Gemeinsame Baustellenbegehung – Digital Humanities und Wissenschaftsforschung
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„Lasst uns auf der Baustelle treffen.“ – Panelidee
Der Metaphorik des Tagungsthemas folgend wollen wir uns die Baustelle aus einem neuen Blickwinkel heraus anschauen. Dazu holen wir uns Expert:innen, die die Wissenschaft berufsmäßig betrachten: Wissenschaftsforscher:innen. Auf einer Baustelle kann man nachvollziehen, wie etwas gebaut wird. Sie ist also der ideale Ort, um den geplanten, interdisziplinären Austausch zu initiieren – allemal, wenn die Baustelle in Bielefeld ist. „Under construction“ zu sein bedeutet für die Digital Humanities (DH), dass (noch) nicht alles abgeschlossen ist, womöglich nicht mal alle Baupläne vollendet oder gar alle Entscheidungen getroffen sind. Diese Unfertigkeit der DH birgt eine Unsicherheit, die idealerweise produktiv genutzt werden kann. Wir wollen den Blick auf die Baukonstruktion und die genauere Materialprüfung nutzen, um die DH selbst zum Gegenstand reflexiver wissenschaftlicher Betrachtung zu machen. Dies soll gelingen, indem wir zur Digital Humanities-Perspektive jene der interdisziplinären Wissenschaftsforschung bringen. Damit wir uns auf der Baustelle nicht verlaufen, fokussieren wir das Thema „Daten“, dessen Bedeutung für beide Felder unten näher erläutert wird.
„Wer trifft sich denn auf der Baustelle?“ – DH und Wissenschaftsforschung
Unterschiedliche Formen der Selbstbetrachtung führt die DH-Community bereits seit mehreren Jahren in ihren Diskursen mit. So ist die theoretische wie methodische Reflexion ein wichtiges Anliegen der DHd-AG Digital Humanities Theorie. Auch Beiträge wie Digital Humanities? Gibt’s doch gar nicht! (Sahle, 2015), das Kapitel Digital Humanities als Wissenschaft. (Thaller, 2017) oder die Glossareinträge Theorie (Kleymann, 2023b) und Methode (Horstmann et. al. 2023) nehmen eine Metaperspektive auf die DH ein. Die grundsätzliche Interdisziplinarität der DH ermöglicht es, an die unterschiedlichsten Fachdiskurse anzuschließen und das Verhältnis der Herkunftsdisziplinen zur jeweiligen DH-Forschung theoretisch wie methodologisch in den Blick zu nehmen.
Wissenschaft allgemein und wissenschaftliche Disziplinen, Praktiken und das dort generierte Wissen zum Gegenstand von (meta-)wissenschaftlicher Betrachtung zu machen, ist Aufgabe wiederum der Wissenschaftsforschung. Dabei ist die Wissenschaftsforschung – ähnlich wie die DH – keine klar umrissene Disziplin und ebenso als „under construction“ zu bezeichnen.1 Beispielsweise ist, wie bei den DH, der Status als „Fach, Disziplin, Feld, Interdisziplin“ umkämpft. (Reinhart, 2023: 339) Die interdisziplinär angelegte Wissenschaftsforschung stützt sich „sowohl in ihren Theorien wie Methoden auf die ‚Mutterdiszplinen‘ der Soziologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaften sowie weiterer Kulturwissenschaften.“ (Kaldewey, Schauz 2023: 5 f.)
„Bislang nur flüchtige Bekannte“ – Bedeutung eines Treffens für beide Felder
Die Wissenschaftsforschung ist jedoch mehr als die Summe ihrer Teile – wenn man diese mit den teilweise institutionell in den „Mutterdisziplinen“ verankerten Fächern Wissenschaftsgeschichte, -theorie und -soziologie identifizieren will. Um ein Thema wie z.B. „(Forschungs-)Daten“ zu bearbeiten, nähert sie sich daher von unterschiedlichen Richtungen. So kann die Frage nach dem Status von Daten in der Wissenschaft historisch gestellt und die Geschichte systematischer Datenerhebung zu wissenschaftlichen Zwecken in den Blick genommen werden. Die Wissenschaftsforschung kann mithin, deduktiv oder induktiv, Theorien des „Datums“ aufstellen und damit eine konzeptionelle Festlegung etablieren, was ein „Datum“ eigentlich ist. Und sie kann sich Praktiken des wissenschaftlichen Umgangs mit Daten anschauen. Diese Perspektiven werden miteinander verbunden und wechselseitig aufeinander bezogen. Am Leopoldina Zentrum für Wissenschaftsforschung (ZfW) verfolgen wir diesen interdisziplinären Ansatz, wenn wir Wissenschaft allgemein und auch DH im Besonderen beforschen.
Dabei werden nicht nur am ZfW sondern im gesamten Feld der Wissenschaftsforschung – angetrieben durch die Science and Technology Studies (STS) – bislang insbesondere die Naturwissenschaften in den Blick genommen. Zumindest für den deutschsprachigen Raum lässt sich feststellen, dass die DH noch wenig Gegenstand der Wissenschaftsforschung sind. Als ein Grund dafür wäre eine starke Fokussierung der Diskussion in Deutschland auf die Digitalisierung von kulturellen Artefakten denkbar.
Demgegenüber scheint uns, dem Fokus der Tagung folgend, die Betrachtung der Datafizierung der Geisteswissenschaften als Heuristik tragfähiger zu sein, da diese neben theoretischen und methodischen Aspekten vor allem auch forschungspragmatische Implikationen hat. Neben Fragen der Interdisziplinarität (in der eigenen Forschungspraxis und als Gegenstand der Reflexion) oder zum Verhältnis von quantifizierenden und hermeneutischen Formen der Wissenschaft, sind „Daten“ und „Datafizierung“ Baumaterialien, die einer gemeinschaftlichen Betrachtung lohnen.
„Wir treffen uns bei den Daten.“ – Erste gemeinsame Überlegungen
Schon der Versuch einer Definition des Begriffs „Daten“ zeigt, wie sehr Wissenschaftsforschung und DH sich hier berühren. Stellt bspw. Jonathan Geiger (2023) fest, dass sich „der Begriff […] in einem Spannungsfeld zwischen sprachlichen Definitionsversuchen, dem praktischen Umgang in Forschungskontexten und wissenschaftstheoretischen Reflexionen“ bewegt, so ist dieses Spannungsfeld gleichsam über weite Strecken mit dem der Wissenschaftsforschung identisch. Die eher soziologisch geprägte Wissenschaftsforschung nimmt die Forschungspraktiken in Bezug auf Daten in den Blick, während die stärker in der Philosophie verankerte Wissenschaftstheorie nach der Begriffsdefinition fragt. Auch die für die DH relevante und durch Johanna Drucker prominent in den Diskurs eingebrachte Unterscheidung von „Data“ und „Capta“ – wörtlich als „Gegebenes“ und „Gefangenes“ bzw. „Gesammeltes“ – weist weit über den Gegenstandsbereich der DH hinaus. Bereits im Artikel Humanities Approaches to Graphical Display grenzt sich Drucker (2011) von realistischen Positionen ab, indem sie festhält, dass bestimmte Formen der Visualisierung von Daten auf eine epistemologische Position festlegen, die von der Selbstevidenz der Phänomene ausgeht. Dem stellt sie die „Gemachtheit“ im Sinne eines konstruktivistischen Paradigmas (Kleymann, 2023a) von Daten gegenüber.2 Die von Christof Schöch vorgeschlagene Unterscheidung von Big und Smart Data (Schöch, 2013) ist ebenso interessant und weist auf einen notwendigen interdisziplinären Zugriff hin. Denn es geht nicht allein um definitorische Entscheidungen, sondern es müssen, um die Unterscheidung sinnvoll treffen zu können, auch die Praktiken in den Blick genommen werden, die z. B. mit Entstehung und Verarbeitung von Big bzw. Smart Data verbunden sind. (Schöch, 2013) Diese Praktiken – für Smart Data: Kuratieren, Strukturieren, Annotieren, mithin implizite Informationen offenlegen – sind dabei wiederum nicht gleichbedeutend mit DH-Methoden und daher nicht allein durch eine methodologische Reflexion zu klären. In ihrem Aufsatz „Big Data-Revolution oder Datenhybris? Überlegungen zum Datenpositivismus der Molekularbiologie“ zeigt Gabriele Gramelsberger (2017) Schwierigkeiten im Umgang mit Daten auf, die auch aus der DH-Praxis bekannt sind. Gramelsberger beschreibt Entwicklungen auf dem Gebiet der DNA-Sequenzierung, die in den Praktiken zum Teil überraschende Ähnlichkeiten mit HTR und automatisierter Annotation aufweisen – und mit diesen verbunden ähnliche Probleme, was den epistemischen Status der Daten bei großen Datenmengen angeht.3 Auch der ironische Auftakt „‘Why don’t we just focus on things we can quantify?’ asks a computer scientist.“ (Moats, 2017: 19) eines Aufsatzes, der die Zusammenarbeit von Wissenschaftler:innen aus Medizin, Anthropologie, Informatik und STS untersucht, dürfte vielen DH-Forscher:innen nicht ganz fremd sein. Diese Beispiele zeigen, wie der Blick auf Datenerzeugung und -evaluation als Ausgangspunkt für den hier geplanten Austausch genutzt werden kann.
„Erstmal Ordnung schaffen auf der Baustelle.“ – Planung des Panels
Erscheinen unsere Überlegungen bis hierher eher tentativ und assoziativ, so liegt das erstens daran, dass mit Wissenschaftsforschung und DH zwei Felder zusammengebracht werden, die selbst unscharfe Grenzen aufweisen. Zweitens gab es, wie bereits erwähnt, trotz der aufgezeigten Überschneidungspunkte der beiden Felder bislang kaum Austausch. Man wird sich hier also auf der Baustelle erstmals kennenlernen. Drittens ist auch der Gegenstand „Daten“, an dem die Diskussion aufgenommen werden soll, in seiner Extension, Intension und Funktion noch nicht abschließend bestimmt (vgl. Geiger 2023). Das Panel kann hier einen Beitrag zur andauernden Debatte leisten, indem es Impulse aus Wissenschaftsforschung und STS aufgreift. Wir verfolgen einen explorativen Ansatz, der darin besteht, zunächst Aspekte zum Thema „Daten“ zu sammeln, diese zu sortieren und schließlich auf dieser Basis die nächsten Bauphasen zu planen. Hierzu werden die sechs Panelist:innen, die beiden Einreicherinnen und vier Expert:innen aus Wissenschaftsforschung und Digital Humanities, in 3-minütigen Statements folgende Frage beantworten:
Wenn wir uns hier „bei den Daten“ treffen, welche Anknüpfungspunkte sehen Sie aus den DH zur Wissenschaftsforschung / aus der Wissenschaftsforschung zu den DH?
Ziel des Kennenlernens soll es sein, gemeinsame Schnittmengenthemen zu identifizieren. An diesen wird miteinander und mit dem Publikum weiterdiskutiert, um erste gemeinsame Schritte über die Baustelle zu machen und die Unsicherheiten, Vagheiten und nötigen Aushandlungsprozesse zunächst einmal in Bezug auf das Thema „Daten“ zu identifizieren.
Es ergibt sich folgender Ablaufplan:
- Kurze Einleitung und Vorstellung: ~ 5 Minuten
- Statements: 6 x 3 Minuten ~ 20 Minuten
- Diskussion auf dem Panel: ~ 35 Minuten
- Diskussion mit dem Publikum: ~ 30 Minuten
Nach den Statements übernehmen die Einreicherinnen die Moderation. Die hoffnungsvolle Erwartung ist, dass sich aus diesem Kennenlernen auf der Baustelle gemeinsame Forschungsinteressen entwickeln und daraus produktive Aktivitäten erwachsen, die beide Fächer weiterbringen.
Moderatorinnen
- Lisa Eggert, Wissenschaftliche Referentin mit Schwerpunkt Digital Humanities am Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung Halle (Saale). Forschungsschwerpunkte: Verbindung von Forschungspraktiken und Wissenschaftstheorie in den DH im Allgemeinen und der Computational Literary Studies im Besonderen.
- Sandra König, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im NFDI-Konsortium „Text+ – Sprach- und textbasierte Forschungsdateninfrastruktur“ am Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung Halle (Saale). Forschungsschwerpunkte: Theorie und Methodologie der Qualitätssicherung, Standardisierung und Strukturierung geisteswissenschaftlicher Forschungs- und Sammlungsdaten, Digitale Quellen- und Methodenkritik
Panelist:innen
Lina Franken, Universitätsprofessorin für Digital Humanities (Universität Vechta). Forschungsschwerpunkte: Weiterentwicklung computationeller Verfahren für qualitative Forschung, Beforschung epistemologischer Veränderungen in den und mit den DH anhand (diskurs)ethnografischer Methoden, Critical Code und Data Studies im Kontext der Science and Technology Studies, Infrastrukturentwicklung für qualitativ-ethnografische Forschungen setzt u.a. sie als Mitglied der Design Group der Plattform for Experimental Collaborative Ethnography (PECE) um.
Christof Schöch, Universitätsprofessor für Digital Humanities (Universität Trier) und wissenschaftlicher Ko-Direktor des Trier Center for Digital Humanities (TCDH). Forschungsschwerpunkte: Computational Literary Studies, mit methodischem Fokus auf Korpusdesign, Datenmodellierung und quantitativer Textanalyse mit der Anwendungsdomäne der französischen Literatur sowie Praktiken der Open Science (Open Access, Open Data, Open Source, Replikation von Forschung)
Silvio Suckow, „Meta Researcher“ im „Weizenbaum Digital Science Center“ Berlin. Forschungsschwerpunkte: Interdisziplinarität, Wissenstransfer, Organisation von Forschung, Impact, soziale Innovationen, Interdisziplinarität und den Praktiken sowie Karrierelogiken der Wissenschaftsdisziplinen
Daniel Wenz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Leiter des Computational Science Studies Lab an der RWTH Aachen. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie, Philosophie der Mathematik sowie der Algorithmen und KI
Fußnoten
Bibliographie
- Bowden, Gary. 1995. “Coming of Age in STS: Some Methodological Musings.” In Handbook of Science and Technology Studies. hg. von Jasanoff, Sheila, Gerald E. Markle, James C. Petersen, Trevor Pinch, 64-79. Thousand Oaks: Sage Publications.
- Drucker, Johanna. 2011. “Humanities Approaches to Graphical Display.” In Digital Humanities Quarterly 5, Nr. 1. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/5/1/000091/000091.html
- Geiger, Jonathan. 2023. “Daten/Forschungsdaten.” In: Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). hg. von AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. DOI: 10.17175/wp_2023_003_v2
- Gramelsberger, Gabriele. 2017. “Big Data-Revolution oder Datenhybris? Überlegungen zum Datenpositivismus der Molekularbiologie“ In N.T.M. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaft, Technik, Medizin. 25, 459–483. DOI: 10.1007/s00048-017-0179-2
- Horstmann, Jan, Christian Lück, Immanuel Normann. 2023. “Methode.” In: Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). hg. von AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. DOI: 10.17175/wp_2023_007_v2
- Kaldewey, David, Désirée Schauz. 2023. “Die Wissenschaft als Gegenstand der Wissenschaft.” In Wissenschaftsforschung. hg. von Kaldewey, David, 3-30, Berlin/Boston: Walter de Gruyter.
- Kleymann, Rabea. 2023a. “ Kontingente Beobachtungen: Forschungsdaten unter konstruktivistischem Paradigma.” In FORGE 2023 - Forschungsdaten in den Geisteswissenschaften: Anything Goes?! Forschungsdaten in den Geisteswissenschaften - kritisch betrachtet. Konferenzabstracts, hg. von Helling, Patrick, Peter Gietz und Michael Derntl. Tübingen: Zenodo. DOI: 10.5281/ZENODO.8386484.
- Kleymann, Rabea. 2023b. “Theorie.” In: Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). hg. von AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. DOI: 10.17175/wp_2023_013_v2
- Lavin, Matthew. 2021. “Why Digital Humanists Should Emphasize Situated Data over Capta.” In Digital Humanities Quarterly 15, Nr 2. http://www.digitalhumanities.org/dhq/vol/15/2/000556/000556.html
- McMillan Cottom, Tressie. 2016. “More Scale, More Questions: Observations from Sociology” In Debates in the Digital Humanities 2016. hg. von Gold, Matthew K, Lauren F. Klein,540-545, Minneapolis: University of Minnesota Press.
- Moats, David. 2021. “Rethinking the ’Great Divide‘: Approaching Interdisciplinary Collaborations Around Digital Data with Humour and Irony.” In Science and Technology Studies, 34, Nr. 1, 19-42. DOI: 10.23987/sts.97321
- Reinhart, Martin. 2023. “Wissenschaftsforschung lehren: Erfahrungen aus der Lehrpraxis.” In Wissenschaftsforschung. hg. von Kaldewey, David, 339-349, Berlin/Boston: Walter de Gruyter.
- Schöch, Christof. 2013. “Big? Smart? Clean? Messy? Data in the Humanities.” In Journal of Digital Humanities 2, Nr. 3. https://journalofdigitalhumanities.org/2-3/big-smart-clean-messy-data-in-the-humanities/