Interview Chronology Analysis (ICA): Verläufe von (lebensgeschichtlichen) Interviews visuell analysieren
https://zenodo.org/records/14943020
In der deutschen Oral History hat sich das lebensgeschichtliche Interview als Standardverfahren durchgesetzt. Das von Fritz Schütze (1983) entwickelte und von Lutz Niethammer (1985) in die Geschichtswissenschaft eingeführte Interviewformat kommt seit den 1980er Jahren in Deutschland zum Einsatz und zeichnet sich insbesondere durch seine offene erste Interviewphase aus, in der die Interviewten animiert werden, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Das Poster stellt mit der Interview Chronology Analysis (ICA) ein Tool vor, das Verläufe ebensolcher Interviews visuell darstellt. Zugrunde liegt diesem ein im Rahmen von Oral-History.Digital (OH.D) entwickeltes Topic Modell. Inhalte und Themenwechsel können durch die Visualisierung im Interviewverlauf lokalisiert und zusätzlich mit Sprechanteilen von Interviewer:innen und Interviewten korreliert werden. Damit können einerseits Textpassagen und Suchtreffer – wie im Online-Portal OH.D – in den Gesamtzusammenhang eines Interviews eingeordnet werden. Andererseits stellt die ICA einen neuen Ansatz dar, Erzählstrukturen zu analysieren. So können etwa Interviewpraxen wissenschaftstheoretisch und -historisch systematisch erforscht werden (der Prototyp ist noch in Entwicklung: https://github.com/moebusd/interview_chronology_analysis).
Zur Methodengeschichte des lebensgeschichtlichen Interviews
Fritz Schütze entwickelte ab den späten 70er Jahren die Methode des biographisch-narrativen Interviews, etwa zeitglich kam Lutz Niethammer in den USA in Berührung mit der Oral History und konzipierte eine eigene Variante der Interviewführung, für die er auch auf Schützes Vorarbeiten aufbaute. Der idealtypische Ablauf eines lebensgeschichtlichen Interviews sieht drei Phasen vor:
Verfügen die Interviewtranskripte über Timecodes und Sprecherkürzel, kann die Einhaltung dieser Prinzipien und die Dynamik zwischen Interviewenden und Interviewten mit digitalen Mitteln gut visuell dargestellt und analysiert werden. Sollen Inhalte in die Analyse einbezogen werden, ist eine Erschließung mit Schlagworten, Kapiteln oder Zwischenüberschriften notwendig. Diese kann manuell oder mit der entsprechenden Expertise auch halb- oder vollautomatisch erfolgen – etwa, wie im Forschungsprojekt OH.D, mit Topic Modeling. Ein weiterer Vorteil einer solchen Erschließung ist die Möglichkeit, über die Analyse aller Ebenen – Zeit, Sprechendenrolle, Inhalt – auch erzähltheoretische Untersuchungen durchzuführen. Insbesondere die Chronologie einer Erzählung ist immer wieder als bedeutendes Merkmal von verschiedenen Disziplinen untersucht worden (Schütze, 1981; Rosenthal, 1995; Alheit, 2007; Martinez/Scheffel, 2019).
Oral History digital
Durch die Arbeit an der Plattform OHD (OHD, https://www.oral-history.digital) liegen hunderte digitaler Interviewtranskripte vor, von denen ein Großteil akkurat mit Timecodes und Sprecherwechseln ausgezeichnet ist. Die Berechnung der prozentualen Sprechanteile erfolgt auf Grundlage der Segmentierung der Transkripte für die Sprecherwechsel. Für jedes Segment wird ebenfalls die Sprechfrequenz berechnet. Aus dieser Korrelation lässt sich die Dynamik des Gesprächs erfassen: in welchen Passagen wird hektisch gesprochen, in welchen zurückhaltend? Wie beeinflussen Sprecherwechsel die Sprechfrequenz? Darüber hinaus repräsentiert die Verlaufsmatrix auch die chronologische Verteilung von Themen über einen Interviewverlauf.
Die Themen wurden mit Hilfe von Topic-Modeling aus dem OHD-Korpus errechnet, von einer Gruppe Oral Historians interpretiert, gelabelt und geclustert (Bayerschmidt/Möbus, im Erscheinen; Franken/Möbus 2024; Hodel et al., 2022;). Das Topic Model wurde mit einem LDA-Modell in MALLET berechnet, allerdings mit Hilfe eines aus Gensim entnommen Wrappers für die Programmiersprache Python. In einer aufwändigen Evaluationsroutine, die quantitative (Coherence-Scores) und qualitative Methoden (Scalable Readings von Topic-Listen und damit verknüpften Interviewpassagen) kombinierte, konnte für das zu diesem Zweck zusammengestellte OHD-Korpus (knapp 1.000 repräsentative Interviewtranskripte aus über 20 Forschungsprojekten) eine Anzahl von 100 Topics als optimal bestimmt werden. Das finale Labeln der Topiclisten durch eine Gruppe erfahrener Oral Historians zur besseren Darstellung im Online-Archiv war gleichzeitig die finale Qualitätssicherung.
Hintergrund des Trainings eines Topic Modells war die Anforderung im Rahmen von OHD, automatisiert Schlagwörter für ein Suchregister und Zwischenüberschriften für die Interviewtranskripte erstellen zu können. Die Visualisierung von Interviewverläufen begegnet darüber hinaus dem Problem, dass User:innen in Online-Archiven über Volltextsuchen häufig zielgenaue Interviewausschnitte geliefert bekommen und der so wichtige Gesamtzusammenhang des Interviews aus dem Blick gerät (Leh, 2021). Die ICA kann auf einen Blick Kontextualisierung anbieten und darüber hinaus narrative Zusammenhänge aufzeigen, die bei isolierten Einzeltreffern nicht berücksichtigt werden (vgl. Abb. 1). Die X-Achse der Verlaufsmatrix bildet den zeitlichen Verlauf des Interviews in Minuten, die Y-Achse die Topics ab. Eine Stärke des Topic-Modeling ist, dass auch thematische Überlagerungen gezeigt werden können, da der gewählte Algorithmus (LDA) die Gewichtung sämtlicher Topics über jede Interviewpassage ausgibt. Die Kombination von Themenkorrelationen und Gesprächsdynamiken ermöglichen einen direkten Einblick in mögliche Zusammenhänge zwischen Gesprächsführung und Themenwechseln.
Einblicke
Neben der Orientierungshilfe kann die ICA auch als tiefergehendes Analysetool genutzt werden. Ein wissenschaftsgeschichtlich begründetes Erkenntnisinteresse wäre etwa, ob die Interviewstruktur dem Idealtypus des drei-Phasen-Interviews folgt. Dabei lohnt sowohl ein vertikaler blick auf unterschiedliche Interviewer:innen innerhalb eines Forschungsprojekts als auch ein horizontaler Blick auf mögliche Veränderungen in der Interviewführung über die letzten vier Jahrzehnte. Bereits der vertikale Blick in das Pionierprojekt der deutschen Oral History – Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet (LUSIR) (Niethammer, 1983) – zeigt deutliche Unterschiede zwischen den Interviewenden auf. Das Spektrum reicht von Interviews, in denen mustergültig drei Phasen zu erkennen sind: äußerste Zurückhaltung der Interviewer:innen und viele Themenwechsel in der ersten Phase (Stegreiferzählung), ein etwas höherer Sprechanteil der Interviewer:innen bei bleibenden Themenwechseln in der zweiten Phase (Nachfragen) und ein gleichbleibender Sprechanteil der Interviewer:innen in der dritten Phase bei deutlicher thematischer Fokussierung (Forschungsfokus). Andere Interviewer:innen führen kurze Interviews, die deutlich dialogischer ausfallen und von Anfang an thematisch fokussiert sind. Zwischen diesen Extremen gibt es viele interessante Verlaufsstrukturen zu entdecken, deren Analyse einen wichtigen Beitrag zur Methodologie und Historiographie der Oral History und angrenzender qualitativ forschender Disziplinen darstellt.
Bibliographie
- Alheit, Peter. 2007. Geschichten und Strukturen. Methodologische Überlegungen zur Narrativität. In: Zeitschrift für qualitative Forschung 8 (2007) 1, S. 75-96.
- Bayerschmidt, Philipp, Dennis Möbus. Im Erscheinen. Quantität und Qualität. Inhaltverzeichnisse für Korpora lebensgeschichtlicher Interviews computergestützt erstellen. In: BIOS - Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen.
- Franken, Lina, Dennis Möbus (2024). Mensch und Maschine als Team. Exploratives Topic Modeling und manuelle Annotation in der qualitativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 9.
- Hodel, Tobias, Dennis Möbus, Ina Serif. 2022. Von Inferenzen und Differenzen. Ein Vergleich von Topic-Modeling-Engines auf Grundlage historischer Korpora. In: Selin Gerlek, Sarah Kissler, Thorben Mämecke, Dennis Möbus (Hg.). Von Menschen und Maschinen: Mensch-Maschine-Interaktionen in digitalen Kulturen. Hagen. 185–209.
- Leh, Almut. 2021. Digitale Zeitzeugenschaft – Wenn Algorithmen das digitale Gedächtnis übernehmen Erfahrungen mit künstlicher Intelligenz im Archiv „Deutsches Gedächtnis“. In: Archivpflege in Westfalen-Lippe 95, 7, S. 7-12.
- Lehmann, Albrecht. 1983. Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen. Frankfurt am Main/New York.
- Martínez, Matías, Michael Scheffel. 2019. Einfürhung in die Erzähltheorie. München.
- Niethammer, Lutz (Hg.). 1983. „Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll.“ Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, Band 1. Berlin und Bonn.
- Niethammer, Lutz. 1985. Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History. In: Lutz Niethammer, Alexander von Plato (Hg.). „Wir kriegen jetzt andere Zeiten.“ Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, Band 3. 392–445, Berlin und Bonn.
- Rosenthal, Gabriele. 1995. Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt am Main/New York.
- Schütze, Fritz. 1981. Prozeßstrukturen des Lebensablaufs. In: Matthes, Joachim, Arno Pfeifenberger, Manfred Stosberg (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg, S. 67-156.
- Schütze, Fritz. 1983. Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis 3. 283–294.