Anno 2025. Das Annotationsspiel für große und kleine Forschende

Horstmann, Jan; Seltmann, Melanie
https://zenodo.org/records/14943188
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Annotation als zentrales Thema der Digital Humanities

Annotation als semantische Anreicherung von Untersuchungsgegenständen ist ein zentrales Thema der Digital Humanities (vgl. Nantke und Schluppkothen 2020; Rapp 2017). Häufig werden dabei implizit oder explizit definitorische Grenzen gezogen oder unterschiedliche Dimensionen des Annotationsbegriffs unterschieden. Jüngst erarbeiteten Horstmann und Seltmann (2024) in ihrem Glossarbeitrag „Annotation” vier grundlegende Dimensionen des Begriffs: Annotation im engsten, im engen, im weiten und im weitesten Sinne.

Während engster und enger Annotationsbegriff solche Annotationen bezeichnen, die als Teil des annotierten Untersuchungsgegenstands gemeinsam mit diesem präsentiert werden, beschreiben weiter und weitester Annotationsbegriff eigenständige Artefakte, die sich untereinander durch die Deutlichkeit des Bezugs zum Untersuchungsgegenstand unterscheiden. Im engsten Sinne explizieren Annotationen einzelne Aspekte von Untersuchungsgegenständen durch zeichenhafte Kodierung (Ergänzung). Im engen Sinne beziehen sich Annotationen auf einen Untersuchungsgegenstand als Ganzen und sind direkt mit diesem verknüpft (Metainformation). Im weiten Sinne sind Annotationen alle Formen von zeichenhaften Äußerungen, die als eigenständige Artefakte veröffentlicht und rezipiert werden können (Analyse). Im weitesten Sinne können alle Formen von direkten oder indirekten materiellen Referenzierungen als Annotationen aufgefasst werden (Bezugnahme). (Horstmann und Seltmann 2024, §1)

Didaktik und Wissenschaftskommunikation

Der Zentralität des Annotierens als geisteswissenschaftlicher Praktik entsprechend, fokussieren auch immer wieder Beiträge auf die didaktisch reflektierte Vermittlung der Methode Annotation. Häufig werden hierfür konkrete Tools herangezogen, um im Modus des learning by doing selbst Annotationen zu erzeugen. Im Portal forTEXT etwa liegen sowohl eine Lerneinheit für das Selbststudium, ein Modul für die Hochschullehre als auch ein Unterrichtsentwurf für die Schule vor, die dezidiert das Annotations-Tool CATMA zum Einsatz bringen (vgl. Horstmann 2019; Schumacher 2020; Flüh 2020). Im DARIAH-Kontext entstanden Tutorials1  zu digitalen Texteditionen, Textanalyse und Handschriftenkunde mit Abschnitten zur Annotation. In OER-Portalen wie twillo2  stehen Open Educational Resources (OER) zu Annotationen in verschiedenen Disziplinen zur Verfügung. Auch in Datenkompetenzzentren wie etwa QUADRIGA (Buchholz et al. 2024) entstehen OER zu Annotation, die als Teil von Data Literacy beherrscht werden sollte (Seltmann et al., eingereicht; zu Data Literacy Neuroth et al., eingereicht; Risdale et al. 2015; Spante et al. 2018).

Um die diversen Ansätze zur Vermittlung von Annotation im universitären Unterricht zu versammeln, haben die forTEXT-Hefte einen Call for Papers veröffentlicht: „Textannotation in der Hochschullehre“ (vgl. Gius 2024). Ein ähnliches Beispiel liegt mit Schnelle et al. (2022) für die Nutzung von Korpora im linguistischen Hochschulunterricht  vor. Disziplinenübergreifende didaktische Konzepte zur Vermittlung der theoretischen Grundlagen des Annotationsbegriffs und seiner Dimensionen liegen bislang nicht vor. Insbesondere der Bereich der spielerischen Vermittlung theoretischen Wissens scheint für die Geisteswissenschaften ein Desiderat darzustellen, auch wenn Spiele schon sehr lange in der Wissensvermittlung eingesetzt werden (Kamii und DeVries 1996). „Analogue games present an effective and immersive means by which to engender meaningful dialogue”, stellen auch Illingworth und Wake (2021, 16) fest. Studien zeigen, dass der Umgang mit physischen Objekten das kritische Denken und die analytischen Fähigkeiten fördern kann, da die taktile Erfahrung eine tiefere Verbindung mit dem untersuchten Material herstellt. Die sensorische Interaktion wird neben der gemeinsamen Spielerfahrung oft als wichtiger Faktor angeführt, da sie eine Handhabung und Erkundung ermöglicht, die mit digitalen Werkzeugen möglicherweise nicht vollständig nachgebildet werden kann (Varnalis-Weigle 2016; Wrobetz 2021). Physische Artefakte bieten oft eine bessere Unterstützung für das Lernen, da sie die Sinne ansprechen, eine emotionale Verbindung herstellen und gemeinschaftliche Prozesse erleichtern. Im Bereich der Digital Humanities können hierfür vor allem das „Dramenquartett“, das aus dem DraCor-Projekt entstanden ist und auf die Methode der Netzwerkanalyse fokussiert (Fischer et al. 2018; Horstmann et al. 2020), wie auch das Memory-Spiel zu Vossianischen Antonomasien von Jäschke und Fischer (2018) als vorbildlich gelten. Für die Naturwissenschaften existieren etliche Beispielen für wissen(schaft)svermittelnde Spiele.3 

Stachyra und Roughley (2023, 198) zeigen, dass Spiele Teil von sowohl externer als auch interner Wissenschaftskommunikation sein können. Wichtig ist, dass das Spiel verschiedene Charakteristika erfüllt, wie etwa Schaffbarkeit, klare Zielsetzung, schnelles Feedback, eigene Involviertheit sowie Kontrollierbarkeit der Handlungen (Stachyra und Roughley 2023, 176). Was hier für die Wissenschaftskommunikation gilt, ist für die Hochschullehre ebenso gültig. Spiele wurden als leistungsfähigstes Werkzeug für Anwendungen wie Training oder Bildung ausgemacht (Dhiman 2023, 2).

Spielbeschreibung

Um die theoriefundiert differenzierten Dimensionen des Annotationsbegriffs spielerisch unterscheiden zu lernen, stellt das Poster das Spiel Anno 2025 vor, das sowohl in der Hochschullehre als auch in wissenschaftspropädeutischen Schulkontexten Anwendung finden soll. Ziel ist ein in seiner Physikalität niedrigschwelliges didaktisches Spiel, bei dem man trainiert,

  • die vier Dimensionen von Annotation (vgl. Horstmann und Seltmann 2024) sicher unterscheiden zu können und
  • Beispiele sicher einer der vier Dimensionen von Annotation zuordnen zu können.

Das Spielprinzip basiert dabei auf dem allseits bekannten und daher niedrigschwellig spielbaren Memory-Spiel. Die Rückseite jeder Karte gibt jeweils eine der vier Annotationsdimension an, die Vorderseite zeigt ein visuelles Beispiel der jeweiligen Dimension. Jede Karte ist doppelt vorhanden. Das Spiel kann in zwei Leveln gespielt werden: Im ersten Level liegen die Karten verdeckt ausgebreitet auf einer Spielfläche. Die sichtbare Rückseite der Karten zeigt die jeweilige Annotations-Dimension (eins bis vier) an. Es wird im klassischen Memory-Modus, d.h. durch das Finden gleicher zunächst verdeckter Karten, gelernt, was das Besondere an Annotationen der verschiedenen Dimensionen ist und wodurch sie sich unterscheiden. Im zweiten Level werden die Annotationsdimensionen auf die Beispiele angewendet: Die Karten liegen als Stapel mit der Vorderseite sichtbar auf der Spielfläche und die Spielenden müssen diese den auf der (nicht sichtbaren) Rückseite angegebenen Annotationsdimensionen richtig zuordnen. In beiden Leveln ist eine Person so lange am Zug, bis sie einen Fehler macht. Diejenige Person, die am Ende die meisten Karten sammeln konnte, gewinnt. Eine genaue Anleitung der Spielregeln liegt dem Spiel bei und wird während der Postersession durch die Einreichenden mündlich erläutert.

Neben der physischen Version des Spiels wird die Druckvorlage unter offener Lizenz via Git-Repository zur Verfügung gestellt.4  Ebenso können kollaborativ Ergänzungen und Ideen für weitere Karten eingebracht werden.


Fußnoten

1 Vgl. https://de.dariah.eu/web/guest/tutorials (zugegriffen: 28. November 2024).
2 Vgl. https://www.twillo.de (zugegriffen: 28. November 2024).
3 Vgl. etwa Foldit ( https://fold.it/) oder Keep Cool ( https://www.climate-game.net/en/) (zugegriffen: 28. November 2024).
4 Vgl. https://github.com/janhorstmannn/anno2025 (zugegriffen: 28. November 2024).

Bibliographie

  • Buchholz, Bettina, Ulrike Lucke, Sonja Schimmler, Jan-Hendrik Bakels, Jan Bernoth, Frank Fischer, Lena Gieseke u. a. 2024. „Umsetzungskonzept QUADRIGA: Berlin-Brandenburgisches Datenkompetenzzentrum für Digital Humanities, Verwaltungswissenschaft, Informatik und Informationswissenschaft“. 10.5281/zenodo.10805016.
  • Dhiman, Dr Bharat. 2023. „Games as Tools for Social Change Communication: A Critical Review.“ Global Media Journal 21 (61): 1–4. https://www.globalmediajournal.com/ peer-reviewed/ games-as-tools-for-social-change-communication-a-critical-review-92446.html (zugegriffen: 19. Juni 2024).
  • Fischer, Frank, Christopher Kittel, Carsten Milling, Peer Trilcke und Jana Wolf. 2018. „Dramenquartett – Eine didaktische Intervention.“ In DHd 2018 Kritik der digitalen Vernunft. 5. Tagung des Verbands "Digital Humanities im deutschsprachigen Raum" (DHd 2018), Köln. 10.5281/zenodo.4622597.
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  • Horstmann, Jan. 2019. „Manuelle Annotation mit CATMA.“ forTEXT. Literatur digital erforschen. https://fortext.net/routinen/lerneinheiten/manuelle-annotation-mit-catma (zugegriffen: 19. Juni 2024).
  • Horstmann, Jan, Marie Flüh, Mareike Schumacher, Frank Fischer, Peer Trilcke und Jan Christoph Meister. 2020. „Netzwerkanalyse spielerisch vermitteln mit DraCor und forTEXT: Zur nicht-digitalen Dissemination einer digitalen Methode in Form des Kartenspiels "Dramenquartett".“ In DHd 2020 Spielräume: Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation. 7. Tagung des Verbands "Digital Humanities im deutschsprachigen Raum" (DHd 2020), Paderborn. 10.5281/zenodo.4621906.
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  • Wrobetz, Kevin. 2021. „Board Games Versus Smartphone Applications: Gaming Media in EFL Contexts.“ JALT Postconference Publication 2020 (1): 349–355. https://doi.org/10.37546/JALTPCP2020-43.