Living Handbook “Digitale Quellenkritik”

Deicke, Aline; Wachter, Christian; Feichtinger, Moritz; Lemaire, Marina; Schmunk, Stefan; Hall, Mark; Harvey, Francis; Durdaği, A. Nursen
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Geistes- und Kulturwissenschaften bauen in ihren Erkenntnisprozessen wesentlich auf der Befragung von Quellen unterschiedlichster Materialität und Medialität auf: So bezeichnet der Begriff sämtliche Objekte und Überreste, die zum Erkenntnisgewinnungsprozess über das Vergangene beitragen, z. B. Gemälde, Musiknotenblätter, Texte, Fotografien, Münzen, Inschriften, Kleidung oder andere Alltagsgegenstände. Quellen liefern aber keine Wahrheiten, sondern müssen gedeutet und in die Sprache der (historischen) Wissenschaften übersetzt werden. Zudem können Quellen subjektiv, fehlerhaft, verfälscht oder auch nur in Teilen erhalten sein. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, hat sich in den historischen Wissenschaften die Methode der Quellenkritik etabliert (vgl. Koselleck 1977). Sie dient dazu, die Aussagekraft einer Quelle für ein gegebenes Forschungsvorhaben (insbesondere in Relation zu anderen Quellen) zu beurteilen und stellt damit letztlich die Grundlage zu ihrer Analyse dar. Hierfür werden sie z. B. beschrieben, indexiert, kontextualisiert, übersetzt und daran anschließend ausgewertet. Die Quellenkritik ist damit eine der Grundsäulen des Forschens schlechthin, sowohl in den historischen Wissenschaften als auch darüber hinaus (vgl. z. B. Arnold 2001).

Die digitale Transformation verändert alle Bereiche der Gesellschaft – dies schließt die Wissenschaft insgesamt und die historischen Wissenschaften im Speziellen ein. Neben Quellen genuin digitaler Natur, sog. “born digital” Quellen wie z. B. Software, Websites, Social Media Beiträge und persönliche Textnachrichten, stehen “traditionelle” Quellen im zunehmenden Maße digitalisiert zur Verfügung. Diese digitalen Repräsentationen stellen die Quellenkritik allerdings vor neue Herausforderungen: Wer hat die Quelle wie digitalisiert und zu welchem Zweck? Welche Formate und Transformationsalgorithmen wurden verwendet? Wer hostet die digitale Quelle und gewährleistet die Langzeitverfügbarkeit sowie ihre Integrität? Wie wird die Quelle auffindbar für diejenigen, die sie in ihrer Forschung verwenden wollen? Zu all diesen Fragen müssen sich die Geistes- und Kulturwissenschaften verhalten und dabei sowohl philosophische Überlegungen (Was ist eigentlich ein digitales Objekt?), als auch Überlegungen zu Methodologie, Langzeitarchivierung, manueller / semi-automatischer / automatischer Erschließung, Forschungsethik und viele andere mehr berücksichtigen.

Die traditionelle Quellenkritik muss vor diesem Hintergrund um die Dimension einer digitalen Quellenkritik erweitert werden. Hierzu sind in jüngerer Zeit bereits einige Beiträge vorgelegt worden (vgl. z. B. Fickers 2020; Föhr 2017; Hering 2014; Pfanzelter 2015), doch mit dem rasanten technischen Wandel und vor dem Hintergrund sich stark verändernder digitaler Infrastrukturen und Arbeitsprozesse in der Wissenschaft (z. B. im Zusammenhang mit der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur) braucht es eine stete und kritische Begleitung des Themas, wie es nur ein kontinuierlich und kooperativ geführter wissenschaftlicher Diskurs gewährleisten kann. Dieser Aufgabe hat sich der Arbeitskreis Digitale Quellenkritik (der lose an den DHd-Verband und die Arbeitsgruppe digitale Geschichtswissenschaft des Historikerverbands angeschlossen ist) verschrieben. Die Gruppe setzt sich aus Vertreter*innen mit unterschiedlichen institutionellen Hintergründen (Forschungs- und Infrastruktureinrichtungen) und aus diversen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen zusammen, um die verschiedenen Aspekte digitaler Quellenkritik möglichst vielseitig zu beleuchten. Der Arbeitskreis hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Thematik aufzufächern, die verschiedenen theoretischen, methodischen und inhaltlichen Aspekte zu identifizieren und sie in einem living handbook zusammenzuführen. Das living handbook stellt dabei sowohl eine Kondensationsfläche für den status quo als auch eine Einführung in die Thematik und eine Diskussionsgrundlage dar.

Aktuell befinden sich bereits mehrere Kapitel des living handbooks im Publikationsprozess, andere Kapitel sind noch in der Aufarbeitung bzw. Planung. Um den derzeitigen Stand im Detail vorzustellen und im Rahmen von Diskussionen weitere Impulse aus der DH-Community einzuholen und in die Kapitel zu integrieren, erscheint ein Panel auf der DHd2023 als ideales Format. Entsprechend soll dort nachstehende Auswahl an Kapiteln kurz präsentiert und zur Diskussion gestellt werden. Sowohl das Projekt des living handbooks als auch die öffentliche Diskussion mit der DH-Community stehen damit ganz im Geiste des Tagungsmottos “Open Humanities – Open Culture”. 

Beitrag 1: Offenes, community-getriebenes Publikationsformat

Aline Deicke

Das Handbuch ist ein Community-Projekt und per Definition nie abgeschlossen: Es hält sich offen für Korrekturen, Ergänzungen und Aktualisierungen. Die Prozesse der Arbeit mit Quellen, ihre kritische Reflexion und Interpretation und der Weg von einer Quelle zu einer wissenschaftlichen Aussage sollen damit transparent gemacht und aktualisiert werden. Das living handbook zur digitalen Quellenkritik ist so ein Stück gelebte Open Culture der digitalen Geistes- und Kulturwissenschaften.

Anhand der Arbeiten und Debatten um das Handbuch lassen sich Aspekte diskutieren, die Open Science in den Digital Humanities allgemein betreffen: Wie lässt sich eine möglichst weite Partizipation von Stimmen und Perspektiven aus der Gesellschaft und verschiedenen Fachcommunities mit der Sicherung von Expertise vereinbaren? Welche Verfahren der redaktionellen Überarbeitung erfordert eine offene und stetige Erweiterung von Texten? Wie lassen sich Elemente des traditionellen Publikationsbetriebs (Reputationsmetriken, Reviewverfahren etc.) in einen community-getriebenen, kollaborativen Prozess überführen?

Beitrag 2: Theorie der digitalen Quellenkritik

Moritz Feichtinger 

Das Projekt des living handbooks ist getrieben von der gemeinsamen Einsicht, dass Quellenkritik im digitalen Zeitalter um neue Herangehensweisen und Fragestellungen erweitert werden muss. Unklar bleibt jedoch, inwieweit dieser digitale Wandel die theoretischen und methodischen Grundlagen der Disziplinen erfassen wird oder sollte. Handelt es sich bei digital unterstützten Praktiken des Befragens, Analysierens und Interpretierens lediglich um den Einsatz eines modernisierten Werkzeugkastens, oder ändert sich die Gewinnung historischer Erkenntnis fundamentaler? Wenn der Umgang mit Quellen von der Suche über die Bearbeitung bis zur Interpretation in erheblichem Umfang von digitalen Methoden bestimmt ist, bedeutet dies letztlich eine Erweiterung oder Erneuerung der Grundkenntnisse und Grundwissenschaften historischen Forschens?

Der Beitrag fragt also nach den Erfordernissen digitaler Quellenkritik und deren Konsequenzen für die Methodik und Hermeneutik historischen Forschens. Debattiert werden soll, welche Zugänge anderer Disziplinen übernommen werden können und unter welchen Bedingungen dies geschehen kann (oder sollte). Zudem möchten wir zur Diskussion stellen, welche Gestalt und welches Ausmaß der Einfluss digitaler Quellenkritik auf die Hermeneutik haben kann (oder sollte).

Erleben wir einen Wandel oder eine Pluralisierung der Erkenntnisverfahren? Bedeutet dies eine Schärfung des Profils akademischer Forschung (und ihrer hergebrachten Hermeneutik) oder eine stärkere Annäherung an andere Disziplinen?

Beitrag 3: Algorithmenkritik und die Grenzen des Algorithmus

Mark Hall

Im digitalen Raum werden Quellen zwangsläufig algorithmisch verarbeitet: von der Suche relevanter Quellen über ihre Analyse bis hin zur Visualisierung der Analyseergebnisse – Algorithmen sind allgegenwärtig. Jeder dieser Algorithmen hat das Potenzial, Quellen und Ergebnisse zu verzerren respektive zu beeinflussen (Van Es 2018). Eine kritische Reflexion der im Forschungsprozess verwendeten Algorithmen ist daher integraler Bestandteil der digitalen Methoden- und Quellenkritik (Dobson 2015).

In der Informatik wird der Algorithmus generell als unabhängig von den bearbeiteten Daten gesehen. Diese künstliche Trennung ist aber für die Algorithmenkritik aus mehreren Gründen problematisch: Erstens lässt sich die Frage nach potenziellen Verzerrungen nur im Hinblick auf die spezifischen Eigenschaften der zu verarbeitenden Daten beantworten. Ein Algorithmus kann für das eine Quellenkorpus geeignet sein und den Aussagewert eines anderen verzerren. Zweitens sind bei vielen Methoden die Grenzen zwischen Daten, Modell und Algorithmus nicht trennscharf. So nutzt Maschinelles Lernen etwa mehrere Algorithmen, um zum einen aus Daten ein Modell zu trainieren und zum anderen, um das Modell auf die Quelle anzuwenden. Diese Aspekte können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden.

Es ist daher notwendig, eine holistische Algorithmenkritik zu entwickeln, die den Algorithmus im Kontext der Daten und Modelle analysiert. Zu diskutierende Fragen sind unter anderem: Ist diese enge Verknüpfung von Algorithmus, Daten und Modellen wirklich notwendig? Was für Methoden der Algorithmenkritik kann man ohne eine detaillierte Analyse des Codes anwenden? Wo zieht man die Grenze zur Datenkritik?

Beitrag 4: Für die verräumlichten Geisteswissenschaften: Von Karten zu Standorten

Francis Harvey

In einer digitalen Quellenkritik (Fickers 2020; Pfanzelter 2015) kann die Aufarbeitung von Orten und Standorten wichtige epistemologische und ontologische Hinweise für die Forschung geben (Bodenhamer et al 2010). Digitalisierte Karten und raumbezogene Daten stellen neue Herausforderungen dar. Forschende können zwar mit Einsichten aus der traditionellen Geographie und Kartographie die eigene Quellenkritik oft vertiefen, aber mit dem digitalen Wandel geht ein epistemologischer Wandel einher, der neue Herausforderungen an den verräumlichten Erkennungsgewinnungsprozess stellt (Capurro 2010). So kommen beispielsweise Fragen dazu auf, wie unterschiedlichen Zugängen zu Digitalisaten durch Informationsinfrastrukturen entgegengewirkt oder wie eine digitalisierte Kartenkritik in eine digitale Quellenkritik integriert werden kann.

Beitrag 5: Populäre Wissensproduktion – digitale Quellenlücke?

A. Nursen Durdaği

Die flächendeckende Nutzung von Computern in Wissenschaft und Gesellschaft, die rasante Entwicklung des Internets mit einer enormen Zunahme der Digitalisierung u.a. mit Hilfe von künstlicher Intelligenz führt zu einer unumkehrbaren Veränderung der menschlichen Informationsrezeption. Wissen wird nicht mehr ausschließlich über traditionelle Wege rezipiert, sondern oftmals über populär (wissenschaftlich)e Zugänge wie z. B. YouTube-Videos, Social Media Beiträge etc. Je mehr Informationen vorliegen und generiert werden, umso schwieriger wird es zu identifizieren, welche Beiträge wissenschaftlichen, peer-geprüften Forschungsprozessen entstammen. Insbesondere geht oft verloren, wie und von wem Informationen zu Sachverhalten erstellt, kommuniziert und verändert wurden. Für eine digitale Quellenkritik und -analyse bedeutsam sind u.a. soziale und geografische Unterschiede in der Verfügbarkeit von Ressourcen, in der Zugänglichkeit von Dokumenten angesichts (staatlicher) Geschichtspolitik und Zensur, eine sorgfältige Dokumentation der Datenhistorie sowie die Gewährleistung einer langfristigen Auffindbarkeit. Dennoch stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang es in Zukunft für Institutionen, Gremien oder auch Einzelakteur*innen überhaupt möglich sein wird, die Genese von Informationen umfassend zu recherchieren und nachzuvollziehen, und welchen Einfluss diese Unsicherheiten auf Prozesse der Wissensproduktion haben werden.


Bibliographie

  • Arnold, Klaus. 2001. “Der wissenschaftliche Umgang mit Quellen.” In Geschichte. Ein Grundkurs , hg. von Hans-Jürgen Goertz, 2. Auflage, 42–58. Hamburg: Rowohlt.
  • Bodenhamer, David, John Corrigan und Trevor M. Harris (Hg.). 2010. The Spatial Humanities . Bloomington: Indiana University Press.
  • Capurro, Rafael. 2010. “Digital Hermeneutics—An Outline.” AI & Society 35, Nr. 1: 35–42. (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Dobson, James E. 2015. “Can an algorithm be disturbed? Machine learning, intrinsic criticism, and the Digital Humanities.” College Literature 42, Nr. 4: 543–564.   (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Es, Karin van, Maranke Wieringa und Mirko Tobias Schäfer. 2018. “Tool Criticism: From Digital Methods to Digital Methodology.” In Proceedings of the 2nd International Conference on Web Studies , hg. von Everardo Reyes, Mark Bernstein, Giancarlo Ruffo und Imad Saleh, 24–27. WS.2 2018. New York, NY, USA: Association for C omputing Machinery. (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Fickers, Andreas. 2010. “Update für die Hermeneutik. Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur digitalen Forensik?” Zeithistorische Forschungen – Studies in Contemporary History 17, Nr. 1: 157–68. (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Föhr, Pascal. 2017. Historische Quellenkritik im Digitalen Zeitalter . Thesis, University of Basel. (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Hering, Katharina. 2014. “Provenance Meets Source Criticism.” Journal of Digital Humanities 3, Nr. 2. (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Koselleck, Reinhart. 1977. “Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt.” In Objektivität und Parteilichkeit , hg. von Reinhart Koselleck, Wolfgang Mommsen, und Jörn Rüsen. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
  • Knowles, Anne. 2014. “The Contested Nature of Historical GIS.” International Journal of Geographical Information 28, Nr. 1: 206–211.   (zugegriffen: 02. August 2022).
  • Pfanzelter, Eva. 2015. “Die historische Quellenkritik und das Digitale.” Archiv und Wirtschaft. Zeitschrift für das Archivwesen der Wirtschaft 1: 5–19. (zugegriffen: 02. August 2022).