"Die Hölle, das sind die anderen." Crowdsourcing in digitalen Editionen

Busch, Anna; Roeder, Torsten; Prell, Martin
https://zenodo.org/records/14943274
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Wenn Jean-Paul Sartre in seinem Einakter „Huis Clos“ die anderen als Hölle versteht, dann ist das Ausdruck einer existentialistischen Perspektive auf menschliche Beziehungen und die unausgesetzte Konfrontation mit dem Urteil der Mitmenschen (Sartre 1975). Auch für die Anwendung von Crowdsourcing-Konzepten in digitalen Editionen gilt die „Crowd“ nicht nur als Quelle kollektiver Intelligenz, die vielfältige Fähigkeiten auf eine große Anzahl von Teilnehmer:innen verteilt, um umfangreiche und komplexe Projekte zu realisieren, die für Einzelpersonen kaum zu bewältigen wären. Sie ist auch Quelle zahlreicher Herausforderungen. Die Koordination und Qualitätssicherung der Beiträge aus einer Vielzahl von Quellen, unterschiedliche Interpretationen und Standards der Teilnehmenden, die Inkonsistenzen bergen können, sowie das Management von Crowdsourcing-Projekten sind mit erheblichen organisatorischen Anstrengungen und ausgefeilten technologischen Lösungen verbunden. Die „anderen“ stellen sowohl eine Bereicherung als auch eine Herausforderung dar. Durch die mannigfach eingebrachte Expertise und unterschiedliche Perspektiven entstehen digitale Editionen, die reichhaltiger und vielseitiger sind, aber auch die Notwendigkeit einer sorgfältigen Steuerung und Moderation erfordern, um das volle Potenzial dieser kollaborativen Methode zu entfalten.

Während im anglo-amerikanischen Raum für den Bereich der digitalen Editionen bereits seit mehr als einem Jahrzehnt Crowdsourcing-Konzepte erfolgreich umgesetzt werden (Terras 2015; Ridge 2017; Brumfield 2017; Ridge et al. 2021), scheinen dahingehende Methoden im deutschsprachigen Raum nur sporadisch angewendet zu werden (Falk 2013; Smolarski et al. 2023). Der 2025 erscheinende Themenband der Rezensionszeitschrift RIDE „Crowdsourcing and Digital Editions“ (vgl. Busch/Roeder 2023), strebt deshalb eine Evaluierung partizipativer Methoden im digitalen Editionsraum an und versucht zu ermitteln, wie GLAM-Institutionen den Spagat zwischen innovativen und traditionellen Wegen des wissenschaftlichen digitalen Edierens meistern und in welcher Form sie dabei auf partizipative Elemente und Herangehensweisen zurückgreifen: Akteur:innen, Institutionen und Organisationen mit ihren digitalen Social- und Crowdsourcing-Editionen werden vorgestellt, analysiert und miteinander verglichen. Welche Rolle spielt Digitalität in diesem Gefüge, neben dem anscheinend notwendigen Mittel zum Crowdsourcing-Zweck?

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Bildausschnitt aus: Franziska Ruhnau, Graphic Recording Tag 1, in: Partizipative Transkriptionsprojekte in Museen, Archiven und Bibliotheken, herausgegeben von Diana Stört und Anita Hermannstädter, S. 50–51. Berlin: Museum für Naturkunde Berlin (MfN) - Leibniz Institute for Evolution and Biodiversity Science, 2023.

Das hiermit vorgeschlagene Poster gibt in einer großen Collage einen internationalen Überblick zu verschiedenen Crowdsourcing-Editionen und deren Plattformen ( vgl. Liste vorgeschlagener Projekte ). Dies wird mit systematischen Aspekten für das spezifische Rezensieren von Crowd-Editionen gespiegelt ( vgl. Call for Reviews ). Darin werden folgende Fragenkomplexe behandelt:

  • Partizipationsmodell: Welches Beteiligungsmodell wird in dem jeweiligen Editionsprojekt angestrebt? Was für eine Funktion nimmt die Crowd darin ein? Welche Vorteile erhalten die Mitwirkenden? Wie verhält sich der Crowdsourcing-Aspekt in den Editionen jeweils zum autorativen Anspruch der Edition? Soll Crowdsourcing nur eine Zuarbeit zu einem top-down erstellten Editionstext sein oder handelt es sich um eigenständige Beiträge in einem dynamischen Textgefüge?
  • Projektmanagement: Wie vollzieht sich die praktische Arbeit? Welche technischen Gegebenheiten liegen vor? Welche Aufgaben und welche Verantwortung übernimmt die Crowd, wird sie ggf. durch eine Redaktion kontrolliert und akkreditiert?
  • Juristische Fragen: Wie wird das Zusammenspiel rechtlich organisiert? Gibt es Freiwilligen-Vereinbarungen, eine Nutzungsrechteabtretung, eine Datenlizenz? Ist das noch Crowdsourcing oder bereits Citizen Science?
  • Nachhaltigkeit: Handelt es sich um eine Plattform, die auch von anderen Projekten mitgenutzt oder adaptiert werden könnte? Ist die Crowd-Edition nach den FAIR-Prinzipien aufgestellt?

Bibliographie

  • Brumfield, Ben. 2017. „Accidental Editors.“ In Advances in Digital Scholarly Editing: Papers Presented at the DiXiT Conferences in The Hague, Cologne, and Antwerp, hg. von Peter Boot, Anna Cappellotto und Wout Dillen, 69–83. Leiden: Sidestone Press. https://www.sidestone.com/books/advances-in-digital-scholarly-editing .
  • Busch, Anna, Torsten Roeder. 2023. „Crowdsourcing in digitalen Editionen – ein Themenband der Rezensionszeitschrift RIDE.“ In Partizipative Transkriptionsprojekte in Museen, Archiven und Bibliotheken, hg. von Diana Stört und Anita Hermannstädter, 47–49. Berlin: Museum für Naturkunde Berlin (MfN) - Leibniz Institute for Evolution and Biodiversity Science.
  • Falk, Rainer. 2013. „Crowdsourcing: Möglichkeiten der (Zusammen-)Arbeit an Brief-Editionen im Internet.“ In Brief-Edition im digitalen Zeitalter, hg. von Anne Bohnenkamp und Elke Richter, 35–42. DE GRUYTER, 2013. https://doi.org/10.1515/9783110289350.35.
  • Ridge, Mia. 2017. Crowdsourcing Our Cultural Heritage. First issued in paperback. Digital Research in the Arts and Humanities. London New York: Routledge, Taylor & Francis Group.
  • Ridge, Mia, Samantha Blickhan und Meghan Ferriter. 2021. The Collective Wisdom Handbook: Perspectives on Crowdsourcing in Cultural Heritage - community review version. PubPub. https://doi.org/10.21428/a5d7554f.1b80974b .
  • Sartre, Jean-Paul. 1975. Geschlossene Gesellschaft. Stück in e. Akt. Dt. von Boris v. Borresholm. Reinbek: Rowohlt.
  • Smolarski, René, Hendrikje Carius, und Martin Prell. 2023. Citizen Science in den Geschichtswissenschaften: methodische Perspektive oder perspektivlose Methode? DH & CS - Schriften des Netzwerks für digitale Geisteswissenschaften und Citizen Science, Band 3. Göttingen: V&R unipress.