Open Humanities in der Filmwissenschaft – zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Howanitz, Gernot; Dang, Sarah-Mai; Diecke, Josephine; Ewerth, Ralph; Lameris, Bregt; Scherer, Thomas; Vukovic, Teodora; Baresch, Ariadne
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Motivation

Das von der AG Film & Video organisierte Panel setzt sich inspiriert vom Tagungsmotto „Open Humanities, Open Culture“ mit Fragen der Offenheit in der Filmwissenschaft auseinander. In den letzten Jahren wurden verschiedene Aspekte der Open Humanities im Kontext der Filmwissenschaft umrissen, und zwar in Einzelbetrachtungen, die zunächst den Umweg der Medienwissenschaften nehmen (Sondervan 2018; Hirsbrunner 2019). Darüber hinaus gab es Arbeiten zum Potential offener Forschungsdaten für filmwissenschaftliche Fragestellungen (Heftberger et al. 2020), zum Forschungsdatenmanagement in der Filmwissenschaft (Dang 2020) sowie zur Verfügbarmachung digitaler Filme durch das Bundesarchiv (Heftberger 2020). Auch die Frage der Analysevokabulare wurde aufgeworfen (Bakels et al. 2020), ebenso jene des Open Access (Kolleg-Forschungsgruppe Cinepoetics, FU Berlin; GfM-AG Open Media Studies: )

Das Panel möchte diese Einzelbeobachtungen zusammenführen und gemeinsam mit weiteren Fragestellungen diskutieren. Dabei erweist sich die Frage nach Offenheit für die Filmwissenschaft als besonders virulent. Ein zentrales Thema ist die Wiederverwertbarkeit von Software: Digitale Tools für Bewegtbilder sind komplex und aufwändig, der erhöhte Entwicklungsaufwand ‚rechnet‘ sich erst bei intensiver Nutzung. Forschungsdaten können häufig nicht zur Verfügung gestellt werden, aus urheberrechtlichen Gründen – die milliardenschwere Filmindustrie wirkt hier entgegen – ebenso wie aus technischen – Filme brauchen im Vergleich zu anderen Medien ein Vielfaches an Speicherplatz – und organisatorischen – es fehlen etablierte Annotierungsstandards.

Das Panel nimmt verschiedene Herausforderungen in den Blick: technische Infrastruktur und Standardisierungsbestrebungen, Lehre, Forschungsdatenmanagement und Citizen Humanities. Wir sind überzeugt davon, dass die Filmwissenschaft durch das Angehen ihrer spezifischen Probleme wesentliche Impulse auch für andere Geisteswissenschaften setzen und die Open Humanities entsprechend weiterentwickeln kann.

Organisation des Panels

Wie schon bei der DHd 2022 verzichten wir auf Kurzreferate der Teilnehmer:innen. Um eine lebendige Diskussion zu erleichtern, setzen wir auf pointierte Eröffnungsstatements. Dabei bringt jede:r Teilnehmer:in eine spezifische Perspektive und eigene Forschungsfragen in die Diskussion ein, die im folgenden Abschnitt kurz umrissen werden. Die Fokussierung auf das Gespräch soll helfen, das Publikum verstärkt anzusprechen.

Der Zeitplan sieht eine zehnminütige Einführung in das Thema durch den Moderator vor, die von sechs dreiminütigen Kurzstatements der Teilnehmer:innen abgerundet werden. Es folgt ein offenes Panelgespräch entlang vorher verschickter Leitfragen (30 Minuten), bei dem das Publikum natürlich auch gerne eingreifen darf. Die letzten 30 Minuten sind für Fragen aus und Diskussion mit dem Publikum vorgesehen; dabei möchten wir auch mit digitalen Feedbacklösungen, beispielsweise Umfragetools, experimentieren, die das Eintreten in einen Dialog möglichst niederschwellig gestalten sollen.

Spezifische Perspektiven

Ralph Ewerth (Hannover) wirkt bei der Entwicklung einer offenen Forschungsinfrastruktur zur Film- und Videoanalyse mit (im DFG-geförderten Projekt TIB-AV-A, ). Dabei ergeben sich zahlreiche Herausforderungen: die freie Verfügbarkeit der Infrastruktur über das Web, der große Datenumfang der Videos, die Usability der Benutzerschnittstelle, die Auswahl der anzubietenden Funktionen inkl. Datenimport/-export, die Realisierung als Open-Source-Projekt, die Erweiterbarkeit durch Plugins, die Nachhaltigkeit der Lösung, und nicht zuletzt die Bewerbung in den verschiedenen Communities. Daher benötigt die Entwicklung einer solchen Lösung Expertise in verschiedenen Gebieten, u.a. im Bereich Software-Entwicklung (Web-Interface, Backend-Technologien inkl. Nutzung von GPU-Prozessoren, Hosting der Daten), fundierte Kenntnisse des aktuellen Forschungsstands in der Informatik (Computer Vision, natürliche Sprachverarbeitung, Mustererkennung, maschinelles Lernen, Informationsvisualisierung) und ein interdisziplinäres Verständnis für die Anforderungen, die der Arbeitsweise der Filmwissenschaft entsprechen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, dass die Zielgruppen von vornherein in die Entwicklung der Infrastruktur mit einbezogen werden. Im Panel sollen die Herausforderungen aus der Open-Humanities-Perspektive der Filmwissenschaft diskutiert werden.

Sarah-Mai Dang (Marburg) diskutiert Forschungsdatenmanagement im Bereich des Filmkulturerbes, das intellektuelle Konventionen und institutionelle Rahmenbedingungen widerspiegelt, denen spezifische Vorstellungen von Film, Kanon und Autorschaft eingeschrieben sind. Möchten Wissenschaftler:innen mit filmhistorischen Datenbanken arbeiten, ist zunächst zu verstehen, mit welchen Daten sie es eigentlich zu tun haben. Auf welchen Quellen basieren die Daten? Nach welchen Kriterien wurden sie generiert? Von wem und zu welchem Zweck?

In einem Vergleich zweier Beispiele aus der Arbeit der BMBF-Forschungsgruppe „Datenvisualisierungen in der digitalen Filmgeschichtsschreibung am Beispiel der Forschung zu Frauen im Frühen Kino“ (DAVIF) sollen diese Fragen näher erläutert werden. Konkret geht es um die filmwerksbezogenen Daten des DFF – Deutsches Institut & Filmmuseum sowie die biographischen Daten des an der Columbia University angesiedelten Women Film Pioneers Project (WFPP), einer kollaborativen Onlineplattform, die mehr als dreihundert Profile aus der Stummfilmzeit versammelt. Während das Forschungsdatenmanagement des DFF von kuratorischen Überlegungen im Sinne einer interoperablen Nachnutzung geleitet wird und gemäß eines standardisierten Verfahrens erfolgt (EN 15907), ist die Arbeit des WFPP von einer Vielzahl an Forschungsinteressen im Sinne einer pluralen Filmgeschichtsschreibung bestimmt. Die Konsequenzen eines solchen ‚offenen‘ FDM für unsere Forschung und die Implikationen standardisierter Taxonomien sollen im Panel diskutiert werden.

Josephine Diecke (Marburg) und Thomas Scherer (Berlin) erachten offene Filmanalysevokabulare zur Videoannotation in Forschung und Lehre als einen neuralgischen Punkt für digitale Open-Humanities-Bestrebungen in der Filmwissenschaft. Die Suche nach geeigneten Tools, Annotationsvokabularen und Austauschformaten ist zentral an eine Kultur des lebendigen und aktiven Methodenaustauschs gebunden. Eine kurze Gegenüberstellung aktueller Ansätze, wie dem interaktiven Thesaurus der VIAN-Web-App (https://www.vian.app/keywords), der linked-open-data AdA-Filmontologie (Bakels et al 2020) und der Erprobung und Kritik der computergestützten Filmanalyse im Kontext des Digital Cinema-Hubs (Diecke 2022) soll aufzeigen, welche Praktiken es im Forschungsfeld zu offenen, modularen und skalierbaren Filmanalysevokabularien gibt, die als Fundament für die Vermittlung von Filmanalysekompetenzen und die wechselseitige (Nach-)Nutzung von Forschungsdaten fungieren können. Diecke und Scherer leisten damit einen Beitrag zu den zuletzt im Workshop der AG ‚Film und Video‘ debattierten engeren und früheren Rückkopplungsschleifen zwischen Entwicklungen in den Digital Humanities und filmwissenschaftlicher Lehr- und Forschungspraxis, die dem Vorbehalt des Überstülpens fachfremder Systematisierungszwänge entgegenwirken. Ein Schritt in diese Richtung ist die Entwicklung von Lehrmodulen zur Einführung in die annotationsbasierte Filmanalyse sowie die Konzeption und Verbreitung übergreifender Analysestandards, wie sie Vukovic und Baresch im Folgenden vorschlagen. Im Austausch mit den Panel-Teilnehmenden und dem Publikum sollen die vorgestellten Perspektiven und Bedürfnisse gegengeprüft werden, um diese in weiterführende Bestrebungen zur Anwendung und Verbesserung der digitalen Filmanalyse einbinden zu können.

Bregt Lameris (Open University of The Netherlands) untersucht, wie das im Rahmen von Barbara Flueckigers FilmColors-Projekt entwicklete Annotationstool VIAN als Plattformen für Citizen-Humanities-Projekte dienen kann. Die kontinuierliche Weiterentwicklung digitaler Werkzeuge ermöglicht es, Bürger:innen in geisteswissenschaftliche Forschungsprojekte einzubeziehen, oft in Zusammenarbeit mit Kulturerbeinstitutionen. Dadurch wird das Wissen über geisteswissenschaftliche Forschung in der Bevölkerung gefördert; gleichzeitig erheben Citizen Humanists wichtige Daten – etwa durch Taggen – und produzieren Wissen auf neue, ungewohnte Weise.

Die Implementierung von VIAN als Citizen-Humanities-Tool ermöglicht es Bürger:innen, audiovisuelle Videoanalysen ohne fachspezifische Ausbildung vorzunehmen. Den Teilnehmer:innen muss dabei der Umgang mit dem Tool und auch mit filmanalytischen Konzepten nähergebracht werden. Eine für VIAN bereits umgesetzte Möglichkeit ist die Entwicklung eines Bildglossars für filmwissenschaftliche Begriffe. Darüber hinaus können Citizen-Humanities-Projekte auch über eine Vereinfachung der Begrifflichkeiten bzw. das Ziel einer weniger detaillierten Analyse an verschiedene soziale Gruppen angepasst werden.

Nach einer Präsentation des aktuellen Glossars und einiger Ergebnisse meiner Arbeit, VIAN für Forscher:innen mit intellektuellen Beeinträchtigungen zugänglich zu machen, hoffe ich, die Podiumsteilnehmer:innen und das Publikum zu einer Diskussion jener komplexen Probleme anzuregen, mit denen uns die Citizen Humanities konfrontieren.

Teodora Vukovic (Zürich) konzentriert sich auf die technischen Aspekte einer möglichen Standardisierungsbestrebung für Filmannotation. Für die multimodale Analyse in der Filmwissenschaft müssen verschiedene Datentypen kombiniert und synchron gehalten werden, z.B. Kameraperspektiven mit Transkripten von Sprache und visuellen Inhalten. Die Komplexität dieser multimodalen Daten erschwert es, allgemeingültige und umfassende Standards vorzuschlagen. Es fehlt an standardisierten Softwarelösungen, und schließlich war die multimodale Analyse lange ein weitgehend qualitatives Gebiet, das keine ausgefeilten Datenstrukturen benötigte, wie sie in Gebieten mit einer längeren quantitativen Tradition, wie etwa der Korpuslinguistik, zu finden sind. Mit dem Aufkommen neuer Verarbeitungstechnologien, KI-Tools und der Zunahme multimodaler Software wie VIAN-DH wird die Frage nach Standards und Konventionen immer drängender. Eine der wichtigsten Anforderungen ist ein Datenrepräsentationsformat, das flexibel genug ist, um den verschiedenen Annotationstypen gerecht zu werden, und konkret genug, um in eine Datenbank implementiert oder für die Korpuskompilierung verwendet werden zu können. Eine weitere Anforderung sind Annotationskonventionen für multimodale Transkripte von nonverbalen Daten, die die vermittelte Bedeutung eindeutig und klar identifizieren, aber auch skalieren und korpusübergreifend verwendet werden können. Diese Aspekte sollen im Panel diskutiert werden.

Ariadne Baresch (Trier) nimmt die strukturellen Aspekte potentieller Standardisierungsbestrebungen in den Blick. Eine Festlegung auf ein „open vocabulary“ für die digitale Filmannotation spiegelt den Bedarf der Community wider, sich auf Standards, gemeinsame Annotationskonzepte und ein stabiles, umfassendes Tool zu einigen. Das beim Annotieren entstehende Spannungsfeld zwischen idiosynkratischer Betrachtungsweise und einer möglichst objektiven Auszeichnung wird derzeit innerhalb jedes, sich damit beschäftigenden Forschungsprojekts im Bereich Film neu verhandelt. Die Erarbeitung eines Annotationsstandards könnte die Überlegungen und Erfahrungen, die bei diesen Forschungsprojekten erarbeitet werden, bündeln und zugleich den Einstieg in die Filmannotation erleichtern. Der Standard muss dabei folgenden Ansprüchen genügen: er sollte in einem offenen Format angeboten werden, interoperabel und von der Community bei Bedarf flexibel erweiterbar sein, um die entstandenen Daten und Metadaten zur Weiterverarbeitung verfügbar zu machen. Das Annotationsvokabular sollte unterschiedliche Annotationsphänomene und Analyserichtungen innerhalb der Filmwissenschaft beinhalten, sodass Nutzende, egal ob Anfänger:innen oder Fortgeschrittene, den Standard für ihre individuellen Bedürfnisse verwenden können. Im Panel soll daher der potenzielle Bedarf für eine Film Encoding Initiative in die Diskussion gebracht werden. Innerhalb dieser könnten, ähnlich der Modelle der TEI und der MEI xml-basiert Elemente für in der Filmannotation relevante Phänomene angeboten werden, welche die Frage der Multimodalität von Film widerspiegeln und strukturieren.


Bibliographie

  • Bakels, Jan-Hendrik, Thomas Scherer, Jasper Stratil und Henning Agt-Rickauer. 2020. “AdA Filmontology – A Machine-Readable Film Analysis Vocabulary for Video Annotation.” In Book of Abstracts DH2020 Conference 443-445. https://dh2020.adho.org/wp-content/uploads/2020/07/488_AdAFilmontologyamachinereadableFilmAnalysisVocabularyforVideoAnnotation.html (zugegriffen: 2. August 2022).
  • Dang, Sarah-Mai. 2020. „Forschungsdatenmanagement in der Filmwissenschaft: Daten, Praktiken und Erkenntnisprozesse.“ montage AV (Januar 2020), 119–40.
  • Dang, Sarah-Mai. 2022. „o.J. – Recherchepraktiken, Datenquellen und Modellierungen.“ In Doing Research. Wissenschaftspraktiken zwischen Positionierung und Suchanfrage, hrsg. von Sandra Hofhues und Konstanze Schütze, 330–37. Bielefeld: Transcript. [im Erscheinen]
  • Diecke, Josephine. 2022. “Teaching Digital Methods in Film Studies: Managing Tools and Expectations.” In 2022 NECS Conference, University of Theatre and Film I.L. Caragiale (UNATC), Bucharest.
  • Heftberger, Adelheid. 2020. „Eine lohnende Mammutaufgabe – Rahmenbedingungen der digitalen Filmbenutzung im Bundesarchiv.“ Bibliothek Forschung und Praxis 44.3, 404–410. (zugegriffen: 2. August 2022).
  • Heftberger, Adelheid, Jakob Höper, Claudia Müller-Birn und Niels-Oliver Walkowski. 2020. “Opening up Research Data in Film Studies by Using the Structured Knowledge Base Wikidata.” Digital Cultural Heritage, hg. von Horst Kremers, 401–410. Cham: Springer. (zugegriffen: 2. August 2022).
  • Heinisch, Barbara et al. 2021. “Citizen Humanities.” The Science of Citizen Science, hg. von Katrin Vohland, Anne Land-Zandstra, Luigi Ceccaroni, Rob Lemmens, Josep Perelló, Marisa Ponti, Roeland Samson und Katherin Wagenknecht, 97–118. Cham: Springer. (zugegriffen: 2. August 2022).
  • Hirsbrunner, Simon David. 2019. “Open Your Heart – On Reasons Why Media Scholars Might be Reluctant to Open their Research Data.” Open Media Studies 8. 4. 2019. (zugegriffen: 2. August 2022).
  • Jannidis, Fotis und Julia Flanders. 2019. “A Gentle Introduction to Data Modeling.” In The Shape of Data in the Digital Humanities: Modeling Texts and Text-Based Resources, hrsg. von Julia Flanders und Fotis Jannidis, 26–94. London, New York: Routledge.
  • Sondervan, Jeroen. 2018. “Open Science and Open Media Studies – Question on a Culture in Transition.” Open Media Studies 29. 10. 2018. (zugegriffen: 2. August 2022).