Die Modellierung von intertextuellen Bezügen in genealogischen Texten
https://zenodo.org/records/14943022
Die Genese genealogischen Wissens in islamischen Gesellschaften
Dieser Beitrag 1 ist Teil eines Promotionsprojekts, das die Genese von genealogischem Wissen in islamischen Gesellschaften zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert untersucht. Dabei soll beantwortet werden, wie und von wem genealogisches Wissen produziert, überprüft, verifiziert, adaptiert und verbreitet wurde. Im Zentrum des Projekts steht eine besondere Form der Verwandtschaft, nämlich die Abstammung vom Propheten Muḥammad (gest. 632). Personen, die sich auf eine solche Abstammung berufen konnten, hatten oft Zugang zu besonderen sozialen und finanziellen Privilegien (Sebti 1986, Touati 1992, Morimoto 2012, Savant und De Felipe 2014, Bernheimer 2013, Mayeur-Jaouen 2023).
Fallstudie: Der Bagdader Gelehrte und Sufi ʿAbd al-Qādir al-Jīlānī
Im Mittelpunkt des Dissertationsprojektes stehen der Bagdader Gelehrte und Sufi ʿAbd al-Qādir al-Jīlānī (gest. 1166) und seine Nachkommen, die sich unter anderem auf der Iberischen Halbinsel, in Marokko und Syrien niedergelassen haben. al-Jīlānī wurde und wird von vielen als Nachkomme des Propheten Muḥammad angesehen, während andere seine prophetische Abstammung schon früh in Frage stellten. Nach seinem Tod wird er schnell zu einem der bedeutendsten Heiligen der islamischen Welt und gilt seinen Anhängern als Begründer der Sufi-Bruderschaft Qādiriyya (Chabbi 1973, Malik 2019, Held 2022).
Quellenkorpus: Von biographischen Sammelwerken bis zu hagiographischer Literatur
Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurde ein Korpus mit 61 Texten zusammengestellt, die sich mit al-Jīlānī und seinen Nachkommen befassen. Dazu zählen Einträge in biographischen Sammelwerken, hagiographische Texte über al-Jīlānī, lokale Familiengeschichten, genealogische Sammelwerke und genealogische Abhandlungen. In diesen Werken finden sich ab dem 17. Jahrhundert auch visuelle Darstellungen von Familienstammbäumen und mnemonische Gedichte (Abb. 1, 2).
Zielsetzung
Ziel des Posters ist es zu prüfen, ob sich die intertextuellen Bezüge in den untersuchten Quellen sinnvoll modellieren lassen, um sie in einer Datenbank zu erfassen und auszuwerten. Eine solche Auswertung wäre relevant, um Veränderungen in der Zitierpraxis und im Umgang mit genealogischem Wissen im diachronen Vergleich herausarbeiten zu können. Auf diese Weise könnte ein Wandel im Umgang mit historischen Quellen sichtbar gemacht werden, der sich im Laufe der Jahrhunderte zu vollziehen scheint.
Beispieltext: „Das scheinbare Geheimnis“ von Sulaymān b. Muḥammad al-Ḥawwāt
Im 18. Jahrhundert verfasste Sulaymān b. Muḥammad al-Ḥawwāt (gest. 1816) das Werk „Das scheinbare Geheimnis“ ( al-Sirr al-ẓāhir ) über al-Jīlānī und seine Nachkommen in Fes, Marokko. In diesem Werk überprüft der Autor alle Informationen, die ihm aus früheren Werken bekannt sind (z.B. Anzahl der Kinder, Lebensdaten, Aufenthaltsorte usw.). Das Ergebnis ist ein sehr dichter Text, der zahlreiche intertextuelle Bezüge aufweist und auf eine Vielzahl von Autoren und Werken verweist. Diese intertextuellen Bezüge zeigen sich beispielsweise, wenn der Autor Sulaymān al-Ḥawwāt eine Aussage eines früheren Autors widerlegen möchte:
Die Überlieferung von Ibn Ḥazm und denjenigen, die mit ihm erwähnt wurden, auch wenn sie zu den Verifizierern gehören, ist schwach, wie wir bereits erwähnt haben. Die Entfernung von etwas führt dazu, dass man es nicht überprüfen kann, und die Nähe hat Einfluss auf die Bewertung jeder Angelegenheit, sei sie vergangen oder gegenwärtig. Daher sollte man zu dem tendieren, was vom Wissen und den Vorzügen in der Stadt Fes bekannt ist, und daran sollte man festhalten und nichts anderes akzeptieren. So sagt man [am besten]: „Das ist bei uns die authentische Version.“ Und ähnlich argumentierte Ibn Ḥajar mit seiner Aussage über Ibn Khaldun : „Er hatte kein klares Verständnis für die östlichen Länder in Bezug auf sein Buch al-ʿIbar , da er aus Tunis stammt und dort geboren wurde, obwohl er unsere Aussage unterstützt hat.“ ( eigene Übersetzung, Hervorhebungen der Übersetzerin )
Um eine bestimmte Behauptung zu widerlegen, führt der Autor eine verbreitete Lehrmeinung an und zitiert Ibn Ḥajar al-ʿAsqalānī, der über Ibn Khaldūn sagte, dieser habe nur unzureichende Kenntnisse über ferne Regionen. Im Auszug aus „Das scheinbare Geheimnis“ bezieht sich der Autor auf vier Prätexte:
Diese Bezüge können bestärkend, widerlegend oder neutral sein. Hier dient der erste Bezug zur Widerlegung von Ibn Ḥazm, die nächsten zwei stützen das Urteil des Autors, und der vierte indirekte Bezug auf Ibn Khaldūn unterstützt es ebenfalls.
Methode: Belege als Form der Intertextualität
Das Poster soll zeigen, inwiefern direkte und indirekte Verweise auf Belege und Quellen in genealogischen Texten als eine Form von Intertextualität verstanden und modelliert werden können. Dabei wird auf die von Horstmann et al. (2023a, 2023b) vorgestellte Kernontologie der Intertextualität zurückgegriffen, nach der intertextuelle Beziehungen zwischen Texten mit der n-ären Klasse :IntertextualRelation modelliert werden (siehe Abb. 3).
Erweiterung der Kernontologie um Verweise auf andere Texte und Resultate
In den zu untersuchenden Texten kommen verschiedene Arten von Verweisen auf andere Texte vor, die es zu modellieren gilt. Eine besonders häufige Art ist der Verweis auf eine Autorität. Für die Modellierung solcher Textverweise orientieren wir uns zunächst an der HiCO (Historical Context Ontology) (Daquino und Tomasi 2015), die Eigenschaften von CiTO (Citation Typing Ontology) (Peroni und Shotton 2012) nutzt, um intertextuelle und argumentative Bezüge herzustellen.
In einem ersten pragmatischen Ansatz verwenden wir zur Erweiterung der Kernontologie die Zitattypen aus der CiTO und integrieren diese analog zum Vorgehen bei der Klasse cito:Citation mittels OWL2-Punning 3 zur Spezifikation intertextueller Verweise als :IntertextualSpecification . Die Klasse cit o :Citation entspricht der Klasse :IntertextualRelation in der Kernontologie zur Intertextualität. Damit kann z.B. die intertextuelle Beziehung eines Belegs durch Verweis auf eine Autorität mit cito:citesAsAuthority entsprechend spezifiziert werden.
Die explizite Modellierung der intertextuellen Beziehungen dient als Grundlage für die Modellierung der arg umentativen Zusammenhänge. Mit HiCO können dazu z.B. sich gegenseitig widerstreitende Positionen zur prophetischen Abstammung explizit und damit zugänglich für Analysen und Visualisierungen gemacht werden (siehe Abschnitt zur Zielsetzung).
Fußnoten
Bibliographie
- Bernheimer, Teresa. 2013. The Alids. The First Family of Islam, 750-1200 . Edinburgh: Edinburgh University Press.
- Chabbi, Jacqueline. 1973. „ʿAbd al-Kadir al-Djilani personnage historique: Quelques Elements de Biographie“. Studia Islamica , Nr. 38, 75–106. .
- Daquino, Marilena, und Francesca Tomasi. 2015. „Historical Context Ontology (HiCO): A Conceptual Model for Describing Context Information of Cultural Heritage Objects“. In Metadata and Semantics Research , herausgegeben von Emmanouel Garoufallou, Richard J. Hartley, und Panorea Gaitanou, 544:424–36. Communications in Computer and Information Science. Cham: Springer International Publishing. .
- Ḥawwāt, Sulaymān b. Muḥammad al-. 2019. al-Sirr al-ẓāhir fī-man aḥraza bi-Fās al-sharaf al-bāhir min aʿqāb al-Shaykh ʿAbd-al-Qādir. Herausgegeben von Ḥasan Bilḥabīb. Silsilat al-rasāʾil wa-l-dirāsāt al-jāmiʿiyya. Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya.
- Held, Pascal. 2022. Baghdad during the time of ʻAbd al-Qādir al-Jīlānī . Piscataway: Gorgias Press.
- Horstmann, Jan, Christian Lück und Immanuel Normann. 2023a. „Systems of Intertextuality: Towards a formalization of text relations for manual annotation and automated reasoning“. Digital Humanities Quarterly 17 (3). .
- Horstmann, Jan, Christian Lück und Immanuel Normann. 2023b. Textliche Relationen maschinenlesbar formalisieren: Systeme der Intertextualität. DHd 2023 Open Humanities Open Culture. 9. Tagung des Verbands "Digital Humanities im deutschsprachigen Raum" (DHd 2023), Trier, Luxemburg. .
- Malik, Hamza. 2019. The Grey Falcon: The Life and Teaching of Shaykh ʿAbd al-Qādir al-Jīlānī . Brill: Leiden.
- Mayeur-Jaouen, Catherine. 2023. „Quête des ansāb et quête des ašrāf dans le monde arabe (XVe-XXe siècle): Introduction“. Oriente Moderno 103 (1): 3–35. .
- Morimoto, Kazuo, Hrsg. 2012. Sayyids and Sharifs in Muslim Societies . London: Routledge.
- Peroni, Silvio, und David Shotton. 2012. „FaBiO and CiTO: Ontologies for Describing Bibliographic Resources and Citations“. Journal of Web Semantics 17:33–43. .
- Savant, Sarah Bowen und Helena De Felipe, Hrsg. 2014. Genealogy and Knowledge in Muslim Societies . Edinburgh: Edinburgh University Press. .
- Sebti, Abdelahad. 1986. „Au Maroc: Sharifisme Citadin, Charisme Et Historiographie“. Annales. Histoire, Sciences Sociales 41 (2): 433–57.
- Touati, Houari. 1992. „Prestige Ancestral et Systeme Symbolique šarifien dans le Maghreb Central du XVIIe siècle“. Arabica 39 (1): 1–24.