teilnehmende 

Isabelle Bentz ist Leiterin des Bachelorstudiengangs Data Design & Art an der Hochschule Luzern. Nach ihrem Architekturdiplom an der ETH Zürich entwickelte sie als Architektin mehrfach ausgezeichnete, interaktive Dateninstallationen und interaktive Rechercheplattformen, die Mensch und Information im Raum zusammenbringen. 

Heike Gfrereis studierte Germanistik und Kunstgeschichte in Stuttgart, Marburg und Tübingen und promovierte mit einer Arbeit über Heinrich von Kleist und literarische Systemimmanenz. Seit 2001 ist sie Leiterin der Museumsabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Sie  hält eine Honorarprofessor an der Universität Stuttgart und arbeitete als freie Kuratorin in München, Stuttgart und Berlin. 

Vera Hildenbrandt studierte Germanistik und Französischen Philologie und promovierte zum Thema Europa in Alfred Döblins Amazonas-Trilogie. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Trier Center for Digital Humanities und war dessen Geschäftsführerin. Seit einer DH-Vertretungsprofessur an der Universität Trier ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach tätig.

Eva Offenberg ist Gestalterin mit Schwerpunkt Medien und Kommunikationsdesign. Nach einem Studium an der HfG Schwäbisch Gmünd, und Gastsemestern an der UdK Berlin und der ESDI in Rio de Janeiro, entwickelt sie seit 2008 bei ART+COM mehrfach ausgezeichnete mediale Exponate und Ausstellungen an der Schnittstelle von visueller Gestaltung, Technologie und Architektur. 

Eva Mayr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Universität für Weiterbildung, Krems. Nach einem Psychologiestudium beschäftigte sich Ihre Dissertation mit der Rolle neuer Medien für informelles Lernen im Museum. Ihre aktuelle Forschung fokussiert auf Visualisierung kultureller Sammlungen, kognitive Prozesse und informelles Lernen.

Eva Tropper (Moderation) ist Teil des Leitungsteams der Museumsakademie Joanneum. Sie hat Geschichte und Medienkultur studiert und war in verschiedenen Projekten mit Schwerpunkt Visuelle Kultur an der Schnittstelle von Forschung und Museum tätig. Sie kuratierte für das GrazMuseum, das Photoinstitut Bonartes und das Pavelhaus und lehrte an den Universitäten Graz, Krems und Klagenfurt. 

Florian Windhager (Moderation) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität für Weiterbildung Krems und lehrt an den Universitäten Passau und Wien. Nach einem Studium der Philosophie promovierte er zum Thema der synoptischen Visualisierung von Objekt- und Biographiedaten. Forschungsschwerpunkte im Feld von Visualisierung, digitale Geisteswissenschaften und Sammlungen des kulturellen Erbes.


Fußnoten

1 Siehe z.B. die Ausstellung “Fontane 200” (Neuruppin, 2019) oder "Level Green" (Autostadt Wolfsburg, 2009).
2 Einen Anstoß der Debatte stellte der Workshop “Daten im Raum. Visualisierungen als Formen des Argumentierens in Ausstellungen” der Museumsakademie Joanneum (2019, online) dar.

Bibliographie

  • Abel, G. J., & Sander, N. (2014). "Quantifying global international migration flows", in: Science , 343 (6178), 1520-1522.
  • Alexander, J., Isenberg, P., Jansen, Y., Rogowitz, B., & Moere, A. V. (2019). "Data Physicalization", in: Dagstuhl Reports, 8 (10), 127-147.
  • Amorim, J. P., & Teixeira, L. M. L. (2021). "Art in the Digital during and after Covid: Aura and Apparatus of Online Exhibitions", in: Rupkatha Journal on Interdisciplinary Studies in Humanities, 12 (5), 1-8.
  • Caraban, A., Paulino, T., Pereira, R., Spence, R., & Campos, P. (2018, July). "The monarch room: an interactive system for visualization of global migration data", in: Proceedings of the 32nd International BCS Human Computer Interaction Conference 32 (pp. 1-5).
  • Dörk, M., & Glinka, K. (2018). "Der Sammlung gerecht werden: Kritisch-generative Methoden zur Konzeption experimenteller Visualisierungen", in: Book of Abstracts, DHd 2018, Köln.
  • Dragicevic, P., Jansen, Y., & Moere, A. V. (2021). Data Physicalization. Jean Vanderdonckt (Ed.). Springer Handbook of Human Computer Interaction, New York: Springer.
  • Ehmel, F., Brüggemann, V., & Dörk, M. (2021). "Topography of Violence: Considerations for Ethical and Collaborative Visualization Design", in: Computer Graphics Forum (Vol. 40, No. 3, pp. 13-24).
  • Hoffman, S. K. (2020). "Online Exhibitions during the COVID-19 Pandemic", in: Museum Worlds, 8 (1), 210-215.
  • Latour, B., & Weibel, P. (Eds.) (2020). Critical zones: observatories for earthly politics. MIT Press.
  • Markopoulos, E., Ye, C., Markopoulos, P., & Luimula, M. (2021). "Digital Museum Transformation Strategy Against the Covid-19 Pandemic Crisis", in: International Conference on Applied Human Factors and Ergonomics (pp. 225-234). Springer, Cham.
  • Reiner, N. E., & Patkowski, J.. Inventing Abstraction, Reinventing Our Selves: The Museum of Modern Art’s Artist Network Diagram and the Culture of Capitalism.
  • Rogers, K., Hinrichs, U., & Quigley, A. (2014). It doesn't compare to being there: In-situ vs. remote exploration of museum collections.
  • Vossoughian, N. (2003). "The Language of the World Museum: Otto Neurath, Paul Otlet, Le Corbusier", in: Transnational Associations, 1 (2), 82-93.
  • Windhager, F., Federico, P., Schreder, G., Glinka, K., Dörk, M., Miksch, S., & Mayr, E. (2018). "Visualization of cultural heritage collection data: State of the art and future challenges", in: IEEE transactions on visualization and computer graphics, 25 (6), 2311-2330.