Ansätze und Tools für Historische Text Reuse Detection Fragmentierter Text Reuse am Beispiel ripuarischer Inkunabeln des 15. Jahrhunderts

Ostrowski, Alina
https://zenodo.org/records/10698332
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Text Reuse Detection (TRD) ist ein Teilgebiet des Natural Language Processing (NLP) mit dem Ziel, wiederverwendete Passagen (Text Reuse, TR) in distinkten Texten zu identifizieren. Seit etwa zehn Jahren wird TRD vermehrt für historische Forschung erprobt und eingesetzt, wobei typische Charakteristika historischer Sprachdaten (z.B. geringe sprachliche Standardisierung, fehlende digitale Ressourcen) die Durchführung erschweren. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über Ansätze und Tools zur Historischen TRD (HTRD). Anhand eines konkreten Forschungsvorhabens wird die Anwendbarkeit dreier HTRD-Tools ( Passim, BLAST und TextPAIR) auf kurzen TR in mittelalterlichen, volkssprachigen Texten diskutiert.

Oft zitiert ist Tracer (Büchler, 2013; vgl. Hiltmann et al., 2021), eine Software-Suite, die für einzelne TRD-Schritte unterschiedliche Algorithmen zur Verfügung stellt und mit Fingerprinting arbeitet.1  Passim (Smith et al., 2015) und TextPAIR (Gladstone, 2018) finden Dokumente mit TR auf Basis der Überlappung ihrer Zeichen- bzw. Wort-n-Gramme. Die Dokumentenpaare werden anschließend zwecks Eingrenzung der korrespondierenden Passagen aligniert. Auch das R-Paket textreuse (Mullen, 2020) folgt diesem Schema, jedoch werden zur Berechnung der Dokument-Ähnlichkeit Min-Hashes und der Jaccard-Koeffizient zweier Texte benutzt. Einen sprachagnostischen Ansatz wählten Vesanto et al. (2017) und „codierten“ die natürlichsprachlichen Texte als Aminosäuren, die sie dann mit dem aus der Bioinformatik stammenden BLAST (Basic Local Alignment Search Tool) auf ähnliche Sequenzen hin untersuchten. Tesserae wurde speziell für die Erforschung von Allusionen in lateinischer Lyrik entwickelt (Coffee et al., 2013) und verwendet besonders weiche Ähnlichkeitskriterien sowie eine Scoring-Funktion zur nachträglichen Ergebnisfilterung. HTRD mit stochastischen Sprachmodellen wurde bisher seltener versucht (vgl. Liebl/Burghardt, 2022).

Die meisten HTRD-Methoden wurden für große Textmengen in klassischen und neuzeitlichen Sprachen mit moderater orthographischer Varianz entwickelt (z.B. Smith et al., 2015; Gladstone/Cooney, 2020), in denen oft längerer TR (>1 Satz) vorlag. Für viele historische Anwendungsfälle sind diese Prämissen jedoch nicht gegeben. Die Eignung der vorhandenen Ansätze für abweichende Szenarien soll darum am Beispiel zweier ripuarischer Inkunabeln (≈500.000 Tokens) untersucht werden. Es handelt sich um Werke aus dem Kontext der Kölner Stadtgeschichtsschreibung, die nachweislich Parallelstellen enthalten (Anonym, 14902 ; Anonym, 14993 ; vgl. Meier, 1998, S. 78f.). Auf die Texte wurde mit Transkribus Handwritten Text Recognition (HTR) angewandt, die stellenweise eine erhöhte Fehlerrate aufweist. Zudem liegt ein hoher Grad an intra- und intertextueller orthographischer Varianz vor. Die bereits bekannten Fälle von TR im Textkorpus legen nahe, dass dieser eher fragmentiert, d.h. kurz, nicht-wörtlich und teils in Syntax, Reihenfolge oder verwendeten Lexemen abgeändert ist, was die Anwendung von TRD allgemein erschwert (vgl. Moritz et al., 2016). Hinzukommt, dass für die ripuarische Sprache keine NLP-Ressourcen, wie trainierte Lemmatisierer oder annotierte Korpora4  vorliegen.

Erste Tests zeigten, dass insbesondere die sprachliche Varianz der Texte sowie die Kürze des TR Probleme für die HTRD darstellen: TextPAIR und BLAST fanden mit Standardeinstellungen zwar zahlreiche, aber überwiegend triviale, Passim gar keine textuellen Ähnlichkeiten. Im Folgenden werden in stark verkürzter Form die Durchführung und die Ergebnisse eines systematischen Vergleichs der drei Programme vorgestellt.

Zunächst wurden für ein Evaluationsset5  19 wörtliche bis schwach-wörtliche TR-Fälle in einem Auszug aus dem Untersuchungskorpus manuell annotiert. Außerdem wurden zwei naive Maßnahmen zur sprachlichen Vereinheitlichung umgesetzt: Erstens, regelbasierte Orthographie-Normalisierung und zweitens, „Pseudo-Lemmatisierung” durch das Clustern von Wörtern mit einem hohen Alignment-Wert bei Verwendung des Needleman-Wunsch-Algorithmus. Mit jeder Kombination dieser Präprozessierungsarten wurde ein Evaluationsset aus den annotierten Textteilen erstellt, die wiederum die Eingabedaten für Testdurchläufe jedes HTRD-Programms mit diversen Kombinationen aus Parameterwerten bildeten. Für diese wurde anschließend der F1-Score anhand eines Abgleichs zwischen den Ergebnistreffern und den 19 TR-Fällen berechnet.

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Passim erreichte die besten Evaluationswerte, gefolgt vom ebenfalls mit Zeichen-n-Grammen arbeitenden BLAST (Tab. 1)6 . Für TextPAIR und Passim stellte sich die Anwendung der Pseudo-Lemmatisierung als erfolgreich heraus, wohingegen das sprachagnostische BLAST mit nicht-vorverarbeiteten Texten erfolgreicher war. Insgesamt ist der F1-Score aller Programme trotz optimierter Parameterwerte niedrig (<0,5) und die Precision bei erhöhtem Recall sehr gering (Tab. 2). In Gesamtdurchläufen mit diesen optimierten Parameterwerten wurden im Korpus zwar zuvor unbekannte Parallelstellen gefunden, doch wegen der Kürze der n-Gramme waren über 70% aller Ergebnisse triviale Ähnlichkeiten (Namen, Mehrwort-Ausdrücke, Phrasen).

Es lässt sich festhalten, dass die getesteten, auf n-Gramm-Vergleichen basierenden HTRD-Ansätze zwar in der Lage sind, Parallelstellen in ripuarischen Texten zu erkennen, und somit einen Mehrwert für die Textanalyse bieten, doch dass für die zuverlässige Erkennung von komplexem TR in vormodernen, deutschsprachigen Texten weitere Forschung nötig ist oder gänzlich andere Ansätze verwendet werden müssen.


Fußnoten

1 Tracer war trotz angemessener Versuche nicht (mehr) zugänglich.
2 Veröffentlichung in Vorbereitung.
3 Volltext bereitgestellt vom Projekt „Koelhoffsche Chronik 1499 digital“ (https://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/LG-G/Forschen/koelhoffschechronik.html; Bruch, 2023).
4 Sprachlich entfernt verwandt aber mit geringer Type-Überlappung: ReN-Team, 2021.
5 Veröffentlichung in Vorbereitung.
6 Die n-Gramm-Länge steht stellvertretend für zahlreiche untersuchte Programm-Parameter. 30% aller TextPAIR-Durchläufe konnte wegen eines internen Programmfehlers nicht berücksichtigt werden.

Bibliographie

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