Von der Theorie-Leere zur Theorie-Lehre: zur Arbeit am Starterkit DH Theorie

Geiger, Jonathan; Gengnagel, Tessa; Hegel, Philipp; Kleymann, Rabea; Lucke, Alexa
https://zenodo.org/records/14943244
Zum TEI/XML Dokument

Die Zahl der akkreditierten Studiengänge im Bereich der Digital Humanities ist in den letzten zehn Jahren deutlich gestiegen (vgl. auch ). Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass computationale Methoden, Tools und andere Formen der diskursiven Auseinandersetzung auch jenseits von Digital-Humanities-Studiengängen Eingang in die Lehre finden. Dabei tritt oftmals vor allem die Vermittlung von Kompetenzen in den Vordergrund. Schlagwörter wie data literacy , code literacy und AI literacy deuten bereits auf solche interdisziplinären Kompetenzprofile hin (vgl. Schmidt 2016). Insgesamt dominieren in den Studiengängen aber methodische und informatikorientierte Inhalte und nur selten finden sich explizit theorieorientierte Angebote in den Studienprogrammen, wie beispielsweise das Modul “Philosophy of Science and of Research in the Humanities” im Studiengang “Data and Discourse Studies” an der TU Darmstadt (vgl. ).

Die ausbaufähige Repräsentation von theorielastigen Inhalten gründet unter anderem in der Tatsache, dass für die Begriffe “Theorie” und “Theoretisieren” in den DH bislang kein einheitliches Verständnis vorliegt (vgl. Kleymann 2024). Die Theoriediskurse in den Humanities sind vielfältig. Spoerhase und Martus definieren das Theoretisieren als eine reflexive “Praktik” (2022, 170), die Teil eines Ensembles von unterschiedlichen Praktiken ist, wie z. B. dem Deuten, Beschreiben und Erklären. Diese Sichtweise legt nahe, dass die Theoriebildung ein aktiver und dynamischer Prozess ist. Kleymann erweitert diese Perspektive, indem sie vier unterschiedliche Ansätze zum Theoriebegriff in den DH beschreibt: 1. Theorie als Form der Reflexion, 2. Theorien als Teil von Interpretationspraktiken, 3. Theorie als Praxeologie und Teil der Datenmodellierung, 4. Theorie als referenzierbare Sammlung von Texten, Lektüren und Konzepten. Mit Bezug auf spezifische DH-Lehrkontexte wirft dies zunächst die Frage auf, welches Verständnis von Theorie(n) vermittelt werden soll bzw. welche Felder und Bereiche reflexiver Tätigkeit überhaupt dem Bereich “Theorie in der DH-Lehre” zugerechnet werden können. Was muss unter einer DH-Theoriekompetenz verstanden werden? Welche theoretischen Grundlagen sollen vermittelt werden? Welche Rolle spielen interdisziplinäre Dialogfähigkeit und die Erprobung und Reflexion kooperativer Forschung (vgl. Wuttke 2022, 50)? Wie unterscheidet sich die Integration von DH-Theorie in die Lehre im internationalen Vergleich (vgl. Clement und Carter 2017, 8, zur Dominanz von Kursen im Bereich History and Theory in den DH-Curricula in den USA)?

Die DHd Arbeitsgruppe Digital Humanities Theorie setzt sich für die Aggregation, Sichtbarmachung, Sammlung, Diskussion und Entwicklung von Theorie in den Digital Humanities ein – dies umfasst auch deren Vermittlung in der Hochschullehre. Aktuell arbeitet sie an einem “Starterkit DH Theorie: Grundlagen zur Epistemik der Digital Humanities Theorie”. Dabei handelt es sich um eine frei verfügbare und modular angelegte Lehr-Lernressource (Open Educational Resource), die von Studierenden und Lehrenden im Bereich Digital Humanities genutzt werden kann, um grundlegende Theorien und Theoretisierungsangebote kennenzulernen sowie diese kollaborativ, interaktiv und selbstgesteuert (vgl. Böhner und Mersch 2010, 229; Kunz et al. 2023) zu erschließen. Bei diesem Starterkit handelt es sich in erster Linie um eine Auswahl “klassischer” bis einschlägiger Publikationen, insbesondere aus der klassischen Wissenschaftstheorie, der Medienphilosophie, den Science and Technology Studies und aber auch aus Publikationen genuiner Digital Humanities, die sich auf theoretische oder methodologische Aspekte beziehen oder auf das Selbstverständnis der DH selbst. Das Starterkit ist auf die gesamte Breite der DH angelegt sowie multimodal, da hierunter explizit nicht nur Texte zu verstehen sind, sondern u. a. auch Datensätze und Software, die für ein Verständnis von Theorien in den DH unerlässlich sind oder die selbst Ausdrücke bzw. Formen von Theorien darstellen.

Bislang wurde insbesondere konzeptionell am Starterkit gearbeitet. Neben einem ersten virtuellen Vernetzungsworkshop im November 2023, für den gezielt sämtliche Arbeitsgruppen des DHd-Verbandes adressierten wurden, um ihre jeweilige Perspektive auf das Projekt aufnehmen und berücksichtigen zu können, wurde im Februar 2024 im Rahmen der DHd2024 in Passau ein Workshop veranstaltet. Dieser Workshop mit dem Titel “How to do Theory: Reflexive Praktiken in der DH-Lehre” umfasste eine Paneldiskussion und mehrere interaktive Open-Space-Sessions, in denen (1) Lehrformate, (2) bereits gemachte Erfahrungen mit Theorie-Lehre in den DH, (3) Grundlegendes zu Theoriediskursen in den DH und (4) Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Visualisierungen in diesem Kontext diskutiert worden sind.

Aktuell umfasst die Liste geeigneter Literatur knapp 40 Items. Diese Zusammenstellung stellt eine erste Auswahl dar, die gemeinsam mit der (deutschsprachigen) Digital-Humanities-Community erarbeitet wurde. Die Auswahlkriterien sind ebenfalls Gegenstand der Diskussion; derzeit bieten “Einschlägigkeit”, “Interdisziplinarität” und “Repräsentativität” Orientierungspunkte. Die Systematik der Module (ob nun nach kohärenten Themenblöcken, DH-Teildisziplinen oder Forschungsprozessschritten) soll variabel kombinierbar sein, um multiple Perspektiven auf die Items des Starterkits zu ermöglichen. Innerhalb der Module sind Beschreibungsstrukturen angedacht, die an Modulhandbücher angelehnt sind (z. B. Inhalte des Lernmoduls und Lernziele). Die ersten Module, deren Publikation für Anfang 2025 geplant ist, sollen auf der DHd2025 evaluiert werden.

Das Poster zeigt die interdisziplinären Hintergründe, das iterative Vorgehen und den Entwicklungsprozess des Starterkits im Sinne eines agilen Ansatzes. Die Matrix der variablen Modulstruktur sowie bereits publizierte Module werden präsentiert sowie Herausforderungen und Möglichkeiten skizziert. Das Poster lädt die interessierte Fachcommunity dazu ein, das Starterkit der AG Digital Humanities Theorie zu ergänzen und das redaktionelle Team zu erweitern.


Bibliographie

  • Böhner, Marina und André Mersch. 2010. “Selbststudium und Web 2.0.” In Digitale Lernwelten. Konzepte, Beispiele und Perspektiven , hg. von Kai-Uwe Huggert und Markus Walber. Wiesbaden.
  • Clement, Tanya E. und Daniel Carter. 2017. “Connecting Theory and Practice in Digital Humanities Information Work.” Journal of the Association for Information Science and Technology 68: 1385–1396. DOI: 10.1002/asi.23732
  • Kleymann, Rabea . 2024. “Theorie.” Version 2. In Begriffe der Digital Humanities. Ein diskursives Glossar , hg. von AG Digital Humanities Theorie des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum e. V. (= Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften / Working Papers, 2). Wolfenbüttel. DOI: 10.17175/wp_2023_013_v2  
  • Kunz, Tanja, Matthias Buschmeier, Jens Ciecior, Karima Lanius und Stephanie Wollmann. 2023. “Digital Open Education im Bachelor-Studium. Lesen und Schreiben in LMS-basierten Selbstlernkursen im Bereich der deutschsprachigen Literaturgeschichte”. In MiDu. Medien im Deutschunterricht 5/1 (2023): 1–16. DOI: .
  • Martus, Steffen und Carlos Spoerhase . 2022. Geistesarbeit. Eine Praxeologie des Geisteswissenschaft . Frankfurt am Main.
  • Schmidt, Benjamin . 2016. “Do Digital Humanists need to Understand Algorithms?” In Debates in the Digital Humanities 2016 , hg. von Matthew K. Gold und Lauren F. Klein. Minneapolis.
  • Wuttke, Ulrike . 2022. „Wege bereiten, vermitteln und Denkräume schaffen! Reflexionen zu institutionellen und infrastrukturellen Erfolgsfaktoren für Digital Humanities an deutschen Universitäten auf Grundlage von Expert*inneninterviews.“ In Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften . Wolfenbüttel. DOI: 10.17175/2022_006 .