„Under Construction“ als Normalzustand? Modulare Forschungsinfrastruktur für digitalen Editionen an der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek
https://zenodo.org/records/14943134
Die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek (ThULB) hat ein Serviceportfolio entwickelt, um Forschende bei der Erstellung digitaler Editionen zu unterstützen. Die Bibliothek agiert unter besonderen Rahmenbedingungen: Im Gegensatz zu großen Forschungsprojekten, Akademien oder Digital-Humanities-Zentren stehen hier nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung. Diese Situation erfordert eine pragmatische Herangehensweise, bei der auf bestehende Infrastrukturen zurückgegriffen wird. Gleichzeitig eröffnet dies Chancen: Etablierte Systeme wie Repositorien können integriert und bibliothekarische Aufgaben – etwa das Normdaten-Management oder die Einspielung von Metadaten in Katalogsysteme – von Anfang an mitgedacht werden.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzt die ThULB auf einen modularen Ansatz: Statt auf umfassende All-in-one-Lösungen zu setzen, wird auf flexible Bausteine zurückgegriffen, die gezielt auf die Anforderungen einzelner Projekte abgestimmt werden können. Diese Flexibilität ist jedoch mit der Herausforderung verbunden, dass die Infrastruktur nie vollständig abgeschlossen erscheint – ein Zustand, der sich wie eine permanente „Under Construction“-Phase anfühlen kann. Der Beitrag beleuchtet, wie dieser Balanceakt zwischen Anpassungsfähigkeit und Konsolidierung gestaltet wird.
Für die Anforderungsanalyse wurden prototypische Entstehungsprozesse digitaler Editionen modelliert und mit TaDiRAH-Aktivitäten verknüpft (Dogunke 2023). Als Grundlage wurden editionswissenschaftliche Texte aus vordigitaler Zeit als zielführend identifiziert, insbesondere Witkowskis „Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke: ein methodologischer Versuch“ (1924) hat sich als hilfreich erwiesen, um 24 Prozessschritte herauszuarbeiten (s. Abbildung 1). Die Ergebnisse aus diesem ersten Schritt können als Checklist bei der Auswahl geeigneter Software-Lösungen für digitale Editionen dienen oder von Anbietern digitaler Services und Infrastruktur als Self-Assessment-Tool nachgenutzt werden.
Abbildung 1: Prozessmodellierung mit TaDIRAH, Detail, bei Darstellungsproblemen hier abrufbar: https://cloud.uni-jena.de/s/P5jJTNCd8KFE7LE
Mithilfe der Prozessmodellierung konnten nun einzelne Komponenten ausgewählt werden, die diese Forschungsaktivität unterstützen. Durch die Nutzung von TadiRAH können schnell funktionale Anforderungen definiert und mit den Beschreibungen vorhandener Komponenten verknüpft werden, beispielsweise:
- Ein MyCoRE-basiertes Repository, um Digitalisate, Erschließungsdaten und TEI-XML-Dateien verlässlich zu speichern und über Schnittstellen bereitzustellen;
- Transkribus zur Unterstützung bei Transkriptionsarbeiten;
- zotero zur Verwaltung bibliographischer Nachweise, die später in Kommentaren aufgegriffen werden können.
Für Prozessschritte, die bisher nicht unterstützt werden, bietet sich eine Suche in Tool Registries an, die Angebote nach TaDiRAH klassifizieren (TaDiRAH 2014), z.B. TaPOR (Rockwell, Sinclair und Radzikowska).
Dadurch, dass keine All-in-one-Lösung angestrebt wird, kann schnell auf unterschiedliche oder im Projektverlauf geänderte Bedingungen reagiert werden und einzelne Komponenten werden ausgetauscht, Szenarien für diesen Fall sind:
- Es wurde eine Open-Source-Komponente eingesetzt, die jedoch nicht weiterentwickelt wird. Ein Beispiel wäre hier die auslaufende Betreuung des „CLARIN-D Metadatenformular zur Aufnahme einzelner Ressourcen“, um Header zu erstellen, die dem DTA-Basisformat entsprechen.
- Ein Projekt hat für einen Teilschritt, z.B. Sammeln bibliographischer Nachweise, spezifischere Anforderungen und benötigt hier eine Komponente, die eine Unterscheidung auf Exemplar-Ebene ermöglicht, die bisher eingesetzte Komponente kann dies nicht umsetzen.
- Laufende oder bereits abgeschlossene Projekte wenden sich an die Bibliothek und suchen Unterstützung. Nun muss gemeinsam entschieden werden, ab welchem Punkt im Workflow mit zu transformierenden Daten eingestiegen werden kann.
- Projekte werden agiler gemanagt, es gibt im Projektverlauf Nachjustierungen, weil z.B. Lizenzkosten für proprietäre Tools steigen und nicht mehr übernommen werden können.
Diese hohe Anpassbarkeit des Service führt dazu, dass selten ein Freeze-Zeitpunkt erreicht wird und alle Beteiligten den Eindruck gewinnen, auf unbestimmte Zeit in einer Baustelle „under construction“ zu wohnen. Um hier gegenzusteuern, wurden verschiedene Maßnahmen skizziert bzw. bereits umgesetzt:
Der Posterbeitrag regt zur Vernetzung von Infrastrukturanbietern für digitale Editionen an und sucht den Austausch mit Editionsprojekten, um Erfahrungen zu teilen.
Bibliographie
- Dogunke, Swantje. 2023. Forschungsinfrastruktur für digitale Editionen. In: 111. Bibliocon in Hannover 2023. https://opus4.kobv.de/opus4-bib-info/frontdoor/index/index/docId/18432 (zugegriffen: 17. Juli 2024).
- Posner, Miriam. 2013. No Half Measures: Overcoming Common Challenges to Doing Digital Humanities in the Library. Journal of Library Administration 53, Nr. 1 (25. Januar): 43–52. https://escholarship.org/uc/item/6q2625np (zugegriffen: 17. Juli 2024).
- Rockwell, Geoffrey, Stéfan Sinclair und Milena Radzikowska. TAPoR. http://tapor.ca/home (zugegriffen: 20. August 2020).
- Schuster, Kristen und Vanessa Reyes. 2020. Manage your Data: Information management strategies for DH practitioners. In: Routledge International Handbook of Research Methods in Digital Humanities. Routledge.
- TaDiRAH. 2014. TaDiRAH - Taxonomy of Digital Research Activities in the Humanities. 18. Juli. https://github.com/dhtaxonomy/TaDiRAH (zugegriffen: 17. Juli 2024).
- Witkowski, Georg. 1924. Textkritik und Editionstechnik neuerer Schriftwerke: ein methodologischer Versuch. Leipzig: Haessel.