Digitale Archive für Literatur
https://zenodo.org/records/6327943
Thematischer Rahmen
Die Reflexion der institutionellen Transformation von Literaturarchiven angesichts der Digitalisierung überschreitet die Einzelinstitutionen notwendig, gerade dort, wo es gemeinsame Praktiken, Routinen, Standards und Infrastrukturen zu entwickeln gilt. Das Panel greift diesen Bedarf durch seinen internationalen und interinstitutionellen Ansatz auf.
Literaturarchive stehen durch die Digitalisierung vor einer Vielzahl an Herausforderungen: Begriff, Praxis und Materialität des Literaturarchivs befinden sich in einem Transformationsprozess, den die Institution ‘Literaturarchiv’ in dieser Grundsätzlichkeit seit ihrer konzeptionellen Erfindung im 19. Jahrhundert (Goethe 1823, Dilthey 1970 [1889], Thaller 2011) nicht durchlaufen hat. Die Anforderungen nach Partizipation (Theimer 2018), die Digitalisierung der Bestände und die Umsetzung von Open Access- und Data-Strategien (Szekely 2017), die Adressierung der Fragen, die born-digitals mit sich bringen, gehen in vielen Fällen einher mit einem Umbau von Routinen und Handlungsprogrammen wie mit einer Befragung und Neuerfindung der eigenen Identität als Institutionen (Cook 2013).
Archivmitarbeiterinnen und -mitarbeiter werden mit immer größeren informatischen Herausforderungen und Aufgabenspektren betraut, immer öfter übernehmen Informatikerinnen und Informatiker entscheidende Rollen beim Sammlungszugang und bei der Überlieferungspräsentation. Digital- und Datenkompetenzen werden zum unverzichtbaren Handwerkszeug für moderne Literaturarchive, die sich zu Datendienstleistern wandeln – ein Prozess, mit dem sich Bibliotheken bereits seit längerer Zeit beschäftigen (exemplarisch Stäcker 2019).
Es gilt folglich, über die Aufgaben und Herausforderungen, die die fortschreitende Digitalisierung des kulturellen Gedächtnisses speziell für Literaturarchive mit sich bringt, nachzudenken und Lösungsansätze zu entwickeln, wie ihnen zukünftig begegnet werden kann. Mit dem Panel soll ein in der Community der Literaturarchive – etwa im Netzwerk “KOOP-LITERA”, in der Schriftenreihe Literatur und Archiv (Dallinger / Kastberger 2017ff.) oder auf der Konferenz #LiteraturarchivederZukunft des Deutschen Literaturarchiv Marbach – seit einiger Zeit sich intensivierender Austausch entschieden in den Raum der Digital Humanities getragen werden.
Das Panel forciert diesen Austausch durch einen strukturiert-systematischen Impuls, bei dem wir die digitale Transformation in Literaturarchiven auf drei Ebenen adressieren:
Archivbegriff
Das Digitale, das allerorten vermeintliche ‘Archive’ hervorbringt, erweitert und stellt den gewachsenen Begriff des Archivs in Frage. Eine neue Phase der begrifflichen Reflexion setzt ein, in der auch Literaturarchive ihre Selbstbeschreibung überdenken.
Archivpraktiken
Digitale Werkzeuge und Infrastrukturen durchdringen die Praktiken heutiger ArchivarInnen, die beim Sammeln, Bewahren, Erschließen, Vermitteln immer häufiger zugleich Daten- und CodeexpertInnen sein müssen. Im Kontext der Digitalisierung ist ein neues Verständnis von Praktiken und Handlungsprogrammen der Tätigkeiten in Literaturarchiven zu entwickeln.
Archivobjekte
Das Spektrum der Objekte, die von Literaturarchiven ‘prozessiert’ werden, wandelt und weitet sich. Literaturarchive befinden sich in einer Situation, in der sie die Materialität und Objekthaftigkeit ihrer Bestände und Sammlungen neu begreifen müssen.
Das Panel versammelt VertreterInnen von bedeutenden Literaturarchiven aus dem DACH-Raum: Bernhard Fetz, (Literaturarchiv und Literaturmuseum der Österreichische Nationalbibliothek, Wien), Marcel Lepper (Goethe- und Schiller-Archiv Weimar), Sandra Richter (Deutsches Literaturarchiv Marbach) und Irmgard Wirtz Eybl (Schweizerisches Literaturarchiv, Bern). Die Moderation übernehmen Anna Busch und Peer Trilcke (Theodor-Fontane-Archiv, Potsdam). Mit theoretischem, konzeptionell-institutionellem und praxeologischem Blick sucht das Panel nach dem neuen Selbstverständnis der ‘Digitalen Archive für Literatur’. Um die Diskussion vorzubereiten, haben die vier VertreterInnen Positionierungen und Reflexionen zu den drei systematischen Ebenen ausformuliert.
Positionierungen und Reflexionen
Bernhard Fetz
Archivbegriff
Die digitale Kommunikation des Archivs könnte eine Bewegung auslösen, so die Utopie des Archivs, die die Objekte und deren HüterInnen zu MediatorInnen eines umfassenden Bildungsbegriffs werden lässt, eines Prozesses, der Traditionen, (nationale) kulturelle Repräsentationen und die Werke der ‘Großen’ fluide macht. Die ubiquitäre Verfügbarkeit der Archivalien geht mit Prozessen der Entkanonisierung einher. Die Hochkultur und das ‘Gipfelprinzip’ verlieren an Geltung, der Fokus verschiebt sich von einzelnen Werken zu den diversen Lebens- und Arbeitsspuren in digitalen Archiven und sozialen Netzwerken (zu Tage- und Notizbüchern, biografischen Projekten, zu Recherche als Form und Selbstvergewisserung).
Archivpraktiken
Die ArchivarInnen als sichtende, selektierende, bewertende, bewahrende Instanzen mutieren zu den DatenkuratorInnen von morgen. Der Begriff des ‘data curators’ ist schillernd: Die digitalen KuratorInnen sind die HerrscherInnen über die Schnittstellen, sie sind aber auch SammlungsmanagerInnen, mehr oder weniger kuratorische Freigeister, abhängig vom institutionellen Selbstverständnis der Archive. Sie stellen Corpora zu bestimmten Themen in Labs oder auf Plattformen zusammen, bieten digitale Werkzeuge zu deren Nutzung an und richten die virtuellen Archivräume der Zukunft ein, in denen wir forschen, uns weiterbilden und ‘erleben’, in denen wir Teilhabe an Kultur erproben sollen.
Archivobjekte
Die Archivzeugen in den Depots, wiedergeboren als digitale Objekte, multiplizieren deren kulturelle und soziale Erscheinungsformen – als visualisierte, transkribierte und kommentierte Handschriften im Rahmen eines digitalen Editionsprojektes, als Ausgangspunkt von Geschichten im analogen und virtuellen Museum, als Beweisstück aus dem Webportal in der öffentlichen Debatte, als Flaschenpost in den sozialen Medien, als im Kontext eines Nachlasses zu erschließendes Objekt in der Praxis des Archivs. Die digitalen Sammelobjekte der Zukunft – seien es E-Mails, Social Media-Beiträge, Netzliteratur oder Serien – transformieren den traditionellen Literaturbegriff.
Marcel Lepper
Archivbegriff
Die digitale Transformation, die gegenwärtig in den Wissenschafts- und Kultureinrichtungen zu gestalten ist, bringt ihre eigenen öffentlichen Irrtümer und ihre eigenen falschen Begriffe mit (Francis Bacon, Novum Organum). Zugleich verändert die Vorstellung vom ‘Netz’, das angeblich ‘nicht vergisst’, die Wahrnehmung der Rolle und Notwendigkeit öffentlich finanzierter Archive. Der Archivbegriff verschiebt sich: von der Herrschaftsinstitution zur Beglaubigungsinstitution. Dieser Begriffswandel muss gedacht und gelebt werden.
Archivpraktiken
In der öffentlichen Wahrnehmung kämpft hochgradig ausdifferenzierte Forschung – und nicht allein historische und philologische – aktuell gegen Erfahrbarkeitsdefizite. Archive haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, den abstrakten sprachlichen Gegenstand erfahrbar und vorstellbar zu machen. Nicht die Wahl zwischen der Welt des Papiers und der Welt der Daten, sondern die erfindungsreiche Gestaltung von Anschaulichkeit und Erfahrung im digitalen Modus ist die Herausforderung, vor der Archive für Literatur gegenwärtig stehen.
Archivobjekte
Flachware war lange die Krux der Literaturausstellungen. Wie arbeiten Archive im Zeitalter von 3D und 4D? Visualisierungspraktiken, die ein Manuskript nicht mehr als Pixelfläche, sondern als Datenkubus präsentieren, und digital erzeugte Objekte nicht mehr in genetisch-qualitativer, sondern in struktural-quantitativer Form, verändern das Grundverständnis vom Gegenstand der lesenden und schreibenden Fächer.
Sandra Richter
Archivbegriff
Archive waren jahrhundertelang als räumliche Ordnungen gedacht: als Gebäude mit Gängen, Regalen, Schränken, in denen Schätze liegen, die jemand besitzt und die es aufgrund schwieriger konservatorischer Bedingungen am Ort zu untersuchen gilt. Zu den Versprechen des Digitalen gehört die virtuelle Verfügbarkeit, Durchsuchbarkeit und Erweiterbarkeit digitaler Daten, das Archiv als Literaturdatenzentrum. Damit löst sich, pointiert formuliert, der Begriff vom Archiv auf: Literaturdatenzentren kennen nurmehr virtuelle Räume, in denen existierende und künftige Daten überall zugänglich sind, sich teilen, verknüpfen und neu ordnen lassen.
Archivpraktiken
Aus den Praktiken der Datenspender und -nutzer entstehen Korpora und andere Forschungsdaten, die sich durch ihre Qualität und Anschlussfähigkeit zur Nachnutzung empfehlen. Die Vision von einem solchen Literaturdatenzentrum erscheint jedoch in mindestens zweierlei Hinsicht als unrealistisch: Zum einen lässt sich die Datenqualität und -vergleichbarkeit auf Dauer nicht nur durch temporär diese Daten Spendende und Nutzende sicherstellen, und die Daten lassen sich auch nicht einfach erhalten, ergänzen, pflegen.
Archivobjekte
Zum anderen sind die physischen Objekte, die derzeit in Archiven liegen oder dort künftig eingehen, erst in digitale Daten zu übertragen; außerdem werden Sammlungen von Forschungsdaten in einigen Jahren selbst Archivobjekte. Die Objektgruppen der Archive vervielfältigen sich durch das Digitale ein weiteres Mal, und ihre Entwicklung zu Literaturdatenzentren ist möglicherweise bloß ein weiteres historisches Stadium einer erstaunlich stabilen epistemologischen Ordnung.
Irmgard Wirtz
Archivbegriff
Literaturarchive sind mehr als Sammlungen ihrer Vor- und Nachlässe. Sie entwickeln und verwalten Wissen um die Erhaltung und die mise en valeur der Sammlungen. Und sie wandeln sich mit ihren Sammlungen wie mit deren Nutzung im wissenschaftlichen oder öffentlichen Interesse. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich Sammlungen der Literaturarchive ausdifferenziert und ausgeweitet: Neben physischen Objekten empfangen sie zunehmend auch digitale Datenträger mit Texten, Bildern und Tönen. Die Literaturarchive gestalten die Transformationsprozesse zwischen analoger und digitaler Überlieferung und gewährleisten die Lesbarkeit.
Archivpraktiken
Derzeit befinden wir uns in einer langwierigen technischen Transformationsphase, einer longue durée (Fernand Braudel), die unterschätzt ist, wenn sie als einfaches Entweder/Oder besprochen wird. Bereits seit drei Jahrzehnten und bis auf weiteres erhalten die Literaturarchive Nachlässe mit polymorphen Medien: Die AutorInnen arbeiten gleichzeitig mit Bleistift, Kugelschreiber, Schreibmaschine und PC. Die Literaturarchive stehen folglich vor der Bewältigung der Simultaneität der Schreibprozesse und deren Multimedialität. Die Herausforderung besteht darin, die individuell konfigurierten Datenträger (hard & soft) zu erhalten, zu erschließen und lesbar zu machen. Dabei praktizieren Literaturarchive weiterhin institutionell die Hoheit über die Auswahl, die Kassation und die Nutzerspuren in ihren Sammlungen.
Archivobjekte
Materielle Dokumente oder digitale Daten – das ist eine falsche Distinktion, auch digitale Daten haben materielle Träger. Daten lassen sich ablösen, unterscheiden sie sich darin vom Original? Wir stehen in einer Verunsicherung in Bezug auf das Original (nicht das Kunstwerk) und seine Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin). Dabei ist das Sammeln digitaler Dokumente nicht zu verwechseln mit der Digitalisierung von Dokumenten: Diese setzt minimal beim Scan ein und geht maximal bis zur genetischen Edition. Eine andere Aufgabe der Literaturarchive ist das Sammeln und Aufbereiten digitaler Daten (digital born). Eine Herausforderung ist es, die technischen Zugänge und die Lesbarkeit der digitalen Datenträger aus den Anfängen des PC, der Mails und der fotografisch-/filmischen Selbstdokumentation zu gewährleisten. Wichtiger wird die Entwicklung der Standards & Normen, die Pflege und Sicherung der Metadaten und ihre intelligente Vernetzung. Erhalten (im doppelten Wortsinn) die Archive und verwalten sie künftig technisch und rechtliche aufbereitete Daten und dokumentieren deren Nutzung?
Bibliographie
- Assmann, Aleida (1999): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck.
- Cook, Terry (2013): “Evidence, memory, identity, and community: four shifting archival paradigms”, in: Arch Sci (2013) 13: 95–120 https://doi.org/10.1007/s10502-012-9180-7 [letzter Zugriff 15. Juli 2021].
- Dallinger, Petra-Maria / Kastberger, Klaus (2017ff.): Literatur und Archiv. Berlin, Boston: De Gruyter.
- Dilthey, Wilhelm (1970 [1889]): “Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie”, in: Archiv für Geschichte der Philosophie II,3: 343–367.
- Goethe, Johann Wolfgang von (1999): “Archiv des Dichters und Schriftstellers”, in: Goethes Werke Band X. Autobiographische Schriften. Textkritisch durchgesehen von Liselotte Blumenthal und Waltraud Loos. München: C.H. Beck.
- Lepper, Marcel / Raulff, Ulrich (2016): “Idee des Archivs”, in: Lepper, Marcel / Raulff, Ulrich (eds.): Handbuch Archiv. Stuttgart: J.B. Metzler: 1–9 https://doi.org/10.1007/978-3-476-05388-6_1 [letzter Zugriff 15. Juli 2021].
- Schöggl-Ernst, Elisabeth / Stockinger Thomas / Wührer Jakob (2019): Die Zukunft der Vergangenheit in der Gegenwart. Archive als Leuchtfeuer im Informationszeitalter. Wien: Böhlau.
- Stäcker, Thomas (2019): “Die Sammlung ist tot, es lebe die Sammlung! Die digitale Sammlung als Paradigma moderner Bibliotheksarbeit”, in: BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis 43(2): 304–310 https://doi.org/10.1515/bfp-2019-2066 [letzter Zugriff 15. Juli 2021].
- Szekely, Ivan (2017): “Do Archives Have a Future in the Digital Age?” in: Journal of Contemporary Archival Studies, Vol. 4 , Article 1: 1–16 http://elischolar.library.yale.edu/jcas/vol4/iss2/1 [letzter Zugriff 15. Juli 2021].
- Thaler, Jürgen (2011): “Zur Geschichte des Literaturarchivs. Wilhelm Diltheys Archive für Literatur im Kontext”, in: Schiller-Jahrbuch 55: 361–374.
- Theimer, Kate (2012): "Archives in Context and as Context", in: Journal of Digital Humanities Vol. 1, No. 2 http://journalofdigitalhumanities.org/1-2/archives-in-context-and-as-context-by-kate-theimer/ [letzter Zugriff 15. Juli 2021].
- Theimer, Kate (2018): “Partizipation als Zukunft der Archive”, in: ARCHIVAR, 71. Jahrgang, Heft 01: 6–12 https://archive20.hypotheses.org/files/2018/03/Aufsatz-Theimer.pdf [letzter Zugriff 15. Juli 2021].