Mixed Methods in der Genozidforschung
https://zenodo.org/records/7715478
Eine Analyse von Schilderungen traumatischer Erfahrungen in ZeugInnenaussagen vor internationalen Völkermordtribunalen
Gerichtstranskripte internationaler Völkermordtribunale gelten als verlässliche Quelle, um verschiede Aspekte von Völkermord und der Rolle von Überlebenden im Prozess zu beleuchten. Bisher wird die Fülle an öffentlich zugänglichen Gerichtstranskripten als historische Quelle jedoch kaum genutzt; es liegen nur wenige Studien vor, die entsprechende Transkripte direkt einbeziehen (z. B. Mullins 2009; Perrin 2016). Zudem konzentrieren sich die vorhandenen Studien meist ausschließlich auf eine recht enge Auswahl von Gerichtsprotokollen und verwenden entweder einen qualitativen oder einen quantitativen Ansatz (Brönnimann u.a. 2013; King und Meernik 2017). Um jedoch große Mengen von Textdaten aus Gerichtstranskripten zu verarbeiten und sie systematisch zu analysieren, kann eine Kombination aus qualitativen und quantitativen (einschließlich computergestützten) Methoden zu ganzheitlicheren Ergebnissen und damit zu einer vollständigeren Erfassung des Forschungsgegenstandes führen.
Forschungsfrage
Ziel des Dissertationsprojekts ist es daher herauszufinden, wie Mixed Methods zur Analyse großer Mengen von Transkripten von Völkermord-Tribunalen beitragen können. Der Schwerpunkt liegt darauf, wie ZeugInnen als „key part of any trial“ (Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia 2019, 1) traumatische Erfahrungen vor Gericht beschreiben. Durch ihre Aussage stellen ZeugInnen nicht nur wichtiges Beweismaterial zur Verfügung, sie erzählen auch von ihrem persönlichen Schicksal und ihrer individuellen Überlebensgeschichte. Trotz der emotionalen Herausforderungen, die solche Schilderungen mit sich bringen können, berichten Aussagende jedoch auch von positiven Aspekten, wie Dankbarkeit gegenüber der juristischen Aufarbeitung oder einer positiven Bedeutung für den persönlichen Bewältigungsprozess (Henry 2009, 118; Strasser u.a. 2016, 161-165).
Um sich der Rolle von ZeugInnen internationaler Völkermordtribunale möglichst vielseitig anzunähern, wird im Rahmen der Dissertation eine Bandbreite verschiedener Methoden des Natural Language Processing (NLP) angewendet. Der Einbezug qualitativer Methoden durch einen Mixed-Methods-Ansatz stellt weiterhin sicher, dass der Kontext der ZeugInnenenaussagen berücksichtigt wird (Creswell und Plano Clark 2007).
Struktur und Inhalt
Als kumulatives Projekt gliedert sich die Dissertation in mehrere Einzelarbeiten, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von ZeugInnenaussagen befassen und verschiedene methodische Ansätze verfolgen. Zunächst wurde in einem bereits erschienenen Paper als wichtige Grundlage das Genocide Transcript Corpus (GTC) erstellt, das Textdaten der drei größten ad-hoc Völkermordtribunale (Rote-Khmer-Tribunal, Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda) umfasst (Schirmer, Kruschwitz, Donabauer 2022). Ein zweites Paper (aktuell im Reviewverfahren) gibt in einem dreistufigen Mixed-Methods-Design mit NLP-Klassifikation, Sentiment-Analysen und qualitativer Inhaltsanalyse einen Überblick über verschiedene Methoden zur Analyse traumatischer Inhalte in ZeugInnenaussagen. Auf diesen beiden Papern aufbauend befasst sich der dritte Teil der Dissertation mit dem Training eines NLP-Algorithmus, der Textabschnitte mit Berichten traumatischer Erfahrungen automatisiert erkennt. Mit Hilfe eines qualitativen Ansatzes soll zudem herausgefunden werden, wie sich diese Passagen von anderen ZeugInnenaussagen unterscheiden. Im vierten Teil der Arbeit wird Topic Modeling (Blei, Ng, Jordan 2003) angewendet, um herauszufinden, welche thematischen Muster in einzelnen ZeugInnenaussagen zu finden sind. Dabei wird kritisch auf die Interpretierbarkeit von Topic Models eingegangen und es werden Möglichkeiten aufgezeigt, wie durch auf Topic Modeling aufbauende statistische Analysen neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Die gefundenen Topics werden qualitativ überprüft. In einem abschließenden Paper werden die Ergebnisse zusammengeführt und auf verschiedene Völkermordtribunale angewandt, um Unterschiede zu berücksichtigen und durch einen breiteren Blickwinkel allgemeinere Schlussfolgerungen zu ermöglichen.
Die skizzierten Paper zeigen die Bandbreite des Anwendungsbereichs von Mixed Methods in der Völkermordforschung auf und legen den Grundstein für zukünftige Studien dieser Art. Indem traditionelle Methoden der historischen Quellenanalyse und automatisierte, computergestützte Prozesse aus dem NLP-Bereich kombiniert werden, sollen digitale Ansätze der Geschichts- und Völkermordforschung aufgezeigt und weitere Studien in diesem Bereich ermutigt werden.
Relevanz
Die Relevanz dieses Projekts wird anhand von drei Aspekten deutlich: Einerseits stellt die Dissertation mit ihrem Mixed-Methods-Ansatz auf methodischer Ebene einen komplett neuen Zugang in der Genozidforschung dar, der es ermöglicht, ZeugInnenaussagen systematisch und in ihrer Fülle zu analysieren. Dabei machen es NLP-Methoden erstmals möglich, Muster in Aussagen zu entdecken, die aufgrund der Fülle des Materials sonst nicht sichtbar geworden wären. Zweitens wird dieses Projekt dazu beitragen, Gerichtsprotokolle als verlässliche Informationsquelle in der Genozidforschung weiter zu etablieren, für das Feld der Digital History zu öffnen und damit diesen Forschungsbereich weiterzuentwickeln. Schließlich hat die Dissertation auch gesellschaftliche Relevanz, indem die Ergebnisse der durchgeführten Studien die Situation von ZeugInnen vor Gericht umfassend beleuchten und insbesondere psychologische Herausforderungen thematisieren. Die Ergebnisse werden verschiedenen NGOs zur Verfügung gestellt, wobei gemeinsam erarbeitet werden soll, wie die Erkenntnisse in die Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit mit einbezogen werden können (Kooperation mit dem Auschwitz Institute for the Prevention of Genocide and Mass Atrocities und Genocide Alert e.V.).
Die Finalisierung der Dissertation wird im Frühjahr 2024 angestrebt.
Bibliographie
- Blei, David M., Andrew Y. Ng und Michael I. Jordan. 2003. “Latent dirichlet allocation.” Journal of Machine Learning Research 3: 993-1022.
- Brönnimann, Rebecca, Jane Herlihy, Julia Müller und Ulrike Ehlert. 2013. “Do testimonies of traumatic events differ depending on the interviewer?” The European Journal of Psychology Applied to Legal Context, 5.1: 97-121.
- Creswell, John W. und Vicki L. Plano Clark. 2007. Designing and Conducting Mixed Methods Research. Thousand Oaks, CA: Sage.
- Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia. 2019. ECCC. At a Glance. Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia.
- Henry, Nicola. 2009. “Witness to Rape: The Limits and Potential of International War Crimes Trials for Victims of Wartime Sexual Violence.” International Journal of Transitional Justice, 3.1: 114-134.
- King, Kimi Lynn und James David Meernik. 2017. The Witness Experience: Testimony at the ICTY and its Impact. New York, NY: Cambridge University Press.
- Mullins, Christopher W. 2009. “‘He Would Kill Me With His Penis’: Genocidal Rape in Rwanda as a State Crime.” Critical Criminology, 17.1: 15-33.
- Perrin, Kristen. 2016. “Memory at the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY): Discussions on Remembering and Forgetting Within Victim Testimonies.” East European Politics and Societies, 30.2: 270-287.
- Schirmer, Miriam, Udo Kruschwitz und Gregor Donabauer. 2022. “A New Dataset for Topic-Based Paragraph Classification in Genocide-Related Court Transcripts.” In Proceedings of the Language Resources and Evaluation Conference (LREC), 4504-4512.
- Strasser, Judith, Julian Poluda, Chhim Sotheara und Phuong Pham. 2016. “Justice and Healing at the Khmer Rouge Tribunal: The Psychological Impact of Civil Party Participation.” In Cambodia’s hidden scars: Trauma psychology and the Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia, hg. von Beth Van Schaack, Daryn Reicherter, and Youk Chhang, 190-212. Phnom Penh: Documentation Center of Cambodia.