Gender (under) construction: Daten und Diversität im Kontext digitaler Literaturwissenschaft
https://zenodo.org/records/14943036
Einleitung
Die sogenannte Gender Data Gap wirkt sich in mehrfacher Hinsicht auf digitale literaturwissenschaftliche Forschung aus: Historische Ungleichheiten in Bezug auf Gender zeigen sich auf der Ebene von Quellen, Textkorpora, Metadaten wie auch in literarischen Texten selbst. Eine systematische Betrachtung und Erfassung von Geschlechterverhältnissen spielt in DH- und digital-literaturwissenschaftlichen Projekten jedoch kaum eine Rolle. Das Panel widmet sich daher der kritischen Auseinandersetzung von Repräsentation und Erfassbarkeit von Gender in der digitalen Literaturwissenschaft und diskutiert anhand von vielfältigen Lösungsansätzen aus der Fachgemeinschaft, wie mit Gender im Aufbau von Datensätzen, Textkorpora und Forschungsprojekten umgegangen werden kann.
Die Gender Data Gap, die sich in Bezug auf Forschungsdaten zeigt, betrifft alle datenbasiert arbeitenden Disziplinen und steht besonders seit dem Erscheinen des Buches “Data Feminism” (D’Ignazio/Klein 2020) immer wieder in Diskussion. Von Data Science zu den Digital Humanities offenbart sich ein Bias, der Gender, Race sowie andere marginalisierte Perspektiven weniger oder gar nicht berücksichtigt (vgl. Leyrer 2021, 50). Das resultiert in einer Unterrepräsentation von FLINTA* in Zugängen, Daten und Infrastrukturen (vgl. D’Ignazio/Klein 2020, Kap. 4; Saeger 2016) (Das Akronym FLINTA* steht für Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, transgeschlechtliche und agender Personen, das Sternchen bezieht weitere Geschlechter mit ein (vgl. Ash 2023). Wir verwenden den Ausdruck in diesem Kontext, um darauf hinzuweisen, dass die Gender Data Gap sowohl Frauen als auch andere Geschlechter betrifft.). Die Gender Data Gap ist dabei intersektional zu verstehen, d.h. sie bezieht sich auf miteinander verknüpfte Kategorien, die jeweils mit eigenen Marginalisierungserfahrungen verbunden sind (zu DH und Intersektionalität siehe Bordalejo/Risam 2019, Losh/Wernimont 2019).
Die feministische Literaturwissenschaft beschäftigt sich schon seit ihrer Entstehung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Lücken in Bezug auf Geschlecht und Literatur. Dabei stand lange Zeit, zuletzt bei Seifert (2021), die Wiederentdeckung von Autorinnen sowie die Kritik an männlich dominierten universitären Leselisten und Kanones im Vordergrund. Die feministische Literaturtheorie bietet wichtige Grundlagen zu intersektionalen Genderbegriffen (vgl. Babka 2004), die mögliche nicht-binäre Genderkonzepte enthalten. Insgesamt zeigt sich jedoch in der traditionellen wie auch der digitalen Literaturwissenschaft, dass FLINTA* in Bezug auf Textkorpora, Kanonisierung, Datensätze und generell als (indirekte) Stakeholder (Leyrer 2021, 5.1) weniger berücksichtigt werden als Männer. Angesichts der tradierten Kanonbildung und etablierter Literaturlisten, die in den traditionellen Literaturwissenschaften oft eine dominierende Rolle spielen, stellt die digitale Transformation literarischer Texte eine Chance, aber auch eine Herausforderung dar. Wenn Texte zu Daten werden, offenbaren sich auf mehreren Ebenen Gender- und Diversitätslücken, die es zu analysieren und zu adressieren gilt.
Der aktuelle Stand der Forschung zeigt, dass die Gender Data Gap in den Digital Humanities immer wieder Thema ist (vgl. Lang/Borek/Probst 2023), etwa wenn Juen (2021) konkrete Ungleichheiten in Infrastrukturen und Bibliothekskatalogen vorstellt. In der literaturwissenschaftlichen Forschung mittels digitaler Methoden bilden diese Ungleichheiten oft nicht den Ausgangspunkt, sondern werden erst im Workflow oder durch die Ergebnisse sichtbar (vgl. z.B. Weitin 2021, 47f). Kanonisierungsfragen werden durch Digitalität neu belebt (vgl. Baum 2020). Das Wechselverhältnis von feministischer Literaturtheorie in Bezug auf Genderkonzeptionen und ihre technologische Verarbeitung beschreiben Caughie et al. (2018). Flüh und Schumacher (2020) zielen in ihrem vorbildhaften Projekt dezidiert auf die Modellierungen von (nicht-binären) Genderdarstellungen in der Literatur ab. In dieser Bandbreite zeigt sich eine Vielfalt von technologischen, methodologischen und theoretischen Verschränkungen, die auf die doppelte Verschränkung von literarischer Ebene und Metadaten abzielt.
Ein zentrales Anliegen des Panels ist die Diskussion über die Modellierung von Gender sowohl im Text selbst als auch auf der Ebene der Metadaten. Dabei stellt sich die Frage, wie Gender in historischen Texten erfasst und dargestellt wird und wie Normdaten zur Geschlechtszuordnung beitragen. Hier werden historische Ungleichheiten bezüglich Gender durch aktuelle Analysen in DH-Projekten entweder weitergetragen oder durch Maßnahmen gezielt korrigiert. In Bezug auf das Thema der Tagung „Under Construction. Geisteswissenschaften und Data Humanities“ will das Panel gemeinsam mit Expert*innen erörtern, durch welche Maßnahmen der beschriebene Status quo verbessert werden könnte, wobei die Erfassbarkeit, Konstruktion und Repräsentation von Gender im Mittelpunkt stehen. Es soll untersucht werden, wie feministische Kritik dazu beitragen kann, Grenzen der Computational Literary Studies zu überwinden und Zukunftsszenarien zu entwerfen, die eine angemessene Berücksichtigung von Gender ermöglichen. Durch die kritische Reflexion und Diskussion dieser Themen will das Panel einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Digital Humanities leisten und aufzeigen, wie digitale Methoden und feministische Theorien synergetisch zusammenwirken können, um mit Diversität in literarischen Textdaten und Datensätzen umzugehen. Um über die beschriebenen Problemkonstellationen gemeinsam reflektieren zu können, lädt das Panel ausgewiesene Expert*innen aus Forschungs- und Infrastrukturprojekten zur Diskussion ein, wobei die verschiedenen Perspektiven von Doktorandinnen und Postdocs vertreten werden, um die unterschiedlichen Erfahrungen und Ressourcen im Umgang mit diesen Lücken strukturell zu demonstrieren.
Leitfragen
- Wie wird die Gender Data Gap in Texten sichtbar?
- Wie wird die Gender Data Gap in Infrastrukturen (bes. Bibliothekskatalogen, Normdatenbanken, Textkorpora) sichtbar?
- Wie gehen digitale literaturwissenschaftliche Projekte mit pre-existing bias um, der Texte/Daten zu weiblichen/nicht-binären Autor*innen nur eingeschränkt berücksichtigt?
- Auf welchen Voraussetzungen der traditionellen Literaturwissenschaft beruht dieser pre-existing bias?
- Wie positionieren sich Projekte in der digitalen Literaturwissenschaft dazu?
- Welche technischen, methodologischen und strategischen Überlegungen oder Lösungen gibt es, um die Lücke zu verringern?
- Welche Strategien gibt es, um mit der Lücke wissenschaftlich umzugehen?
- Was könnte in den kommenden Jahren aus Sicht der Expert*innen erreicht werden?
Format
Das Panel beginnt mit einer kurzen Einleitung der Organisatorinnen, dann folgen 3-5 minütige Impulse der Panelist:innen, die danach in einer Paneldiskussion besprochen werden. Die letzten 30 Minuten des Panels stehen für eine Debatte im Plenum mit Publikum zur Verfügung.
Positionen der Panelist:innen
Überblick
Mareike Schumacher: "Digital Gender Studies – Under Construction"
In diesem Impulsvortrag wird ein Überblick über DH-Ansätze gegeben, die sich mit Gender befassen. Es wird gezeigt, dass und warum derzeitige Studien meist mit einem binären Genderverständnis operieren und inwiefern es bereits erste Schritte in Richtung einer Überwindung eines solchen gibt. Neben analytischen Ansätzen werden auch aktivistische Beiträge aus Data Feminism und Queer Studies berücksichtigt. Obwohl es derzeit noch keine “Digital Gender Studies” gibt, wird gezeigt, dass der Boden bereitet ist, auf denen ein solches Feld aufgebaut werden könnte.
Positionen aus Forschungsprojekten
Laura Untner: “Sappho Digital”
Das Projekt “Sappho Digital” zielt darauf ab, die deutschsprachige literarische Rezeptionsgeschichte der antiken griechischen Dichterin Sappho als Linked Data zu modellieren. Durch Biases bedingte Lücken, Unsicherheiten und Falschinformationen in Metadatensätzen stellen dabei eine bedeutende Herausforderung dar, besonders da Sappho eine zentrale Figur für weibliche und queere Autor_innen war und ist. Die im digitalen Raum erkennbaren Biases verdeutlichen nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit, diesen Verzerrungen entgegenzuwirken wie in diesem Impulsbeitrag gezeigt wird.
Imelda Rohrbacher: “Testfall Journal“
Digitale Editionen machen die Präsenz von Autorinnen in Zeitschriften sichtbarer, auch wenn ihre Zahl in Relation zu der von Autoren historisch oft geringer ist. Dies gilt auch für die Zeitschrift „Die Schaubühne“ (1905-1918), eine wesentliche Quelle zur Avantgardeliteratur der Moderne; dies aber nicht zuletzt, weil auch kanonisch gewordene Autorinnen wie Else Lasker-Schüler in ihr veröffentlichten. Das ‚weibliche Repertoire‘ der Zeitschrift eignet sich als Testfall für verschiedene Fragen: Welchen Aufschluss über die Autorinnen gibt das Journal selbst (Art der publizierten Werke, bio-bibliographische Informationen, Werkrezeption?) und welche bestehenden Quellen und Nachschlagewerke, ob digital oder gedruckt, dokumentieren v.a. jene Autorinnen, die heute nicht mehr bekannt sind? Diese Fragen können nicht alle beantwortet, aber anhand der „Schaubühne“ exemplarisch gestellt werden. Der Beitrag skizziert daher kurz Ergebnisse einer work in progress-Analyse.
Elena Suarez Cronauer: “Gendermodellierung in Briefmetadaten”
Für die Untersuchung von Frauen und ihrer(/n) Lebenswelt(/en) bieten Briefe als historische Quelle vielversprechende Perspektiven: Sie sind hierbei „Ausdruck weiblichen Lebens und Erlebens“ (Barbara Becker-Cantarino). Gleichwohl sind die Vorüberlegungen und Modellierungsebenen, gerade auch in der Arbeit mit digitalen Methoden, entscheidend, um diese Zugänge über Briefe zu finden. Anhand des Netzwerks der frühromantischen Korrespondenzen soll kurz diskutiert werden, wie mit diesen Herausforderungen in Bezug auf Modellierung von Gender umgegangen werden kann und welche Chancen für die Forschung zu Frauen um 1800 dadurch entstehen.
Positionen aus Infrastrukturprojekten
Andrea Gruber: “Gender Data Gap - Kontrollierte Vokabulare und Regelwerke”
Die Überprüfung und Aktualisierung von Klassifikationssystemen und Normdateien ist entscheidend, um die Gender Data Gap zu schließen und adäquate, inklusive Repräsentationen von Gender und Diversität zu gewährleisten. Dafür müssen historische Bias und zeitgenössische Definitionen verstanden, Regelwerke analysiert und neue Modelle entwickelt werden. Der Impulsbeitrag zeigt, wie diese Modelle mit bestehenden Infrastrukturen verbunden werden sollten, um die fortlaufende Nutzung alter Klassifizierungen zu ermöglichen, Konsistenz zu gewährleisten und zukünftige Anforderungen zu antizipieren.
Frederike Neuber: “Sieben Schritte zur Überwindung der Gender Data Gap”
An der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften entstehen zahlreiche digitale Editionen, die fast alle um namenhafte Männer wie Aristoteles, Alexander von Humboldt und Jean Paul konzipiert wurden. Da sich hingegen kein einziges Projekt explizit einer weiblichen Protagonistin widmet, schlagen TELOTA und die Frauenvertretung der BBAW sieben Schritte zur Überwindung der Gender Data Gap (Jahnke et al. 2023) vor, die der Beitrag schlagwortartig thematisieren wird. Der Schritt der Modellierung von Geschlecht in den TEI-Daten erfolgt seit kurzem mit der Software ediarum (Dumont/Fechner 2014/15) und steigert nicht nur die Findbarkeit und Sichtbarkeit von Frauen und anderen marginalisierten Personengruppen, sondern macht die Kategorie „Geschlecht“ auch in Zusammenhang mit anderen Faktoren aus intersektionaler Perspektive erforschbar (Neuber et al. 2024, 3-4).
Organisation und Moderation
Jana-Katharina Mende, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Literaturwissenschaft;
Claudia Resch, Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien, Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage, Abteilung Literatur- und Textwissenschaft.
Bibliographie
- Ash. 2023. "FLINTA." In Vielfalt. Das andere Wörterbuch , hg. von Sebastian Pertsch, 100-102, Berlin: Dudenverlag.
- Babka, Anna. 2004. "Anfänge und Hintergründe feministischer Literaturtheorie." In Einführung in die Literaturtheorie , hg. von Martin Sexl, 191-222. Wien: Facultas.
- Baum, Constanze. 2020. "Kanon und Digitalität." In Goethe Yearbook 27, 225-232,
- Bordalejo, Barbara und Roopika Risam (Hg.). 2019. Intersectionality in Digital Humanities . Leeds: Arc Humanities Press.
- Caughie, Pamela L., Emily Datskou und Rebecca Parker. 2018. "Storm clouds on the horizon: feminist ontologies and the problem of gender." Feminist Modernist Studies 1 (3): 230–42. doi:10.1080/24692921.2018.1505819.
- D'Ignazio, Catherine und Lauren F. Klein. 2020. Data Feminism . Cambridge: The MIT Press.
- Dumont, Stefan, and Martin Fechner. 2014/2015. “Bridging the Gap: Greater Usability for TEI Encoding.” Journal of the Text Encoding Initiative, Issue 8, 2014/2015, https://doi.org/10.4000/jtei.1242.
- Flüh, Marie, und Mareike Schumacher. 2020. "m*w - Gender-Stereotype in der Literatur." https://msternchenw.de/ (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Jahnke, Selma, Lou Klappenbach, Frederike Neuber und Elke Zinsmeister. 2024. “Bericht zum 1. Workshop „Gender & Data" am 23. März 2023.” https://edoc.bbaw.de/frontdoor/index/index/docId/4034 (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Juen, Sara. 2021. "Feminismus, Algorithmen, Gender-Data-Gap und was das alles mit Bibliotheks- und Informationswissenschaft zu tun hat." LIBREAS. Library Ideas 39. doi:10.18452/23448. https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/24175/juen.pdf?sequence=1 (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Lang, Sarah, Luise Borek und Nora Probst. 2023. "Data Feminism in DH: Hackathon und Netzwerktreffen". https://zenodo.org/records/7715422 (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Leyrer, Katharina. 2023. "Bye, Bye, Bias! Digital-Humanities-Projekte informationsethisch überprüfen und gestalten mit Value Sensitive Design." In Fabrikation von Erkenntnis – Experimente in den Digital Humanities, hg. von Manuel Burghardt, Lisa Dieckmann, Timo Steyer, Peer Trilcke, Niels Walkowski, Joëlle Weis, Ulrike Wuttke. (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Sonderbände, 5). DOI: 10.17175/sb005_003_v2 (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Losh, Elizabeth und Jacqueline Wernimont. 2019. "Bodies of Information: Intersectional Feminism and the Digital Humanities." In: Debates in the Digital Humanities . Minneapolis: University of Minnesota Press.
- Neuber, Frederike, Selma Jahnke, Lou Klappenbach und Elke Zinsmeister. 2024. “Bericht zum 2. Workshop „Gender & Data" am 21. März 2024.” https://edoc.bbaw.de/frontdoor/index/index/year/2024/docId/4035 (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Saeger, Joni. 2016. "Missing Women, Blank Maps, and Data Voids: What Gets Counted Counts." https://civic.mit.edu/2016/03/22/missing-women-blank-maps-and-data-voids-what-gets-counted-counts/ . (zugegriffen: 18. Juli 2024).
- Seifert, Nicole. 2021. Frauen Literatur: Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt . 1. Auflage. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
- Weitin, Thomas. 2021. "Digitale Literaturgeschichte: Eine Versuchsreihe mit sieben Experimenten." Berlin: J. B. Metzler.