Skalierungspraktiken in der computergestützten Analyse von literarischen Texten
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Einleitung
In den vergangenen Jahren haben Publikationen aus dem Bereich der digitalen Literaturwissenschaft vermehrt auf das durch den Altphilologen und Anglisten Martin Mueller geprägte Konzept s calable reading hingewiesen, es diskutiert oder sogar zum Vorbild für das eigene methodische Vorgehen auserkoren (vgl. exemplarisch Arnold, Fiechter 2022, 162–165; Horstmann, Kleymann 2019, insb. Kap. 1 und 5; Schruhl 2018, Kap. 5; Weitin 2017, 1–6; Willand, Reiter 2017, 178). Ein Vorzug des „integrative[n] Konzept[s]“ – so wird immer wieder betont – sei dessen Anlage, die eine Verbindung von „qualitativ-hermeneutische[n] und quantitativ-statische[n] Methoden“ erlaube (Weitin 2015, 2).1 Dementsprechend ist der von Mueller als „happy synthesis of ‚close‘ and ‚distant‘ reading“ (Mueller 2012, o.S.) angelegte Begriff des scalable reading verbreitet als mixed-methods-Ansatz wahrgenommen worden (vgl. etwa Herrmann 2018, § 5–7; Kleymann 2022, § 23–25) und wird in der Hauptsache als methodologisches Schlagwort verwendet, das die Verknüpfung qualitativer und quantitativer Methoden anzeigen soll (vgl. etwa Viehhauser 2017, Kap. 4 oder Krause und Pethes 2017, 108). Die unterschiedlichen Skalierungspraktiken, die dem Konzept anhaften, und das häufig betonte brückenbildende Potential von scalable reading scheinen mir bislang aber noch nicht ausreichend reflektiert worden zu sein.2
In einem ersten Schritt meines Beitrags werde ich die verschiedenen Dimensionen, auf die sich Muellers Konzeption von scalable reading erstreckt, ausdifferenzieren und erläutern. Daran anschließend werde ich in einem zweiten Schritt am Beispiel von literarischen Netzwerkanalysen dramatischer Texte exemplarisch darlegen, wie sich etablierte computergestützte Methoden (vgl. Jannidis 2017, 147–161; Trilcke 2013, 201–247) zu diesen Dimensionen verhalten. Um das Konzept des scalable reading für die analytische Praxis fruchtbar zu machen, scheint es mir grundlegend, die dafür angedachten computergestützten Methoden auf ihre Skalierbarkeit hin zu prüfen. Denn während Franco Moretti und Matthew Jockers mit ihren Begriffen distant reading und macroanalysis die gewohnte literaturwissenschaftliche „Beobachtungshaltung, die ihre Gegenstände auf einer ‚mittleren Skala‘ situier[t]“ (Spoerhase 2020, 7), als ungeeignet für eine umfassende Literaturgeschichtsschreibung kritisieren (vgl. etwa Moretti 2000a, 207–209),3 versucht Mueller mit scalable reading Mikro-, Meso- und Makro-Skalen zusammenzudenken.
Die Dimensionen von scalable reading
In einem programmatisch ausgerichteten Blogbeitrag hob Mueller 2012 hervor, wie ihn „[t]he charms of Google Earth“ (Mueller 2012, o.S.) zu scalable reading als methodischer Metapher für die Betrachtung literarischer Texte geführt habe. Seine Überlegungen konzentrieren sich hauptsächlich auf die Operation des Zoomens (vgl. dazu Krautter, Willand 2020, 77–79). Durch Herein- und Herauszoomen würden in Google Earth unterschiedliche Repräsentationsformen entstehen, die je verschiedene Informationen tragen: „different properties of phenomena are revealed by looking at them from different distances“ (Mueller 2012, o.S.).4 Ein ähnliches Verfahren imaginiert Mueller nun auch für die Analyse literarischer Texte. Er zielt darauf ab, Verbindungslinien zwischen Einzeltextbetrachtungen und der Untersuchung größerer Zusammenhänge in Textsammlungen ziehen zu können und dabei die aufwändige Aufarbeitung von Kontexten, das Lesen sehr vieler Texte und letztlich die Identifikation von aufschlussreichen Mustern zu beschleunigen und zu vereinfachen.5 Grundlage dafür sind die verschiedenen Skalen, die sich hinter Muellers reading- bzw. Analysebegriff verbergen. Scalable reading erstreckt sich nach meiner Ansicht auf mindestens vier skalierbar gedachte analytische Dimensionen.
Die Skalenpluralität beginnt erstens bei der Textgrundlage: Literarische Texte liegen in „einer weiten ‚Scale‘ von Surrogaten“ (Weitin 2015, 10) vor, die nebeneinander koexistieren: „Our typical encounter with a text is through a surrogate“ (Mueller 2013, o.S.). Mueller spricht an dieser Stelle von Surrogaten, da immer schon mit unterschiedlich gearteten Repräsentationen des Originals gearbeitet wurde und wird: Das können beispielsweise Faksimiles, Text- und Werkausgaben, Digitalisate oder auch speziell kodierte Textsammlungen sein (vgl. dazu Mueller 2014, § 4–20). Surrogate können darüber hinaus in stark transformierter oder abstrahierter Form auftreten, beispielsweise in Gestalt von Häufigkeitswortlisten. Auch die Netzwerkanalyse fußt demnach auf Surrogaten. Peer Trilcke und Frank Fischer sprechen von einem „Zwischenformat“, das in ihrem Fall nur noch diejenigen Strukturinformationen der Dramen vorhalte, die zur Netzwerkerstellung herangezogen werden (Trilcke, Fischer 2018, Kap. 3). Der Dramentext selbst ist nicht mehr Teil des Zwischenformats.
An diese unterschiedlichen Repräsentationsformen von Literatur ist zweitens die Frage des Umfangs geknüpft: Wie groß ist der Untersuchungsgegenstand? Handelt es sich nur um einen einzelnen Text, vielleicht sogar nur um einen Ausschnitt des Textes, oder aber um eine größere Sammlung von Texten? Wie umfangreich ist diese Sammlung? Nicht nur die Zahl der zu betrachtenden Texte, auch die Textsorte kann hier Teil der Skalierungsfrage sein: Sollen kurze Novellen oder 1000-seitige Langromane untersucht werden, ein kurzer Einakter oder Karl Kraus’ monumentales Lesedrama Die letzten Tage der Menschheit, in dem in 220 Szenen fast 1000 sprechende Figuren auftreten (vgl. Fischer u.a. 2020, 279).
Drittens stellt sich die Frage nach der Größe der Analyseeinheiten. Morettis distant reading grenzt sich, wie Carlos Spoerhase herausgearbeitet hat, von der üblichen Meso-Skala literaturwissenschaftlicher Untersuchungen ab, bei der das Verständnis eines oder einiger weniger literarischer Texte im Fokus stehe (vgl. Spoerhase 2020, 7). Für Moretti ist dagegen alles interessant, was abseits dieser mittleren Skala liegt, das sind „units that are much smaller or much larger than the text“ (Moretti 2000b, 57). Moretti geht es also nicht mehr um die ganzheitliche Interpretation von Texten, sondern um Mikro- und Makro-Eigenschaften von Textsammlungen, wie die Verteilung einzelner Wortformen oder die diachrone Entwicklung von Gattungen. Anders als close reading, das an die Meso-Skala gebunden sei, würden distant reading oder macroanalysis hinsichtlich der Analyseeinheiten sowohl ein „zooming in“ als auch ein „zooming out“ ermöglichen (Jockers 2013, 23). Auch Mueller betont, dass quantitative Methoden gleichermaßen ein Heraus- wie ein Hereinzoomen erlauben würden. Die Metapher des Zoomens ist bei ihm aber nicht an ein bestimmtes methodisches Instrumentarium gebunden (vgl. Mueller 2014, § 31).
Mueller denkt die methodische Bezugsgröße viertens vielmehr selbst auf einer Art Skala. Wie Weitin gemeinsam mit Thomas Gilli und Nico Kunkel (2016, 115) herausstellt, umfasse scalable reading bei Mueller nämlich „prinzipiell alle Akte des Lesens und Analysierens von Texten“. Unterschiedliche qualitative und quantitative Methoden würden dann gleichberechtigt nebeneinanderstehen und könnten den analytischen Anforderungen der Fragestellung und der gewählten Textsammlung gemäß kombinatorisch zusammengedacht werden. Anders als es das Begriffspaar close und distant reading nahelegt, ist der Einsatzzweck verschiedener Formen der Analyse bei Mueller nicht im Vorhinein determiniert. Relevant ist für ihn stattdesse, wie sich qualitative und quantitative Methoden für eine bestimmte Fragestellung so kombinieren lassen, dass ein analytischer Mehrwert entsteht.
Praktische Überlegungen zum scalable reading
Im folgenden Abschnitt möchte ich die mit einer Praxis des scalable reading verbundenen Herausforderungen genauer beleuchten. Zur Veranschaulichung greife ich dabei auf literarische Netzwerkanalysen zurück. Abbildung 1 zeigt ein Kopräsenznetzwerk von Friedrich Schillers Die Räuber (1781). Jeder Knoten im Netzwerk repräsentiert eine Figur des Dramas, die Kanten zwischen zwei Knoten zeigen an, dass die beiden verbundenen Figuren innerhalb eines bestimmten Textsegments interagieren. Im vorliegenden Fall bedeutet Interaktion, dass die beiden Figuren in der gleichen Szene sprechen (vgl. Trilcke u.a. 2015, 1). Solche Netzwerke können automatisiert erstellt werden, wenn die digitalisierten Dramen entsprechend kodiert vorliegen, wie es etwa beim Drama Corpora Project der Fall ist (siehe Fischer u.a. 2019).6 Dadurch lässt sich eine große Zahl an Netzwerken nicht nur visuell, sondern vor allem mit Blick auf mathematische Netzwerkmetriken vergleichen.
Die Automatisierung führt jedoch zu einigen Einschränkungen. So ist die oben dargelegte Formalisierung von Figureninteraktionen zwar ähnlich, aber nicht deckungsgleich mit dem von Solomon Marcus (1973, 358) vorgeschlagenen und zum kodifizierten Handbuchwissen (vgl. etwa Pfister 2011, 235–240) gewordenen Begriff der Konfiguration. Die Figurenkonfiguration eines Dramas ändert sich immer dann, wenn eine Figur die Bühne betritt oder verlässt, also das am Bühnengeschehen beteiligte Personal zumindest in Teilen wechselt. Dramen, die Prinzipien des französischen Klassizismus folgen, sind durch die im Nebentext markierten Auf- und Abtritte strukturiert. Konfiguration und Szenengrenze fallen dann – zumindest in der Theorie – zusammen. Anders ist das bei Stücken, die sich an Shakespeares Poetik orientieren. Hier sind die Szenengrenzen zumeist an einen Ortswechsel gebunden. Daher können Figuren auf- oder abtreten, ohne dass zwangsläufig eine neue Szene konstituiert wird. Da Auf- und Abtritte von Figuren im Drama Corpora Project (noch) nicht kodiert sind, ist die automatisierte Erstellung von Kopräsenznetzwerken auf die Szenengrenzen als Segmentierung angewiesen.7 Das kann Begleiterscheinungen zur Folge haben, die es in der Untersuchung zu reflektieren gilt. Schillers Stück Die Räuber ist dafür ein gutes Beispiel. So hat schon Marcus (1973, 326–333) darauf hingewiesen, dass sich zwischen der Anzahl an Szenen und der Anzahl an Konfigurationen eine große Diskrepanz auftue. Im Verlauf der 15 Szenen von Die Räuber zählt Marcus ganze 78 Konfigurationen.
Nun stellt sich die Frage, wie sich solche Kopräsenznetzwerke sinnvollerweise in die etablierte Dramenanalyse integrieren lassen. Einen prominenten Versuch, Netzwerkanalysen in den Verstehensprozess literarischer Texte zu integrieren, unternimmt Moretti in seinem Essay Network Theory, Plot Analysis (2011). Entgegen seiner Rhetorik der large scale erprobt er die Methode nur an einzelnen literarischen Texten, insbesondere an Shakespeares Hamlet (1609). Sein Vorgehen lässt sich als close reading von Netzwerkvisualisierungen beschreiben. Moretti zerlegt die Visualisierungen in verschiedene Teile und versucht seine netzwerkanalytischen Beobachtungen anschließend mit generellen textanalytischen Erkenntnissen zu verbinden (vgl. Moretti 2011, 3–7).
Wie verhält sich Morettis Studie aber zu Muellers scalable reading und wie lässt sie sich hinsichtlich der vier von mir herausgearbeiteten Dimensionen (Textgrundlage, Größe des Untersuchungsgegenstandes, Analyseeinheiten und Methoden) einordnen? Verglichen mit einer herkömmlichen Interpretation von Hamlet ist die auffälligste Veränderung mit Sicherheit die fundamentale Modifizierung der Textgrundlage. Moretti interpretiert nicht den Dramentext, sondern ein auf Strukturdaten basierendes abstraktes Netzwerk in Form von Knoten und Kanten. Die Größe des Untersuchungsgegenstandes bleibt zwar auf einen literarischen Text beschränkt, das spezifische Surrogat beziehungsweise Textmodell gibt aber die im Zentrum der Untersuchung stehenden Analyseeinheiten vor: Untersucht wird die zu einem Figurennetzwerk subsumierte Kopräsenz von Dramenfiguren. Aufschlussreich ist Morettis methodisches Vorgehen. Grundlage des Netzwerks sind quantitative Strukturdaten. Erkenntnisse gewinnt er aber vor allem im Modus der Interpretation und nur äußerst begrenzt aus statistischen Auswertungen der mathematischen Netzwerkmetriken. Moretti beschreibt das als „using networks to gain intuitive knowledge of plot structures“ (Moretti 2011, 12). Entspricht das nun Muellers Vorstellung von scalable reading? Insbesondere Morettis Schlussfolgerung ist dahingehend bezeichnend. Seine Analysen, so urteilt er, würden nämlich nach einer „radical reconceptualization of characters and their hierarchy“ in der Literaturwissenschaft verlangen (Moretti 2011, 5). Etablierte Konzepte – etwa das Protagonistenkonzept – ließen sich aus seiner Perspektive kaum produktiv mit seinen netzwerkanalytischen Ergebnissen verbinden. Denn die explanative Funktion abstrakter Modelle sei mit „concepts of ‚consciousness‘ and ‚interiority‘“ nicht kompatibel (Moretti 2011, 4). Für Moretti ist es demnach nicht einmal dann erstrebenswert, die Netzwerkanalyse in die typische Meso-Skala literaturwissenschaftlicher Interpretationen zu integrieren, wenn nur ein einzelner Text untersucht wird. Denn schon hier zielt er auf textübergreifende Konzepte ab. Beim Zoomen zwischen Mikro- und Makro-Ebene, so ließe sich schließen, wird die Meso-Skala übersprungen.
Abbildung 1 verdeutlicht zudem, dass nicht alle Kopräsenznetzwerke vom „‚intermediate‘ status of visualization“ profitieren, den Moretti in seinem Essay als so wichtig erachtet (Moretti 2011, 11). Das Netzwerk von Schillers Die Räuber kann nämlich auch in die Irre führen. Die getrennten Sphären von Familie und Räubern, die die Struktur des Stücks in den ersten drei Akten stark prägen (vgl. Krautter, Willand 2021, 115–118), lassen sich in der Abbildung nicht identifizieren. Ganz im Gegenteil: Die Netzwerkvisualisierung stellt die Räuberbande, insbesondere Schwarz, Grimm und Karl Moor ins Zentrum des Dramas, während die Familie um Franz, den alten Moor und Amalia an den Rand rückt. Grund dafür ist der Grad der entsprechenden Knoten. Dabei handelt es sich um eine simple Metrik, die die Anzahl an Kanten misst, die ein Knoten auf sich vereint (vgl. Newman 2010, 168–169). Während Schwarz und Grimm alle 25 möglichen Verbindungen zu anderen Figuren realisieren, sind es bei Franz nur deren zwölf. Selbst Moretti würde von Schwarz’ und Grimms Zentralität aber kaum darauf schließen, dass sie die Hauptfiguren des Stücks sind. Zu marginal ist ihr Einfluss auf die Handlung, zu gering sind ihre Redeanteile.
Der Mehrwert solcher Figurennetzwerke wird jedoch meist auf die Analyse größerer Textsammlungen verschoben, die schon aufgrund ihrer Menge nur schwer durch close reading erschließbar erscheinen (vgl. Trilcke, Fischer 2018, Kap. 3). Hinsichtlich der vier Dimensionen würde das einer Höherskalierung des Untersuchungsgegenstands entsprechen. Ziel ist es hierbei, die als Netzwerke modellierten literarischen Texte durch mathematische Metriken – wie den Grad der Knoten – in einen Vergleichszusammenhang zu stellen. Davon sind auch die Analyseeinheiten betroffen. Die Kopräsenzen der Figuren sind zwar weiterhin die Grundlage der Analyse, als infratextuelle Merkmale sollen sich durch sie aber supratextuelle Muster identifizieren lassen. Hierdurch könnten sich, so die Hoffnung, entweder neue Einsichten in die Literaturgeschichte ergeben oder existierende Hypothesen anhand umfassender Textsammlungen nachvollzogen werden.
Abbildung 2 zeigt ein Beispiel für eine diachrone Analyse anhand 583 deutschsprachiger Dramen, die zwischen 1730 und 1930 veröffentlicht oder uraufgeführt wurden (German Drama Corpus). Die Abbildung reproduziert eine Untersuchung von Trilcke und Fischer (2018, Abbildung 6). Wie Trilcke und Fischer habe ich aus dem durchschnittlichen Grad der einzelnen Dramen die Mittelwerte für jedes Jahrzehnt von 1730 bis 1930 ermittelt. Rein deskriptiv ist festzuhalten, dass der durchschnittliche Grad ab dem späten 18. Jahrhundert langsam ansteigt. Zwischen 1830 und 1880 sind dann nur relativ geringe Schwankungen zu erkennen, ehe auf einen Anstieg bis etwa 1890 ein abrupter Fall und ein erneuter starker Anstieg folgen. Trilcke und Fischer haben diese Werte als Indikator dafür gedeutet, dass Dramatiker:innen mit ihren Stücken „auf die gesellschaftliche Modernisierung und Ausdifferenzierung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ reagieren. Sie weisen im Anschluss gleichwohl darauf hin, dass diese Erkenntnis nichts Neues sei (Trilcke, Fischer 2018, Kap. 4.1). Mit Fotis Jannidis (2019, 65) gesprochen lässt sich diese Art der Wissenskonsolidierung als Form der „Kreuzpeilung“ begreifen.
Wie überzeugend ist diese Deutung der Werte aber? Vergleicht man den Werteverlauf des durchschnittlichen Grads in Abbildung 2 mit der Zahl der auftretenden Figuren aus Abbildung 3, scheint ein Zusammenhang zu bestehen. Die Berechnung der Korrelation zwischen Grad und Figurenzahl bestätigt diese Relation: Spearman’s ρ beträgt 0,75. Aus konzeptioneller Perspektive erscheint der Zusammenhang schlüssig. Je größer die Zahl der auftretenden Figuren, umso höher ist der maximal mögliche Grad einer Figur. Gleichzeitig sinkt mit steigender Figurenzahl die Wahrscheinlichkeit, dass alle möglichen Kanten tatsächlich realisiert werden. Folglich sinkt die Dichte des Netzwerks. Die diachrone Analyse des durchschnittlichen Grads beruht also zu großen Teilen auf der sich verändernden Anzahl auftretender Figuren in den Dramen. Ob und wie die Interaktion der Figuren davon beeinflusst wird, müsste jedoch genauer untersucht werden. Dabei könnten Netzwerkmetriken, die die Zentralität eines Knotens möglichst unabhängig von der Netzwerkgröße ermitteln, künftig eine wichtige Rolle einnehmen (vgl. Szemes, Vida 2023 [in Vorb.]).
Fazit
Die vier von mir beschriebenen Dimensionen des scalable reading können helfen, Möglichkeiten und Grenzen der Skalierung mit Bezug auf spezifische Forschungsfragen oder das methodische Vorgehen auszuloten. Wie meine Ausführungen gezeigt haben, sind die Textgrundlage, die Größe des Untersuchungsgegenstandes, die Analyseeinheiten und die eingesetzten Methoden nicht als voneinander unabhängige Variablen zu denken. So ist es einerseits nicht selbstverständlich, dass Kopräsenznetzwerke für die typische literaturwissenschaftliche Meso-Skala produktiv gemacht werden können. Bei der Höherskalierung des Untersuchungsgegenstandes ist es andererseits wichtig, die Werte der Netzwerkmetriken zu kontextualisieren und zu reflektieren, da die Analyseeinheiten als stark abstrahierte Datenwerte repräsentiert werden. Die immer wieder als zentral erachtete Verbindung von Einzeltextlektüren mit der Analyse größerer Textsammlungen (vgl. Weitin 2017, 1) steht somit nicht nur vor der Herausforderung, qualitative und quantitative Methoden zu kombinieren. In Abhängigkeit davon müssten zeitgleich unterschiedliche Textgrundlagen, unterschiedlich skalierte Untersuchungsgegenstände und unterschiedliche Analyseeinheiten gewinnbringend zusammengeführt werden.
Fußnoten
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