Editorische Datensilos öffnen – PROPYLÄEN: Goethes Biographica
https://zenodo.org/records/14943174
Projekt und Material
Das Projekt PROPYLÄEN: Goethes Biographica verfolgt das Ziel, eine digitale Forschungsplattform1 zu entwickeln, die Goethes Leben, Wirken und Werk sowohl der Wissenschaft als auch einer breiten Öffentlichkeit auf Basis der erschlossenen Quellenbestände von Goethes Biographica zugänglich macht.
Die Quellenbestände umfassen die – ab 1806 nahezu durchgängig geführten – Tagebücher, die etwa 15.000 überlieferten Briefe an mehr als 1.400 AdressatInnen (Briefe von Goethe) und mehr als 20.000 Briefe von etwa 3.800 AbsenderInnen (Briefe an Goethe) sowie Zeugnis-Aggregate, die Auskunft über den täglichen persönlichen Umgang und die Gespräche des Dichters geben (Begegnungen und Gespräche). Die Quellenkorpora werden bis 2039 laufend erschlossen und sukzessive auf der digitalen Plattform verfügbar gemacht.
Forschungsansatz
Eine Herausforderung bei der Entwicklung der Plattform besteht darin, die gattungsspezifisch erschlossenen und mithilfe von TEI/XML2 digital edierten Tagebücher, Briefe und sonstigen Quellen nicht nur nebeneinander in Form „editorischer Datensilos“ auf der Plattform zu publizieren, sondern die vorliegenden TEI-Daten zusätzlich gattungsübergreifend hinsichtlich biographischer Informationen zu verarbeiten und für eine integrierte Darstellung von Goethes Leben auf der Plattform zu nutzen.
Während eine gattungsübergreifende Verarbeitung der TEI-Dokumente zunächst eine Abstraktion von den Einzelzeugnissen und deren Quellengattung voraussetzt, sollen die biographischen Informationen dennoch auf ihre zugrundeliegenden Zeugnisse bezogen bleiben. Auf diese Weise soll nicht nur das Leben Goethes auf der Plattform abgebildet werden. Es soll auch die Bedeutung der einzelnen Zeugnisse und Quellengattungen für dessen Überlieferung deutlich werden.
Für ein Proof of Concept werden Zeiträume aus Goethes Leben ausgewählt, für die bereits mittels TEI ausgezeichnete Texte aus allen Quellenkorpora vorliegen. Das gegenständliche Poster wird im besten Fall den Stand der Arbeit an den TEI-Dokumenten zum Zeitpunkt der Präsentation abbilden.
Methode und Modellierung
Aufgrund der unterschiedlichen Quellengattungen liegen die elektronisch edierten Zeugnisse in unterschiedlichen TEI-Schemata vor. In einem ersten Schritt werden die TEI-Dokumente daher mittels gattungsspezifischer XSL-Transformationen3 nach der Logik einer – auf Basis von CIDOC-CRM4 entwickelten – gemeinsamen „biographischen“ Ontologie automatisiert in RDF-Daten5 überführt. In einem zweiten Schritt kann die entstandene RDF-Datenressource mittels SPARQL6 und JavaScript7 hinsichtlich bestimmter Forschungsfragen zu Goethes Leben und dessen Überlieferung abgefragt und in einem web-basierten Graphical User Interface visualisiert werden.8
Die CIDOC-CRM basierte Ontologie wurde so entwickelt, dass jeder Tag in Goethes Leben als eigenständige Entität abgebildet wird. Auf diese Weise wird das gesamte Leben des Dichters als chronologische Abfolge einzelner Tage modelliert. Die überlieferten Zeugnisse werden zunächst als Archivalien im Sinne materieller Objekte modelliert, denen jeweils ihr Gattungstyp zugeordnet wird und die als Textträger dokumentenspezifische Eigenschaften aufweisen. Der in ihnen enthaltene Text wird jeweils im Sinne einer eigenständigen linguistischen Entität modelliert, die ihrer physischen Überlieferung zugeordnet wird. Sowohl die Archivalie im Sinne eines materiellen Objektes als auch der linguistische Code kommunizieren biographische Informationen, die bestimmten Tagen in Goethes Leben zugeordnet werden. Dabei kann es sich u.a. um die Aufenthaltsorte, spezifische Aktivitäten sowie um dritte Personen handeln, mit denen Goethe verkehrt hat. Die modellierte linguistische Entität wird zusätzlich mit der digitalen Edition auf der Propyläen-Plattform verknüpft, die sie als edierten Text mit Kommentar und Faksimile wiedergibt.9
Erwartbare Ergebnisse
Die gewählte Modellierung erfasst die überlieferten Zeugnisse in ihrer Materialität, als sprachlichen Ausdruck sowie inhaltlich als Quelle biographischer Informationen. Sie folgt damit dem Paradigma des pluralistischen Textbegriffs (Sahle 2013, 45-49) und macht es möglich, die in den Zeugnissen materialisierten Wissensnetzwerke Goethes nach sozialen, semiotischen und semantischen Dimensionen zu untersuchen (Renn et al. 2016, 37-41).
Auf Basis der erzeugten RDF-Datenressource kann die Mobilität Goethes über sein Leben hinweg je nach Datenlage tagesgenau anhand der verknüpften geographischen Orte abgebildet werden. Ebenso lassen sich die sozialen Netzwerke des Dichters anhand derjenigen Personen rekonstruieren, die über die Jahre hinweg in direkten Begegnungen und Gesprächen oder mittels Briefkorrespondenz Teil seines Lebens geworden sind. Darüber hinaus lässt sich die Entwicklung der Themen, mit denen sich Goethe in seinen Tagebüchern und Briefen beschäftigt hat, chronologisch nachzeichnen.
Die beschriebenen biographischen Erkenntnisse basieren auf den überlieferten Biographica Goethes. Diese können in ihrer Bedeutung für die Überlieferung seines Lebens analysiert werden: Welche Phasen sind stärker, welche weniger stark durch bestimmte Zeugnisse belegt, wann spielen die Tagebücher, wann die Briefe und wann andere Quellen eine besondere Rolle, und wann gibt es Lücken?
Da die Ergebnisse unter Anwendung einer veröffentlichten, expliziten Ontologie gewonnen werden, sind sie nachvollziehbar und einer wissenschaftlichen Kritik zugänglich.
Fußnoten
Bibliographie
- Renn, Jürgen, Dirk Wintergrün, Roberto Lolli, Manfred Laubichler und Matteo Valleriani. 2016. "Netzwerke als Wissensspeicher. Wissensrepräsentation im Internet“. In Die Zukunft der Wissensspeicher, hg. von Jürgen Mittelstraß und Ulrich Rüdiger, 35-79. München: UVK Verlagsgesellschaft.
- Sahle, Patrick. 2013. „Digitale Editionsformen - Teil 3: Textbegriffe und Recodierung“. Norderstedt: Books on Demand.