Listen in historischen Zeitungen: Herausforderungen und Potenziale der digitalen Analyse einer vernachlässigten Textsorte
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Listen begegnen uns im Alltagsleben in vielfältiger Form und ihre Erstellung und Nutzung kann als fundamentale Kulturtechnik erachtet werden (Adelmann 2021, 26). Gleichzeitig ist es ebendiese Fundamentalität von Listen, die sie für wissenschaftliche Untersuchungen lange Zeit irrelevant erscheinen hat lassen: „Listen werden zumeist unterschätzt, weil sie uns so einfach und selbstverständlich vorkommen“, halten Schaffrick und Werber (2017, 303) fest und fassen damit den Forschungsstand zusammen: Wenn auch einzelne Erscheinungsformen von Listen – nämlich jene in der Literatur (u.a. Mainberger 2003, Belknap 2004, Barton et al. 2022) und modernen digitalen Kontexten (u.a. Esposito 2017, Bubenhofer 2020) – zunehmend in den Fokus der Forschung rücken, ist die Textform von den meisten Disziplinen, wie der (historischen) Linguistik, trotz ihrer hohen Frequenz bislang nur in Ausnahmefällen thematisiert worden (z.B. Doležalová 2009, Waldispühl 2019).
Dieses ‚Übersehen‘ im doppelten Sinne betrifft insbesondere die Erforschung frühneuzeitlicher Presseprodukte: Obwohl sich in einer Vielzahl historischer Zeitungen (periodisch publizierte) Listen finden, wie die „Anzeige der hier angekommenen Personen“ in der Münchner Zeitung, die „Lista aller Getaufften“ im Wien[n]erischen Diarium oder das „Verzeichnis der Verstorbenen“ in der Preßburger Zeitung, wurden Texte dieser Art im Gegensatz zu Nachrichtenartikeln (z.B. Pfefferkorn, Riecke und Schuster 2017) oder Inseraten (z.B. Bendel 1998) bislang weder theoretisch systematisiert noch korpusbasiert auf ihre textuellen Eigenschaften hin untersucht – und dies obwohl sie für frühneuzeitliche Zeitungsherausgeber einen zentralen Bestandteil ihrer Produkte darstellen. So kündigt beispielsweise Johann Baptist Schönwetter die diversen Listen des Diariums bereits im Titelkopf von dessen erster Ausgabe als einen „besondern Anhang / Daß auch alle die jenige Persohnen / welche wochentlich allhier gestorben / hingegen was von Vornehmen gebohren / dann copuliret worden / ferner anhero und von dannen verreiset / darinnen befindlich“ (WD 08.08.1703, 1) an und auch Johann Michael Landerer verspricht im Avertissement zur Preßburger Zeitung, sie „wird allezeit die Verstorbenen richtig anzeigen“ (PZ 14.07.1764, 5). Dass Listen in historischen Zeitungen derart prominent Erwähnung finden, deutet auf ihren besonderen Wert für das damalige Lesepublikum hin – und damit auf ihre hohe Forschungsrelevanz. Hinzu kommt, dass gerade sogenannte ‚kleine Texte‘ sich oftmals als semiotisch hochkomplex erweisen und von „kommunikativer (formaler wie inhaltlicher) Prägnanz“ gekennzeichnet sind (Klug 2021, 219).
Mit ebendiesem Potenzial von Listen (und listenartigen1 Texten) setzt sich die Dissertation auseinander, indem sie diese innerhalb von Zeitungen zwischen 1600 und 1850 empirisch verfolgt. Praktisch umgesetzt wird dies über Methoden einer multimodalen Korpuslinguistik sowie der Digital Humanities: Indem etwa in bereits bestehenden digitalen Zeitungskorpora (z.B. ANNO, DiFMOE, DIGITARIUM, DTA, impresso, Teßmann digital) nach spezifischen sprachlichen Ausdrücken im Volltext (z.B. „List(e|a)“, „Vert?z(a|e)ichni(s|ß)“) sowie strukturellen Annotationen (z.B. TEI-Elemente <list>, <item>) gesucht werden kann, lässt sich über ein effizientes Distant Reading eine erste ‚Liste von Listen‘ erstellen, welche die Zeitungstextsorte für diverse Disziplinen überschaubar und damit nutzbar machen soll.
Überdies wird das identifizierte Material – im Sinne eines Close bzw. Scalable Readings (Mueller 2020) – mithilfe digitaler Textanalyse-Tools, wie Voyant Tools oder CATMA, sowohl zeitungsspezifisch als auch -übergreifend auf rekurrente textuelle Muster verschiedener Ebenen befragt:
Zudem sollen durch Case Studies zu ausgewählten Textzeugen insbesondere die spezifischen Herausforderungen und Potenziale der historischen Zeitungstextsorte ‚Liste‘ für die Digital Humanities herausgearbeitet werden. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellt das von der Stadt Wien geförderte Projekt „Zu Gast in Wien – digitale Ansätze zur (semi-)automatischen Auswertung der Ankunftslisten des Wien[n]erischen Diariums“ (PI: Nina C. Rastinger, 2022–2023) dar. Hierin werden für die zwischen 1703 und 1725 zweimal wöchentlich in der historischen Wiener Zeitung erschienenen Listen zur „Ankunfft derer Hoch= und niederen Stands=Personen“ zuerst über Transkribus hochqualitative Volltexte erstellt und diese dann auf sprachliche Muster hin analysiert, welche wiederum als Basis für eine (semi-)automatische Named Entity Recognition und Visualisierung der Daten auf historischen Stadtplänen Wiens dienen können:
Erste Ergebnisse dieser Fallstudie demonstrieren, dass Listen in frühneuzeitlichen Zeitungen aufgrund ihrer makrotypographischen Gestaltung (u.a. vermehrte Zwischenüberschriften, Einrückungen) zwar eine Herausforderung für automatische Layoutanalysen bilden, ihnen durch ihre starke Strukturiertheit, ihren diachron konsistenten Aufbau und ihre hohe semantische Dichte aber ein besonderes Potenzial für (semi-)automatische Informationsextraktionsprozesse innewohnt – wodurch ihre Volltextdigitalisierung und korpuslinguistische Untersuchung letztlich auch auf dieser Ebene einen hohen Erkenntnisgewinn verspricht.
Fußnoten
Bibliographie
- Adelmann, Ralf. 2021. Listen und Rankings. Über Taxonomien des Populären. Bielefeld: transcript.
- Barton, Roman Alexander, Julia Böckling, Sarah Link und Anne Rüggemeier, Hrsg. 2022. Forms of List-Making: Epistemic, Literary, and Visual Enumeration. Cham: Springer Nature.
- Belknap, Robert E. 2004. The List: The Uses and Pleasures of Cataloguing. New Haven: Yale University Press.
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