Transformation der Geschichtsschreibung? Der Einsatz von digitalen Medien und Forschungsmethoden in der historischen Praxis und dessen Folgen

Siebold, Anna
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Forschungsthema: Das Dissertationsprojekt beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit datengetriebene Forschungsansätze den historischen Arbeitsprozess transformieren und sich auf die Produktion von historischem Wissen auswirken.

Hintergrund: Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die Verfügbarkeit digitaler Objekte und datengetriebener Forschungsansätze zunehmend die historisch arbeitenden Geisteswissenschaften prägen. Dies zeigt sich unter anderem in der Herausbildung von Disziplinen wie etwa der Digital Humanities (DH), der Digital bzw. Computational History und der Digital Art History, welche sich in Form von Lehrstühlen, Studiengängen, Journals, einer Vielzahl an Einführungsliteratur sowie Verbänden und Arbeitsgruppen professionalisiert und institutionalisiert haben. Ob und inwieweit die dort verfolgten digitalen Ansätze den historischen Forschungsprozess verändern, war lange umstritten (Alves 2014, 3). In der DH-Gemeinschaft lässt sich jedoch jüngst ein wachsendes Interesse an den epistemologischen Implikationen der datengetriebenen Forschungsansätze beobachten. Dass sich der historische Arbeitsprozess durch sie transformiert, scheint demnach zunehmend vorausgesetzt zu werden. Diskussionen um eine digitale Quellenkritik, die Forderung eines „Updates für die Hermeneutik“ und die Feststellung, die historische Forschung erfahre einen Medienwechsel, veranschaulichen dies (vgl. Fickers, Andreas 2020; Föhr 2017; Hiltmann et al. 2021). Umfassende detaillierte Untersuchungen, die den veränderten historischen Forschungsprozess sowie den potentiell damit einhergehenden epistemologischen Wandel zu greifen versuchen, sind bislang allerdings kaum unternommen worden.1 

Forschungsdesign: Zur Untersuchung der Forschungsfrage werden komparative Fallstudien durchgeführt. Etwas enger gefasst fragt das Dissertationsprojekt demnach, inwieweit datengetriebene historisch operierende Forschungsprojekte im Vergleich zu Forschungsprojekten, in denen etablierte analoge Ansätze der Geschichtsforschung angewandt werden, zu veränderten Forschungszugängen und -prozessen führen. Jedes Fallbeispiel besteht aus einer Gegenüberstellung von zwei historischen Forschungsprojekten, die den gleichen oder einen ähnlichen Forschungsgegenstand untersuchen und dabei unterschiedlich verfahren: einmal digitalen und einmal etablierten analogen Forschungsansätzen folgend. Anhaltspunkte für die Analyse bieten: (1) die jeweils gewählte Forschungsfrage, (2) das historische Ausgangsmaterial, (3) die angewandten Verfahren, (4) die gewonnenen historischen Erkenntnisse und (5) deren Darstellungsweisen. Das Untersuchungsmaterial des Dissertationsprojekts bilden zum einen die Materialien, die die Historiker:innen während ihrer Forschung produziert haben: etwa Vorträge, mündliche und schriftliche Präsentationen von Zwischenständen, Webseite-Präsentationen und einschlägige Veröffentlichungen. Zum anderen werden leitfadengestützte Interviews mit den Historiker:innen geführt, in denen Fragen zur Entstehung, Wahl des Forschungsdesigns und zu den Möglichkeiten und Grenzen der eingesetzten Verfahren gestellt werden.

Vorgesehen ist die Analyse von insgesamt drei Fällen. Den Ausgangspunkt bilden DH-Forschungsprojekte deutscher Institutionen. Um Repräsentativität zu gewährleisten, werden Projekte ausgewählt, die Verfahren und Technologien anwenden, welche die DH-Forschung maßgeblich prägen. Der Auswahl geht deshalb eine empirische Untersuchung voraus, die ermittelt, welche von ihnen am weitesten verbreitet sind und/oder in den vergangenen Jahren an Relevanz gewonnen haben.2  Für die Auswahl des jeweiligen analogen Pendants ist die Rezeption des Forschungsprojekts entscheidend.

Forschungsziel: Ziel ist es, zu untersuchen, inwieweit datengetriebene Ansätze den Forschungsprozess verändern und sich auf die Produktion von historischem Wissen auswirken – was ermöglichen, was verhindern sie? Schaffen digitale Forschungsansätze spezifische historische Perspektiven? Lassen sich allgemeine Tendenzen aufzeigen? Behauptungen, die in verschiedenen Kontexten bereits aufgestellt wurden, sind etwa, DH-Forschung geschehe „bottom-up“ (Braake et al. 2016), ermögliche ein „Distant Reading“ der Quellen (Moretti 2013), erlaube es, Forschungsfragen auf lange Zeiträume und große geographische Räume zu skalieren (Alexandrakis / Walther 2021), neige zu Longue durée-Perspektiven (Guldi / Armitage 2014), verfolge explorative Ansätze (Röhle 2014, 167–68; Gibbs / Owens 2011), sei interdisziplinär und ermögliche Selbstreflexivität (Krämer 2018, 10). Das Dissertationsprojekt möchte eine Überprüfung und Erweiterung dieser Folgen für die historisch arbeitenden Geisteswissenschaften leisten, sie in Relation zu konkreten Verfahren und Technologien setzen und kritisch reflektieren.

Stand der Arbeit (Beginn des zweiten Dissertationsjahres): Zunächst erfolgte die Beschäftigung mit der DH-Landschaft, ihren einschlägigen Verfahren und Technologien sowie deren Klassifizierung. Die Erhebung der am weitesten verbreiteten Verfahren und Technologien ist nahezu abgeschlossen. Sie bildet die Grundlage für die Auswahl der DH-Forschungsprojekte, die zeitnah stattfindet.


Fußnoten

1 Vgl. u.a. (Braake et al 2016, 25) sowie (Hiltmann et al. 2021, 122). Hiltmann et al. legen eine Untersuchung vor, die die epistemologischen Folgen eines datengetriebenen Ansatzes auf Basis eines Vergleichs mit einem analogen Verfahren herausarbeitet. Dabei handelt es sich sowohl im Analogen als auch im Digitalen um die Suche nach wiederverwendetem Text („syntactic text re-use“ und „semantic text re-use“) in zwei Textkorpora.
2 Hierzu werden verschiedene Datensätze herangezogen: (1) von der DFG geförderte geisteswissenschaftliche Projekte, die datengetriebene Ansätze verfolgen, (2) E-Mails der Mailingliste der DHd, (3) die Books of Abstracts der DHd-Konferenzen.

Bibliographie

  • Alexandrakis, Katja / Walther, Daniel (2021): „Gastbeitrag: ‚Digital Humanities. Geistes- und Kulturwissenschaften im Fokus der Digitalisierung.‘ Digitale Geisteswissenschaften in der Forschungs-, Arbeits- und Medienwelt von heute und morgen – ein Interview mit Dr. Mareike König (Deutsches Historisches Institut Paris)“. https://wbg-community.de/themen/gastbeitrag-digital-humanities-geistes-kulturwissenschaften-im-fokus-digitalisierung-von-katja-alexandrakis-dr-daniel-walther-fzi-forschungszentrum-informatik.
  • Alves, Daniel (2014): „Digital Methods and Tools for Historical Research“ in: International Journal of Humanities and Arts Computing 8 (1): 1–12. https://doi.org/10.3366/ijhac.2014.0116.
  • Braake, Serge ter / Fokkens, Antske / Ockeloen, Niels / Son, Chantal van (2016): „Digital History: Towards New Methodologies“ in: Božić, Bojan / Mendel-Gleason, Gavin / Debruyne, Christophe / O’Sullivan, Declan (eds): Computational History and Data-Driven Humanities. Cham: Springer International Publishing 23–32. https://doi.org/10.1007/978-3-319-46224-0_3.
  • Fickers, Andreas (2020): „Update für die Hermeneutik. Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur digitalen Forensik?“ in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Nr. 17 (1) 157–68. https://doi.org/10.14765/ZZF.DOK-1765.
  • Föhr, Pascal (2019): Historische Quellenkritik im Digitalen Zeitalter. Glückstadt: Werner Hülsbusch.
  • Gibbs, Frederick W. / Trevor J. Owens (2013). „Hermeneutics of Data and Historical Writing“ in: Dougherty, Jack / Nawrotzki, Kristen (eds): Writing History in the Digital Age. University of Michigan Press. https://doi.org/10.3998/dh.12230987.0001.001.
  • Guldi, Jo / Armitage, David (2014). The History Manifesto. Cambridge University Press .
  • Hiltmann, Torsten / Keupp, Jan / Althage, Melanie / Schneider, Philipp (2021). „Digital Methods in Practice“ in: Geschichte und Gesellschaft 47 (1): 122–56.
  • Krämer, Sybille (2018). „Der ‚Stachel des Digitalen‘ – ein Anreiz zur Selbstreflexion in den Geisteswissenschaften? Ein philosophischer Kommentar zu den Digital Humanities in neun Thesen“ in: Digital Classics Online 4 (1): 5–11. https://doi.org/10.11588/dco.2017.0.48490.
  • Moretti, Franco (2013). Distant Reading. London: Verso, 2013.
  • Röhle, Theo (2014). „Big Data – Big Humanities?: Eine historische Perspektive“ in: Ramón Reichert (ed.): Digitale Gesellschaft, Bielefeld: transcript 157–72. https://doi.org/10.14361/transcript.9783839425923.157.