Der Modelle Tugend 3.0 – Digitale 3D-Rekonstruktion als Forschungsraum und Transfermedium
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Die objektorientierte historische Forschung profitiert von den Entwicklungen in den Digital Humanities. Die Verwendung digitaler 3D-Modelle hat sich etabliert und traditionellen Darstellungsformen in den Forschungskontexten, wie analogen Modellen und zweidimensionalen Abbildungen und Texten, nicht nur ergänzt, sondern einen neuen Forschungs- und Vermittlungsraum geöffnet (Münster, 2022). Seit den frühen 1980er Jahren sind quellenbasierte, hypothetische 3D-Rekonstruktionen zunehmend zu Forschungsinstrumenten und unverzichtbaren Darstellungsmitteln geworden. Sie bieten neue Untersuchungsmethoden und ermöglichen neue Erkenntnisse für die objektbezogene Forschung (Messemer, 2020).
Die Forschungsergebnisse und die in diesem Zusammenhang stehenden digitalen 3D-Modelle sind jedoch aufgrund der unterschiedlichen Arbeits- und Modellierungsmethoden sowie vielfältiger Softwarelösungen oft nicht über das einzelne Projekt hinaus anwendbar bzw. wiederverwendbar. Darüber hinaus wird ein 3D-Modell in vielen (den meisten) Fällen nicht als wissenschaftliches Erkenntnisinstrument, sondern als reines Visualisierungswerkzeug gesehen, welches Ergebnisse in Form von Bildern veranschaulicht. Hinzu kommen die Zurückhaltung bei der Weitergabe der digitalen 3D-Modelle an sich und fehlende Standards in der Dokumentation und Veröffentlichung der 3D-Datensätze (Kuroczyński, 2018). Im Resultat werden Forschungsobjekte immer wieder aufs Neue virtuell rekonstruiert, ohne sich dabei auf vorausgegangene Projekte und früher erstellte 3D-Modelle beziehen zu können.
In diesem Zusammenhang sind in den letzten Jahren zahlreiche Initiativen und Forschungsprojekte entstanden, deren gemeinsames Ziel es ist, die verschiedenen von der Fachcommunity festgestellten Herausforderungen und Desiderate zu systematisieren und zu rationalisieren. Das war auch der Impuls für die Gründung der Arbeitsgruppe Digitale 3D-Rekonstruktion, die sich zum ersten Mal im Rahmen der 1. Jahrestagung der Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (25.-28.02.2014, Universität Passau) traf. Das Panel Pecha Kucha – Virtuelle Rekonstruktion versammelte 2014 Kolleginnen und Kollegen, die sich dem Thema aus dem Blickwinkel der Architektur, Archäologie, Bau- und Kunstgeschichte sowie Computergraphik und Informatik verschrieben haben. Die Gründungsmitglieder der Arbeitsgruppe nutzten die Gelegenheit in Passau, um eine Plattform für einen engeren Austausch und eine feste Etablierung der digitalen 3D-Rekonstruktion des Kulturerbes innerhalb der Digital Humanities einzurichten. Vorrangiges Ziel der Arbeitsgruppe war es, die Akteure im deutschsprachigen Raum zusammenzubringen, um sich den Fragen der Begriffsklärung und der Arbeitsmethodik sowie der Dokumentation, der Publikation und der Langzeitarchivierung von digitalen 3D-Rekonstruktionsmodellen zu widmen.
Die Arbeitsgruppe möchte die diesjährige Tagung zum Anlass nehmen, zehn Jahre ihres Wirkens und der Entwicklung der digitalen 3D-Rekonstruktion in der objektorientierten Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch zu beleuchten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Panels gehören zu den Gründungsmitgliedern der Arbeitsgruppe und stehen epistemologisch für unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe mittels digitalen 3D-Modellen innerhalb der Digital Humanities. Ganz dem diesjährigen Motto der Tagung in Passau verpflichtet, möchte das Panel die Frage nach den bisher zurückgelegten und für die Zukunft erkennbaren Wegen aufstellen. Dabei soll sowohl das Erreichte, als auch der heutige Stand und der Ausblick in kurzen Impulsvorträgen zur Diskussion und Reflexion anregen.
Ein wichtiges Ergebnis der erfolgreichen Zusammenarbeit der international vernetzten Arbeitsgruppe stellt die Veröffentlichung des Handbuchs zur digitalen 3D-Rekonstruktion historischer Architektur dar, welches aus dem DFG-Netzwerk Digitale 3D-Rekonstruktionen als Werkzeuge der architekturgeschichtlichen Forschung hervorgegangen ist (Münster et al., 2024). Aus der Arbeitsgruppe heraus konnten darüber hinaus zwei Infrastrukturprojekte auf dem Weg gebracht werden, die ebenfalls von der DFG gefördert und vorgestellt werden sollen. IDOVIR zur webbasierten Dokumentation des Rekonstruktionsprozesses (https://idovir.com/) und DFG 3D-Viewer zur nachhaltigen Publikation der 3D-Datensätze im Web (https://dfg-viewer.de/dfg-3d-viewer). Hinzu kommt die erfolgreiche Einrichtung einer begutachteten Buchreihe Computing in Art und Architecture bei arthistoricum.net in Kooperation mit dem Schwester-Arbeitskreis Digitale Kunstgeschichte (Kuroczyński et al., 2018 und 2019), deren inhaltliche Auseinandersetzung mit der digitalen 3D-Rekonstruktion im Panel aufgenommen wird. Die einzelnen aufeinander abgestimmten Beiträge möchten die wesentlichen Aspekte, Potenziale und Herausforderungen in einen breiteren Zusammenhang bringen und beleuchten.
Das erste Statement von Piotr Kuroczyński stellt die Entwicklung und Bewertung einer anwendbaren Methodik für die hypothetische historische 3D-Rekonstruktion auf der Grundlage eines gemeinsamen theoretischen Ansatzes vor. Im Fokus des Impulses steht die Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner und dem Mehrwert einer Standardisierung für die Nachhaltigkeit und Wiederverwendbarkeit der Arbeitsergebnisse einer 3D-Rekonstruktion (Kuroczyński et al., 2023). Zur Sprache kommt dabei die Heterogenität hinsichtlich der Anforderungen an eine 3D-Rekonstruktion, die Vielfältigkeit der Datenformate und der Modellierungsmethoden sowie die Praxis bei der Dokumentation und Veröffentlichung der Forschungsdaten.
Mögliche zur Diskussion und Reflexion gestellte Fragen: Inwieweit ist eine Standardisierung und Normierung einer digitale 3D-Rekonstruktion vorstellbar und umsetzbar, um als wissenschaftliche Forschungsmethode anerkannt zu werden? Wer ist die Community und worauf kann (muss) sie sich einigen, um Praxisregeln einer guten Forschung gerecht zu werden?
Das zweite Statement von Sander Münster nimmt die Frage nach der Methodik, der Dokumentation und Veröffentlichung auf und beleuchtet diese unter den derzeitigen Entwicklungen im Bereich von Computer Vision und der künstlichen Intelligenz. Dabei werden Bezüge zu den Forschungsprojekten auf nationaler und europäischer Ebene hergestellt. Hier wird u.a. die (semi-)automatische 3D-Rekonstruktion von ganzen Städten unter zu Hilfenahme von den digitalisierten, georeferenzierten Quellen in den Landes- und Universitätsbibliotheken und Archiven vorgestellt.
Mögliche zur Diskussion und Reflexion gestellte Fragen: Lassen sich 3D-Rekonstruktionen automatisiert erstellen und wo liegen episthemische, methodische und technologische Grenzen? Welche Trends und Perspektiven ergeben sich dafür auf europäischer Ebene?
Das dritte Statement von Ina Blümel nähert sich dem Thema aus der Perspektive von Open Science, Open GLAM und digitalen Forschungsinfrastrukturen, unter anderem der NFDI. Dabei wird der Blick auf die Erstellung und kontinuierliche Anreicherung des digitalen Kulturerbes mit den Anforderungen von Forschenden, GLAM-Expertinnen und -Experten und verschiedenen anderen Zielgruppen gelenkt. Von Bedeutung ist dabei auch die Darstellung der Kooperation zwischen den Produzierenden und Nutzenden von digitalen 3D-Materialien und die daraus abgeleiteten Anforderungen für nachhaltige Dienste.
Mögliche zur Diskussion und Reflexion gestellte Fragen: Wie lassen sich Werkzeuge für die digitale 3D-Rekonstruktion in enger Abstimmung mit Forschenden und ihren Bedarfen (weiter-)entwickeln? Wie bedingen sich Community-Building und FOSS Softwareentwicklung? Welche Trends und Perspektiven ergeben sich auf nationaler Ebene (NFDI) und darüber hinaus?
Das vierte Statement von Stephan Hoppe eröffnet die Perspektive des tatsächlichen Einsatzes der 3D-Rekonstruktion in der kunsthistorischen Forschung und Lehre. Dabei wird ausgehend von abgeschlossenen und laufenden Forschungsprojekten in der Kunstgeschichte der Mehrwert und die wissenschaftliche Relevanz von 3D-Modellen hinterfragt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Visualisierung und Simulation von historischen Zuständen verlorengegangener Kunst- und Architekturdenkmäler. Die Frage nach der Teilhabe, (Wieder-)Verwendbarkeit und (eigener) Steuerung der 3D-Rekonstruktion seitens der Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker steht hier im Mittelpunkt.
Mögliche zur Diskussion und Reflexion gestellte Fragen: Wird die wissenschaftliche 3D-Rekonstruktion von der Kunstwissenschaft angenommen? Welche Publikationskanäle spielen hier eine Rolle? Gibt es disziplinäre Differenzmarker im Einsatz virtueller Rekonstruktionsmodelle, beispielsweise in Hinblick auf die Nachbarwissenschaft Archäologie? Wie wird die Wissenschaftskommunikation dadurch unterstützt?
Das fünfte Statement von Marc Grellert zeigt zum einen die Perspektive des breiten Einsatzes in der Vermittlung vom kulturellen Erbe in Museen und Dokumentationsfilmen. Damit einhergehend werden die Potenziale und Herausforderungen am Beispiel vergangener und laufender Projekte näher betrachtet. Zum anderen wird die Frage nach der Dokumentation der Entscheidungsprozesse bei digitalen 3D-Rekonstruktionen beleuchtet und der Umgang mit Unsicherheiten thematisiert. Gelingt es nicht das Wissen, das in den Rekonstruktionen eingebettet ist, nachhaltig zu sichern droht dessen Verlust und ohne öffentlich zugängliche Nachvollziebarkeit fehlt ein Pfeiler guter wissenschaftlicher Praxis.
Mögliche zur Diskussion und Reflexion gestellte Fragen: Wie umgehen mit dem Spannungsfeld von immer realistisch werdenden Rekonstruktionen bei gleichbleibender heterogener Wissensbasis? Welche ästhetischen Darstellungsformen existieren im Kontext der Abkehr von Eindeutigkeiten und Unsicherheiten? Wie kann es gelingen, die Dokumentation von Entscheidungsprozessen weiter zu etablieren? Welche Darlegungsformen der Plausibilität sind hilfreich?
Bibliographie
- Kuroczyński, Piotr. 2018. “Neuer Forschungsraum für die Kunstgeschichte: Virtuelle Forschungsumgebungen für digitale 3D-Rekonstruktionen.“ In Kuroczyński, P., Bell, P. und Dieckmann, L. (Hg.): Computing Art Reader: Einführung in die digitale Kunstgeschichte, Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books, S. 160–181. https://doi.org/10.11588/arthistoricum.413.c5821
- Kuroczyński, Piotr, Peter Bell und Lisa Dieckmann (Hg.). 2018. “Computing Art Reader: Einführung in die digitale Kunstgeschichte.“ In Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books (Computing in Art and Architecture, Band 1). https://doi.org/10.11588/arthistoricum.413
- Kuroczyński, Piotr, Mieke Pfarr-Harfst und Sander Münster (Hg.). 2019. “Der Modelle Tugend 2.0: Digitale 3D-Rekonstruktion als virtueller Raum der architekturhistorischen Forschung.“ In Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books (Computing in Art and Architecture, Band 2). https://doi.org/10.11588/arthistoricum.515
- Kuroczyński, Piotr, Fabrizio Ivan Apollonio, Igor Piotr Bajena und Irene Cazzaro. 2023. “Scientific Reference Model – Defining standards, methodology and implementation of serious 3d models in archaeology, art and architecture history.” In International Archives of the Photogrammetry, Remote Sensing and Spatial Information Sciences, Volume XLVIII-M 2 – 2023 29th CIPA Symposium “Documenting, Understanding, Preserving Cultural Heritage: Humanities and Digital Technologies for Shaping the Future”, 25 – 30 June 2023, Florence, Italy. https://doi.org/10.5194/isprs-archives-XLVIII-M-2-2023-895-2023
- Messemer, Heike. 2020. “Digitale 3D-Modelle historischer Architektur: Entwicklung, Potentiale und Analyse eines neuen Bildmediums aus kunsthistorischer Perspektive.“ In Heidelberg: arthistoricum.net-ART-Books, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.516
- Münster, Sander. 2022. “Digital 3D Technologies for Humanities Research and Education: An Overview.” In Appl. Sci. 2022, 12(5), 2426; https://doi.org/10.3390/app12052426
- Münster, Sander, Fabrizio Ivan Apollonio, Ina Bluemel, Federico Fallavollita, Riccardo Foschi, Marc Grellert, Marinos Ioannides, Peter Heinrich Jahn, Richard Kurdiovsky, Piotr Kuroczyński, Jan-Eric Lutteroth, Heike Messemer und Georg Schelbert. 2024. “Handbook of Digital 3D Reconstruction of Historical Architecture.” In Springer, Synthesis Lectures on Engineers, Technology, & Society 28. https://link.springer.com/book/9783031433627