Lautstärke und Konflikt in Realismus und Naturalismus

Häußler, Julian; Guhr, Svenja; Gius, Evelyn
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Realismus und Naturalismus im Vergleich

Der Naturalismus gilt als „radikale Form des Realismus“ (Fricke et al., 2000, S. 684). Die Autor:innen des Naturalismus widmeten sich den aus ihrer Sicht drängenden sozialen Fragen der Zeit. Mit den dadurch veränderten thematischen Schwerpunkten ging auch der Anspruch einher, wirklichkeitsnahe Literatur zu schreiben. Dies steht im Kontrast zu den Themen und poetologischen Prinzipien der parallel weiter existierenden Strömung des Realismus. Auf der Ebene der Textgestaltung lässt sich der Gegensatz der beiden Strömungen u. a. daran festmachen, dass Expositionen, also Anfänge von literarischen Texten, im Realismus typischerweise ereignisarm und gleichzeitig ausführlich gestaltet sind, während im Naturalismus das Prinzip des zeitdeckenden Erzählens (i. e., die Übereinstimmung von erzählter Zeit und Erzählzeit) wichtig wurde. Dieser sogenannte „Sekundenstil“ sollte als Erzähltechnik eine gewisse Unmittelbarkeit erzeugen. Neben der thematischen Neuausrichtung bzw. Zuspitzung des Naturalismus gibt es also zwischen Realismus und Naturalismus auch damit zusammenhängende Unterschiede in der sprachlichen Darstellung.

In unserem Beitrag untersuchen wir deutschsprachige Texte des Realismus und des Naturalismus auf Lautstärke und Konflikthaftigkeit. Wir nehmen an, dass die eben erläuterten poetologischen Prinzipien auch Auswirkungen auf die textliche Gestaltung der so genannten soundscapes ( sound + landscape) (Schafer 1994) sowie von Konflikten in der Fiktion haben. Für die Analyse von Lautstärke und Konflikthaftigkeit haben wir in unterschiedlichen Projekten bereits Zugänge entwickelt (vgl. Guhr und Algee-Hewitt, 2023a und b und Häußler und Gius, 2023a und b), die an der sprachlichen Realisierung der Phänomene ansetzen, um sie zu identifizieren und zu kategorisieren.

Die Erkennung von Geräuschen des fiktionalen soundscape umfasst Umgebungs- sowie Figurengeräusche, die auf der Wortebene als in der Fiktion realisierte Geräusche annotiert werden. Die Untersuchung von Konflikten wiederum basiert konzeptuell auf interpersonellen Konflikten nach Glasl (2011) und erfasst Konflikthaftigkeit anhand von Schlüsselwörtern für Konflikt.

Mit diesen Methoden gehen wir im folgenden Beitrag auf die folgenden Hypothesen ein: (1) Aufgrund der grundsätzlich ablehnenden Haltung des Naturalismus gegenüber dem bürgerlichen Realismus erwarten wir zum einen, dass naturalistische Texte sowohl lauter als auch konflikthafter sind als realistische. (2) Zum anderen vermuten wir, dass die poetologischen Unterschiede der beiden Epochen sich auch auf eventuelle Zusammenhänge der beiden untersuchten Phänomene auswirken. Lautstärke und Konflikthaftigkeit im Realismus sollten eher negativ korrelieren, da dort Konflikte vermutlich eher abgeschwächt dargestellt werden, während im Naturalismus Konflikte auch lautstark ausgetragen werden und eine positive Korrelation zwischen Lautstärke und Konflikthaftigkeit bestehen dürfte.

Korpus

Zur Untersuchung dieser Hypothesen verwenden wir 192 Prosatexte aus dem Realismus und 69 Prosatexte aus dem Naturalismus. Es sind fiktionale Texte unterschiedlicher Länge, die in einschlägiger Sekundärliteratur dem Realismus und Naturalismus des deutschen Sprachraums zugeordnet werden (Böttcher und Geerdts, 1983; Brenner, 2011, Killy, 2016). Die Texte wurden dem deutschsprachigen Prosakorpus d-Prose 1870-1920 (Gius et al., 2020) entnommen und um Texte ergänzt, deren Urheberrecht nach 2020 erloschen ist oder die vor 1870 veröffentlicht wurden. Es sind Erzähltexte aus sogenannter Trivial- und Hochliteratur mit einem Mindestumfang von 2.000 Wörtern. Sie liegen als Reintextdateien vor und sind mit Metadaten zu Autor:innenname, Autor:innengender, Titel, Publikationsjahr, Dateiname, Epoche und Textlänge in Wörtern angereichert.

Tab. 1: Korpusbeschreibung. Realismus Naturalismus Summe der Korpustexte 192 69 Durchschnittliche Textlänge in Wörtern längster Text kürzester Text Tokensumme manuell annotiertes Testset in Wörtern 39.116 169.510  2.773  7.510.306 8.805 33.470 159.161  2.713 2.309.440 10.358
Realismus Naturalismus
Summe der Korpustexte 192 69

Durchschnittliche Textlänge in Wörtern

längster Text

kürzester Text

Tokensumme

manuell annotiertes Testset in Wörtern

39.116

169.510 

2.773 

7.510.306

8.805

33.470

159.161 

2.713

2.309.440

10.358

Erkennung von Geräuschen und ihrer Lautstärke

Die systematische Untersuchung von Geräuschen und ihrer Lautstärke ist ein Ansatz aus dem literaturwissenschaftlichen Anwendungsbereich der sound studies, die sich mit den Analysemöglichkeiten von Geräuschen in literarischen Texten beschäftigen. In unserer Studie analysieren wir Geräusche der fiktionalen Welt in literarischen Texten systematisch hinsichtlich ihrer Beschreibungen in der Narration (vgl. Schafer, 1994; Picker, 2003; Snaith, 2020). Die Erkennung und Analyse von Umgebungs- und Figurengeräuschen einer fiktionalen Welt eröffnet dabei eine neue Perspektive auf scene setting und Figurencharakterisierung. In einem heuristischen Verfahren weisen wir den erkannten Geräuschen auch ein Lautstärkelevel zu, indem wir auf der Grundlage von ermittelten Dezibelwerten faktualer Geräusche Geräusche in der Fiktion in Relation zueinander setzen und in Lautstärke-Levels gruppieren (Guhr und Algee-Hewitt, 2023b).

Für die Operationalisierung von Umgebungsgeräuschen und ihrer Lautstärke verwenden wir die in Guhr und Algee-Hewitt (2023b) fürs Englische entwickelte Geräuschdefinition mit ihrer Unterscheidung zwischen expliziten und interpretationsbedürftigen impliziten Geräuschbeschreibungen sowie die Methoden zur manuellen und lexikonbasierten Annotation von Geräuschen und übertragen diese auf deutschsprachige Prosa. Zum Beispiel wird im Satz „Der Zug fährt ratternd in den Bahnhof ein“ das ratternde Geräusch des einfahrenden Zuges explizit auf der Wortebene des literarischen Textes angegeben, sodass das Geräusch einer lexikalischen Einheit – hier dem Adverb „ratternd“ – zugeordnet werden kann. In der Geräuschannotation wird dieses Wort als Annotationseinheit betrachtet und lexikonbasiert um die Angabe eines Lautstärkelevels (1-5) von leisen bis sehr lauten Geräuschen erweitert.

Als ersten Schritt in Richtung einer Automatisierung der Geräuschannotation verwendeten wir einen lexikonbasierten Ansatz, in dem tokenisierte und lemmatisierte Korpustexte mit einem deutschsprachigen Geräuschwortlexikon abgeglichen wurden. Die Lexikoneinträge sind Schlüssel-Wertpaare von Geräuschwörtern, die einem nach Sachgruppen sortierten Wörterbuch (Dornseiff und Wiegand, 2004) entnommen (u. a. die Sachgruppen: „Geräusch“, „lautlos“, „Stimme“) und hinsichtlich der Dezibel-Heuristik mit Lautstärkelevels ausgezeichnet wurden (Geräuschlexikon = {Lemma : Geräuschlautstärkelevel}). Mithilfe eines String-Matching-Algorithmus und Lexikonabgleichs werden die Korpustexte automatisiert mit dem Tag „sound“ sowie einem Lautstärkelevel annotiert. Anschließend wird pro Korpustext und auch pro Korpus (Realismus- und Naturalismuskorpus) ein durchschnittlicher Lautstärkewert berechnet, der die annotierten Lautstärkelevels in Relation zur Anzahl der Geräuschwörter und der absoluten Anzahl an Wörtern pro Text abbildet.

Für die Evaluation wurden die Annotationen aus dem Lexikonansatz mit manuell erstellten Annotationen verglichen. Dafür wurden die bewährten Evaluationsmetriken accuracy, precision, recall und F1-score angewendet (s. Tab. 2). Die niedrigen Evaluationswerte deuten auf die Komplexität der Geräuschannotationsaufgabe hin. Außerdem ist zu vermuten, dass ein lexikonbasierter Ansatz ohne Einbezug des Kontexts die soundscapes der Fiktion nur bedingt erfassen kann. Für unser weiteres Vorgehen können diese Annotationen dennoch als Grundlage verwendet werden, weil die Geräuschwörter Hinweise auf in der Fiktion realisierte oder behandelte Geräusche geben. Im weiteren Vorgehen werden die Annotationstreffer des Lexikonansatzes manuell überprüft und um die false positives bereinigt, um so die precision der Ergebnisse zu steigern.

Tab. 2: Evaluation des Lexikonansatzes. accuracy : precision : recall : F1-score: 0.987 0.2 0.28 0.23

accuracy :

precision :

recall :

F1-score:

0.987

0.2

0.28

0.23

Messung von Konflikt

Die Analyse von Konflikthaftigkeit basiert auf der Anwendung und Adaption der im Projekt SentiArt entwickelten Sentimentanalyse (vgl. u. a. Jacobs, 2019). Dabei werden Sentimentwerte eines Wortes anhand eines Word Embedding-Modells berechnet, einem Verfahren der quantitativen Semantik, bei dem die Wortbedeutung mittels eines Ähnlichkeitsmaßes vergleichbar wird. Aus der Emotionsforschung entnommene Schlüsselwörter repräsentieren hierbei Pole für Sentimentdimensionen (z. B. ‚Angst‘ für den negativen Pol der emotionalen Valenz). Die anhand der Kosinusähnlichkeit gemessene Position eines Wortes zwischen diesen Polen entspricht dann einem bestimmten Sentimentwert. Dieser Ansatz der Sentimentanalyse wird hier adaptiert durch die Ersetzung der Sentiment-Schlüsselwörter durch Konflikt-Schlüsselwörter. Zur Bestimmung dieser Schlüsselwörter wurde aus einem nach Sachgruppen sortierten Wörterbuch (Dornseiff und Wiegand, 2004) eine Auswahl an Wörtern jeweils zu den Sachgruppen ‚Konflikt‘ und ‚Harmonie‘ entnommen, um so gegensätzliche Pole zu bilden. Der positive Pol entspricht also dem Konzept ‚Konflikt‘, Schlüsselwörter dafür sind z.B. ‚töten‘, ‚Unglück‘ und ‚Gefahr‘. Der negative Pol entspricht folgerichtig dem Konzept ‚Harmonie‘, repräsentiert z.B. durch die Schlüsselwörter ‚Glück‘, ‚leicht‘, ‚Lust‘ (für eine vollständige Übersicht der Schlüsselwörter s. Häußler und Gius, 2023a).

Diese Methodik wurde bisher genutzt, um Sentiment- und Konfliktwerte in Romantik-, Realismus-, und Naturalismus-Korpora zu erheben, mit dem Ziel konflikthafte Textstellen zu ermitteln und die Korpora im Hinblick auf ihre Konflikthaftigkeit zu betrachten. Darüber hinaus wurden Sentimentwerte erhoben, in der Erwartung, dass Sentiment ein Signal für Konflikt sein kann (vgl. Häußler und Gius, 2023a und b).

Für unseren Anwendungsfall wurden für das Realismus- und Naturalismuskorpus je ein Word2Vec-Modell erstellt und für jedes Wort ein Konfliktwert berechnet. Dabei wurde für jedes Wort die Kosinusähnlichkeit zu jedem der Schlüsselwörter berechnet und die durchschnittliche Ähnlichkeit zu den negativen Schlüsselwörtern von der zu den positiven Schlüsselwörtern subtrahiert. Mit den resultierenden Datensätzen aus den Wörtern und den dazugehörigen Konfliktwerten eines Textes können nun u. a. Verläufe der Werte innerhalb eines Textes betrachtet werden, etwa um Passagen mit extremen Werten auszumachen. Damit können wir nun auch das Auftreten von Geräuschwörtern in diesen Passagen betrachten, um zu ermitteln, ob es bei diesen Passagen auch zu einer Häufung von lauten Geräuschwörtern kommt (positive Korrelation von Lautstärke und Konflikt) oder ob konflikthafte Passagen auch ohne hohe Lautstärke auskommen (negative Korrelation). Des Weiteren können die Texte im Vergleich danach sortiert werden, wie stark sie welchen Wertebereich am ehesten vertreten (hier durch die Berechnung des durchschnittlichen Konfliktwertes eines Textes). Damit können Konflikt- und Lautstärkewerte auch auf Korpusebene verglichen werden.

Lautstärke und Konflikt im Vergleich

Um unsere Hypothesen zu überprüfen, dass (1) der Naturalismus durchschnittlich lauter und konflikthafter als der Realismus ist, und, dass (2) Konflikte im Naturalismus eher in laute bzw. im Realismus in leise soundscapes eingebettet sind, bringen wir im nächsten Schritt die beiden Verfahren zur Analyse von Konflikthaftigkeit und von Geräuschen inklusive Lautstärke zusammen. Dazu verglichen wir zunächst die Lautstärkewerte in den beiden Korpora, wobei wir das Realismus- und Naturalismuskorpus jeweils in lange und kurze Texte aufgeteilt betrachteten, um einen ggf. vorhandenen Textlängenbias abzuschwächen.

Mit Blick auf die dadurch erhaltenen Ergebnisse zeigt sich im Vergleich der Lautstärkewerte in den beiden Subkorpora zunächst keine auffälliger Unterschied zwischen Realismus und Naturalismus (vgl. Abb. 1). Betrachtet man jedoch die durchschnittlichen Konfliktwerte der einzelnen Texte, so fallen die Texte aus dem Naturalismus als konflikthafter auf (vgl. Abb. 2).

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Abb. 1: Durchschnittlicher Lautstärkewert für alle kurzen (≤ 100.000 Wörter) und langen (>100.000 Wörter) Texte.
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Abb. 2: Durchschnittlicher Konfliktwert für alle kurzen (≤ 100.000 Wörter) und langen (>100.000 Wörter) Texte.

In der Betrachtung der einzelnen Texte hinsichtlich ihrer Durchschnittswerte zeigt sich bei den lautesten bzw. leisesten Texte eine Gruppierung nach Autor:innen. So sind die drei durchschnittlich lautesten Texte des gesamten Korpus Texte der Naturalistin Clara Viebig (vgl. Tab. 4) und die drei konflikthaftesten Texte vom Naturalisten Ludwig Thoma. Der Realist Theodor Fontane fällt zudem als wenig „konflikthafter“ Autor auf (vg. Tab. 4).

Tab. 3: Fünf lauteste Texte und leiseste Texte im Gesamtkorpus mit durchschnittlichem Lautstärkewert und Epochenkontext in Klammern. Rang Lauteste Texte Leiseste Texte 1 Viebig: Die Cigarrenarbeiterin (5.75, Nat.) von Saar: Außer Dienst (0.96, Real.) 2 Viebig: Der Osterquell (5.59, Nat.) Thoma: Onkel Peppi. Anfänge (1,33, Nat.) 3 Viebig: Am Totenmaar (5.02, Nat.) Fontane: Meine Kinderjahre (1.38, Real.) 4 Riehl: Musiker-Geschichten. Demophoon von Vogel (4.94, Real.) von Polenz: Luginsland (1.39, Nat.) 5 Viebig: Die Schuldige (4.78, Nat.) von Saar: Die Pfündner (1.54, Real.)
Rang Lauteste Texte Leiseste Texte
1 Viebig: Die Cigarrenarbeiterin (5.75, Nat.) von Saar: Außer Dienst (0.96, Real.)
2 Viebig: Der Osterquell (5.59, Nat.) Thoma: Onkel Peppi. Anfänge (1,33, Nat.)
3 Viebig: Am Totenmaar (5.02, Nat.) Fontane: Meine Kinderjahre (1.38, Real.)
4 Riehl: Musiker-Geschichten. Demophoon von Vogel (4.94, Real.) von Polenz: Luginsland (1.39, Nat.)
5 Viebig: Die Schuldige (4.78, Nat.) von Saar: Die Pfündner (1.54, Real.)
Tab. 4: Fünf konflikthafteste und am wenigsten konflikthafte Texte im Gesamtkorpus, durchschnittlicher Konfliktwert und Epochenzuweisung in Klammern. Rang Konflikthafteste Texte Am wenigsten konflikthafte Texte 1 Thoma: Nachbarsleute. Das alte Recht (0.040, Nat.) von Saar: Der Hellene (0.009, Real.) 2 Thoma: Andreas Voest (0.039, Nat.) Fontane: Mathilde Möhring (0.009, Real.) 3 Thoma: Die Fahnenweihe (0.036, Nat.) Fontane: Die Poggenpuhls   (0.009, Real.) 4 von Suttner: Die Waffen nieder (0.035, Nat.) Fontane: Frau Jenny Treibel (0.010, Real.) 5 Sudermann: Der Katzensteg (0.034, Nat.) Fontane: Irrungen (0.010, Real.)
Rang Konflikthafteste Texte Am wenigsten konflikthafte Texte
1 Thoma: Nachbarsleute. Das alte Recht (0.040, Nat.) von Saar: Der Hellene (0.009, Real.)
2 Thoma: Andreas Voest (0.039, Nat.) Fontane: Mathilde Möhring (0.009, Real.)
3 Thoma: Die Fahnenweihe (0.036, Nat.) Fontane: Die Poggenpuhls   (0.009, Real.)
4 von Suttner: Die Waffen nieder (0.035, Nat.) Fontane: Frau Jenny Treibel (0.010, Real.)
5 Sudermann: Der Katzensteg (0.034, Nat.) Fontane: Irrungen (0.010, Real.)

Um die Korrelation von Lautstärke und Konflikt zu prüfen, betrachten wir als nächstes, welchen Texten sowohl extreme Lautstärke-, als auch extreme Konfliktwerte zugewiesen wurden. Wir definieren hier als extrem die obersten bzw. untersten 10% in der Rangordnung der lautesten bzw. konflikthaftesten Texte und heben jene Texte hervor, die in überschneidenden extremen Gruppen auftreten (vgl. Tab. 5). Zwar bestätigen die Ergebnisse die Vermutung, dass die eher konflikthaften auch die eher lauten Texte sind (Thoma) und, dass die eher weniger konflikthaften auch die eher leisen Texte sind (Fontane), doch zeigt sich für den Naturalisten Thoma, dass auch eine starke negative Korrelation (hohe Konflikthaftigkeit, geringe Lautstärke) im Naturalismus vertreten ist.

Tab. 5.: Texte der Extremgruppen (alphabetische Sortierung innerhalb der Gruppen) laute und konfliktarme Texte Riehl: Musiker-Geschichten. Demophoon von Vogel (Real.) Riehl: Musiker-Geschichten. Gradus ad Parnassum (Real.) laute und konflikthafte Texte Thoma: Der vornehme Knabe (Nat.) Thoma: Franz und Cora (Nat.) Thoma: Nachbarsleute. Bismarck (Nat.) Viebig: Das Weiberdorf (Nat.) leise und konfliktarme Texte Fontane: Die Poggenpuhls (Real.) Fontane: Effi Briest (Real.) Fontane: Irrungen, Wirrungen (Real.) Fontane: Mathilde Möhring (Real.) Fontane: Meine Kinderjahre (Real.) Raabe: Kloster Lugau (Real.) von Saar: Die Parzen (Real.) leise und konflikthafte Thoma: Onkel Peppi. Die Eigentumsfanatiker (Nat.) von Polenz: Luginsland. Das Glück der Riegels von Petersgrün (Nat.) von Polenz: Luginsland. Ein wilder Schoessling (Nat.)

laute und konfliktarme Texte

  • Riehl: Musiker-Geschichten. Demophoon von Vogel (Real.)
  • Riehl: Musiker-Geschichten. Gradus ad Parnassum (Real.)

laute und konflikthafte Texte

  • Thoma: Der vornehme Knabe (Nat.)
  • Thoma: Franz und Cora (Nat.)
  • Thoma: Nachbarsleute. Bismarck (Nat.)
  • Viebig: Das Weiberdorf (Nat.)

leise und konfliktarme Texte

  • Fontane: Die Poggenpuhls (Real.)
  • Fontane: Effi Briest (Real.)
  • Fontane: Irrungen, Wirrungen (Real.)
  • Fontane: Mathilde Möhring (Real.)
  • Fontane: Meine Kinderjahre (Real.)
  • Raabe: Kloster Lugau (Real.)
  • von Saar: Die Parzen (Real.)

leise und konflikthafte

  • Thoma: Onkel Peppi. Die Eigentumsfanatiker (Nat.)
  • von Polenz: Luginsland. Das Glück der Riegels von Petersgrün (Nat.)
  • von Polenz: Luginsland. Ein wilder Schoessling (Nat.)

Um Konflikt und Lautstärke sowie deren Korrelation auch qualitativ zu betrachten, analysieren wir im Folgenden den Text Der vornehme Knabe von Ludwig Thoma (vgl. Abb. 3). Die Kurzgeschichte handelt vom gemeinsamen Spiel zweier Knaben, wobei der Protagonist das Modellschiff des anderen Knaben auf einem Weiher zur Explosion bringt. Der Protagonist entkommt, während der andere Knabe vom Besitzer des Weihers (Rafenauer) verprügelt wird. Der Konflikt zwischen den Knaben wird nicht gelöst, sie gehen im Streit auseinander.

Hinsichtlich der Lautstärke- und Konfliktwerte fallen höhere Konfliktwerte und mehr Lautstärkewörter in der zweiten Hälfte des Textes auf. Zwar entspricht die Eskalation von verbaler zu physischer Gewalt dem Höhepunkt der Konfliktwerte, doch treten z.B. Beleidigungen auch mit unterschiedlicher Konflikthaftigkeit auf. Eine Eskalation des Konfliktes korreliert hier mit einer Häufung der Lautstärkewörter, doch sind die Lautstärkewörter mit dem höchsten Wert nicht gleichbedeutend mit dem Höhepunkt der Eskalation. Die Knaben sprechen vor der eigentlichen Explosion darüber, ob Modellschiffe auch Munition verschießen können (‚schießt‘, ‚schießen‘ bzw. ‚knallen‘). Arthur fragt z.B. den Protagonisten, ob der Verschuss der Munition „recht knallen wird“. Die Eskalation kündigt sich dann mit der Erwartung der Explosion an (‚knallt‘). Die Explosion selbst wird mit Worten beschrieben, die nicht den Lautstärkewert 5 besitzen bzw. nicht im Geräuschwortlexikon enthalten sind. Erst in den Momenten physischer Gewalt, den Ohrfeigen des Weiherbesitzers, knallt es wieder. Dieser unterstellt ihnen zudem, sein Haus sprengen zu wollen.

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Abb. 3: Konfliktwerte (Kosinusglättung, Fenstergröße 40) und Geräuschwörter+ Lautstärkewerte in Thomas Der vornehme Knabe.

Fazit und Ausblick

Durch unsere Untersuchungen konnten wir zeigen, dass mit diesem ersten Ansatz zur Analyse von Konflikthaftigkeit und Geräuschlautstärke in fiktionalen Texten bereits einige vergleichende Rückschlüsse auf Texte des Realismus und Naturalismus getroffen werden können. Wir konnten herausstellen, dass naturalistische Texte auffällig konflikthafter sind (vgl. Tab. 4), während sie sich hinsichtlich ihrer Lautstärke kaum von Texten des Realismus unterscheiden (vgl. Tab. 3).

Interessant ist, dass sich mit Blick auf die Texte mit den höchsten/niedrigsten durchschnittlichen Lautstärkewerten und den höchsten/niedrigsten Konfliktwerten Autor:innencluster herausstellen lassen. Dabei entspricht die Beobachtung der Hypothese 1), da die lautesten Texte (Viebig) und konflikthaftesten Texte (Thoma) dem Naturalismuskorpus zugehören, während die am wenigsten konflikthaften Texte realistisch sind (Fontane). Die Verschränkung von Lautstärke und Konflikthaftigkeit (vgl. Hypothese 2) scheint zwar einerseits zu bestätigen, dass die konflikthaften Texte von Thoma (Naturalismus) auch laut sind (positive Korrelation), doch trifft diese Beobachtung nicht auf alle Texte des Autoren (hier: Onkel Peppi. Die Eigentumsfanatiker) sowie die allgemeine Vermutung zu, da die auffällig konflikthaften und leisen Texte allesamt naturalistisch sind. Dadurch stellt sich für weiterführende Analysen einerseits die Frage, inwiefern Geräuschbeschreibungen und Konfliktdarstellung in literarischen Texten stilistische Unterschiede zwischen Autor:innen vorweisen und andererseits, ob und wie die Vermutung der positiven bzw. negativen Korrelation in Naturalismus bzw. Realismus auf Korpuseben untersucht werden kann.

Bei der Analyse des Beispieltextes ( Der vornehme Knabe) war auf den ersten Blick eine leichte positive Korrelation zwischen hoher Lautstärke und Konflikthaftigkeit ersichtlich. Bei der genauen Lektüre des Textes, zeigt sich, dass hier tatsächlich ein Konflikt in einer lauten soundscape eingebettet ist (wie für den Naturalismus erwartet wurde).


Bibliographie

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