Diagramme edieren – zur kritischen Repräsentation visueller Narrative
Einleitung und Problemstellung
Zu allen Zeiten haben sich Menschen ein Bild von der Welt gemacht und festgehalten, wie sie diese verstanden und interpretiert haben. Seit ihren skizzenhaften Anfängen ist bis heute eine Vielzahl von schematischen Bildern entstanden. “Praktiken visueller Welterzeugung” (Reudenbach 2011, Vorbemerkung) in Form von Zeichnungen lassen sich bereits in der Antike beobachten und haben sich bis heute als Mittel zur Konstruktion von Ordnungsvorstellungen bewährt. Anschaulichkeit als grundlegende Kategorie für das Verständnis von der Welt manifestiert sich auch im Diagramm. Das wissenschaftliche Interesse an der Diagrammatologie ist in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen. In den digitalen geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern wurde die Darstellung abstrakter Daten und Zusammenhänge in graphisch-visuell erfassbarer Form immer stärker zu einer wichtigen Quelle bei der Generierung von Wissen (Lancaster, Schaal 2016, 5). Es wirkt der sogenannte „visual turn“, der sich abwendet von einer rein sprachlichen Wissensvermittlung und den Fokus stattdessen auf bildhafte Narrative legt: Die textuelle Ebene wird ergänzt durch die visuelle Dimension. Bisher ist die Editionswissenschaft eher unreflektiert mit der Frage umgegangen, wie man Diagramme als bildhafte Darstellungen kritisch wiedergeben kann, da es bis dato keine editorische Theorie der Diagramme gibt. Die Editorik versteht sich ursprünglich als Philologie mit dem Interesse an Sprache und Text, weniger mit deren Veräußerung in Bildern.
Quellen
Das Thema der Promotion ist grundsätzlich transdisziplinär angelegt. Zwar handelt es sich bei den Fallstudien um früh- bzw. hochmittelalterliche Texte, allerdings spielen die philologische und die historische Dimension nur eine Nebenrolle. Stärker wird der Blick auf kulturwissenschaftliche und medientheoretische oder gar kunsthistorische Fragen zu richten sein. Letztlich geht es um editorische Fragen, die verschiedene Disziplinen betreffen. Zwei Quellen sollen für eine Analyse unter editionswissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht werden. Die in zahlreichen Handschriften durch das Mittelalter überlieferte Kosmologie De natura rerum des Isidor von Sevilla (560-636) und das bekannteste Werk des Petrus von Poitier (1125/1130-1205) Compendium historiae in genealogia christi. Sie markieren einerseits in dem die Antike tradierenden Frühmittelalter und andererseits in dem hier für Innovation stehenden Hochmittelalter das Entstehen der Diagrammatik im engeren, heutigen Sinne.
Isidor von Sevilla behandelt naturkundliche Themen. Er nutzt seine Diagramme als Erklärung von mathematisch-physikalischen Konzepten, die inhaltlich logisch und schlüssig, jedoch zu komplex sind, als dass man sie textuell in Form eines Narrativs beschreiben könnte. Die diagrammatischen Darstellungen sollen diese Prozesse bildhaft darstellen und so ihr Verständnis legitimieren. Das „Compendium“ von Petrus von Poitiers ist wegen seiner Rezeption für die in den folgenden Jahrhunderten entstandenen graphischen Visualisierungen von Geschichte von großer Bedeutung. Er nutzt mehrere Diagrammformen, um die biblische Erzählung mit Erläuterungen zu versehen, bzw. durch bildhafte Darstellungen verständlicher zu machen. Seine Diagramme machen etwas, das verbal beschrieben wird als visuelle Struktur sichtbar und zeigen damit, dass die textliche Beschreibung und das damit gemeinte jeweils unterschiedlich interpretiert werden kann. Er wählt das Diagramm als eine Form der Wissensvermittlung, die über Sprache hinausgeht.
Forschungsfragen und Methode
Mit Blick auf die einleitend formulierte Problemstellung können zwei zentrale Forschungsfragen aufgezeigt werden:
Re-medialisierung und Re-Codierung von Diagrammen: Gegenstand des praktischen Teils ist die Entwicklung von Formen einer kritischen Wiedergabe diagrammatischer Darstellungen. Das Konzept der Repräsentation als Skala geht mit der Frage einher, wie man ein Diagramm für heute „sprechend“ und verständlich machen kann. Beginnend bei einem quellennahen Abbild über eine fortschreitende Abstraktion, Normierung und Idealisierung zu immer mehr "Nutzer*innennähe."
Mit SVG als Verfahren der digitalen Editorik ist die Methode zu benennen, die im Praxisteil der Promotion Anwendung finden soll. Für die digitale Bildrepräsentation soll unter Hinzunahme von SVG als XML-basierter Technologie die unter 2. formulierte Frage diskutiert werden, inwieweit eine editorisch naheliegende oder eine auf Ästhetik abzielende Mimetik durch eine systematisierende Wiedergabe ergänzt werden kann. Die Realisierung unterschiedlicher Abstraktionsstufen gibt einerseits Aufschluss über Entstehungskontexte des Diagramms, über Schreiberspezifika oder offenbart stemmatologische Nachbarschaften und Abfolgen. Sie ermöglicht andererseits die Produktion abstrahierender und idealisierender Abbilder und konfrontiert die Quelle mit einer gegenwartsbezogenen Perspektive: Was wäre eine zeitgemäße Form der Wiedergabe?
Bezug zu Themen aus den Digital Humanities
Das Thema dieser Arbeit bietet Anknüpfungspunkte zu weiteren, durchaus diskussionswürdigen Themen in den DH: Wie können Kulturartefakte codiert werden? Wie werden sie re-medialisiert? Wie können wir Relationen mentaler Denkstrukturen und medialen Ausdrucksformen systematischer aufdecken? Wie beeinflussen Technologien und Medien, die uns zur Verfügung stehen, wie wir unsere Welt sehen und mit ihr umgehen?
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