Raumreferentielle Ausdrücke in deutschsprachigen Romanen des 19. und 20. Jahrhundert. Ein Werkstattbericht des Projekts CANSpiN

Lemke, Marc; Kellner, Nils; Henny-Krahmer, Ulrike
https://zenodo.org/records/14943098
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Das Poster präsentiert erste Daten aus dem Projekt „Computational Approaches to Narrative Space in 19th and 20th Century Novels“ (CANSpiN), die aus der Annotation raumreferentieller Ausdrücke mithilfe der Annotationsrichtlinie CANSpiN.CS1 (Category Set 1) in deutschsprachigen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts hervorgehen. Ziel des Posters ist es, Konzeption und Potentiale offenzulegen, die die mit der Richtlinie erzeugten Daten für quantitative und qualitative Auswertungen im literaturwissenschaftlichen Kontext bieten.

Grundlage der Annotation ist ein epistemologisches Raumverständnis: Raum, wie er sich anhand punktueller raumreferentieller Ausdrücke in unserer Sprache und in den von uns untersuchten Romanen als kulturell verankertes Konzept darstellt. In dieser Perspektive ist Raum hierarchisch in Containern organisiert — in distinkten, abgegrenzten Bereichen, die ineinander verschachtelt sein können. Dass etwas existiert, setzt zumindest immer einen Raum als Container voraus. Aus der Existenz einer Entität folgt, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt immer einen Ort hat. Auf dieser Grundlage sind Positionierungen, Bewegungen und Richtungen beschreibbar sowie zuletzt auch räumliche Dimensionierungen, die sich aus der Entfernung von Orten, dem physischen Dasein von Entitäten und deren Menge ergeben. Alle hier hervorgehobenen Elemente des epistemologischen Raumbegriffs sind jene räumlichen Phänomene, auf die die raumreferentiellen Ausdrücke verweisen.

Bezugnehmend auf diese Phänomene und in Anlehnung an die Systematiken von Raumindikatoren bei Mareike Schumacher (2023) und von raumreferentiellen Bezeichnungen bei Katrin Dennerlein (2009) haben wir fünf Kategorien raumreferentieller Ausdrücke gebildet, die in 21 Klassen ausdifferenziert sind (siehe Abbildung 1).

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Kategorien und dazugehörige Annotationsklassen von CANSpiN.CS1

Erdachtes Annotationsbeispiel: „Sie stellte sich vor, zu [Richtung] dem großen [Dimensionierung] Baum zu gehen [Bewegung-Subjekt] , der im [Positionierung] Garten [Ort-Container] stand. “

Die Annotationsrichtlinie CANSpiN.CS1 zielt grundsätzlich darauf ab, über die raumreferentiellen Ausdrücke, deren Menge, Verteilung, Auswahl und Korrelation die Räumlichkeit des Textes sichtbar zu machen.

Die damit erzeugten Annotationen können einerseits für rein quantitative Analysen im Sinne eines Distant Reading auf ganzen Textkorpora verwendet werden. Auf die Relevanz dieses Ansatzes für literaturhistorische Fragestellungen wurde im Allgemeinen bereits hingewiesen. (Moretti 2013, 48f, 53f; Underwood 2019, 3) Speziell anhand räumlichen Vokabulars sind entsprechende Untersuchungen bislang von Schumacher (2023) unternommen worden, deren Ansatz jedoch keine semantische Subklassifikation beinhaltet.

Andererseits bieten die Annotationen auch das Potential, Ausgangspunkt für Mixed-Methods-Ansätze und textimmanente Interpretationen zu sein. Um dies nachzuvollziehen, werden im Folgenden exemplarisch die Annotationen des 1. Kapitels von Gustav Freytags „Die verlorene Handschrift“ diskutiert. (Freytag 2021) Die Definitionen der hier besprochenen Annotationsklassen werden dafür in aller Kürze dargelegt. Für eine umfassende Einsicht in das Kategoriesystem verweisen wir auf die publizierte Annotationsrichtlinie. (Henny-Krahmer et al. 2024)

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Annotationsmengen nach Kategorien (innerer Kreis) und Klassen (äußerer Ring) für das erste Kapitel von Gustav Freytags „Die verlorene Handschrift“ (1864)

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Annotationsmenge der Kategorie Ort nach Klassen (äußerer Ring) für das erste Kapitel von Gustav Freytags „Die verlorene Handschrift“ (1864)

Abbildung 2 zeigt die Annotationsmengen in allen Kategorien. Das Gros der Annotationen bilden Bewegungen und Orte. Unter ersterem verstehen wir Verben, die eine räumliche Distanz dadurch produzieren, dass sie eine gerichtete Bewegung von Subjekten und Objekten ausdrücken, aber auch Wahrnehmungen und die Produktion von Licht, Schall und Gerüchen. Die hohe Anzahl von BEWEGUNG-SUBJEKT- und BEWEGUNG-SCHALL-Annotationen ist in der Exposition von Freytags Text Ausdruck dessen, dass hier häufig Figurenbewegungen und Gespräche dargestellt sind. Die hohe Anzahl von BEWEGUNG-ALT-Fällen ist zu einem wesentlichen Teil Ergebnis der häufig bildlichen Sprache, mit der die Welt beschrieben wird: Nicht-räumliche Sachverhalte, die mittels eines räumlichen Vokabulars ausgedrückt werden, erfassen wir generell mit den ALT-Klassen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 3 lenkt den Fokus auf die Ortsannotationen, unter anderem auf Container: Bereiche und Räume, in denen sich Figuren prototypischerweise aufhalten könnten. Sind diese Container im Satzzusammenhang ein Ziel- oder Ausgangspunkt von Bewegungen, stehen sie in einem Bewegungskontext (ORT-CONTAINER-BK). Ein Aspekt, der bei der Betrachtung der Daten auffällt ist, dass Container hier viel häufiger erwähnt werden, als dass sie in einem Bewegungskontext stehen: Figuren-Bewegungen und Wahrnehmungen finden eher innerhalb von Containern und nicht zwischen ihnen statt.

Mit Blick auf die Analyse ganzer Texte legen die dargestellten Beziehungen zwischen der Räumlichkeit eines Erzähltextes und seiner Diegese Möglichkeiten nahe, die Annotationen als Einstiegspunkt für textimmanente Interpretationen und Textvergleiche nutzen zu können. Vor dem Hintergrund eines raumtheoretisch fundierten Gattungsbegriffs des Reiseromans beispielsweise ist zu erproben, ob die Menge an ORT-CONTAINER-BK- im Verhältnis zu ORT-CONTAINER-Annotationen als ein gattungsspezifisches Muster funktioniert. (Vgl. Sicks 2009, 342f) Und in einer umfassenderen Perspektive bietet das Verhältnis von Räumlichkeit zum erzähltem Raum grundsätzlich das Potential, ein Kennzeichnen spezifischer Schreibweisen zu sein: Wird im Text viel oder wenig räumliches Vokabular für die Konstruktion der erzählten Welt verwendet? Ist der Text in seiner Sprache sozusagen „räumlicher“ als die erzählte Welt oder nutzt er all sein räumliches Vokabular zur Darstellung der Diegese?


Bibliographie

  • Dennerlein, Katrin. 2009. Narratologie des Raumes. Berlin und New York: De Gruyter. DOI: .
  • Freytag, Gustav. 2021. „Die verlorene Handschrift.“ ELTeC-Ausgabe. In German Novel Corpus (ELTeC-deu), hg. von Leonard Konle, Fotis Jannidis, Carolin Odebrecht und Lou Burnard. April 2021 release (v.1.0.0) . DOI: .
  • Henny-Krahmer, Ulrike, Nils Kellner und Marc Lemke. 2024. CANSpiN.CS1. Version 1.0.0. DOI: .
  • Moretti, Franco. 2013. Distant Reading. London und New York: Verso.
  • Schumacher, Mareike. 2023. Orte und Räume im Roman. Ein Beitrag zur digitalen Literaturwissenschaft. Berlin und Heidelberg: Springer. DOI: .
  • Sicks, Kai Marcel. 2009. „Gattungstheorie nach dem spatial turn. Überlegungen am Fall des Reiseromans.“ In Raum und Bewegung in der Literatur, hg. von Wolfgang Hallet und Birgit Neumann. Bielefeld: transcript Verlag, 337–354. DOI: .
  • Underwood, Ted. 2019. Distant Horizons. Digital Evidence and Literary Change. Chicago und London: University of Chicago Press.