Protokolle Modellierung einer administrativen Textsorte

Arndt, Nadine; Baddack, Cornelia; Fischer-Nebmaier, Wladimir; Gleixner, Sebastian; von Hindenburg, Barbara; Jüngerkes, Sven; Kurz, Stephan; Schrott, Maximilian
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Protokolle, Protokolledition, analog/digital

Administrative Textsorten, darunter prominent das Protokoll, stehen im Zentrum jeder Bürokratie, sie sorgen für das Funktionieren von Wissenstransfer innerhalb von Institutionen über Zeit und zwischen Akteuren. Was sie festhalten, ist relevant: Sie sind Quellen für die Forschung, sie sorgen in unterschiedlichen Verhältnissen aber auch für Organisationsgedächtnis, Verbindlichkeit und Transparenz innerhalb und zwischen Institutionen, Verwaltungseinheiten und der Gesellschaft. Das Panel fokussiert die Verantwortung der Überlieferung von Protokollen und fragt, wie Daten und Applikationen verfasst sein müssen, um der Gedächtnisfunktion von historischen “open governmental data” gerecht zu werden. Es geht dabei von einer relativen Stabilität der Formen protokollarischen administrativen Handelns aus, die weitgehend unabhängig davon ist, ob das betreffende Protokoll z.B. staatliche, privatwirtschaftliche, akademische, glaubensgemeinschaftliche oder sonstige Gremien betrifft. An der Konzeption des Panels sind einige große Editionsprojekte aus dem deutschsprachigen Raum beteiligt, die bereits mit digital veröffentlichten Protokollkorpora hervorgetreten sind; die Anwendbarkeit der im Panel erarbeiteten Ergebnisse auf andere protokollführende Körperschaften ist Gegenstand der geplanten Diskussion.  

Der Textsorte Protokoll wurde zuletzt auch vonseiten der Text- und Medienwissenschaften mit je unterschiedlicher Schlagseite auf literaturwissenschaftlichen, textpragmatischen und geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen Aufmerksamkeit zugewendet, die zumindest grobe Umrisse einer Bestimmung des Protokolls als Textsorte administrativen oder bürokratischen sozialen Handelns ermöglicht (cf. Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005, in Vorbereitung Plener/Werber/Wolf 2022). 

Gemeinsam ist Protokollen (vom Beschluss- zum Verbatimprotokoll, vom Tonbandmitschnitt zu Sitzungsberichten) im Wesentlichen auch über Grenzen der sie verhandelnden Körperschaften hinweg, dass sie sich auf ein temporal bestimmtes Ereignis beziehen, an dem eine endliche Anzahl von Teilnehmer/inne/n beteiligt war, das im häufigsten Fall eine mehr oder weniger formalisierte Agenda mit einer endlichen Zahl an Tagesordnungspunkten aufweist und das sich üblicherweise in einem definierten institutionellen Zusammenhang (einer Behörde, einem Berufsverband, einer Körperschaft etc.) ereignet hat. Die Überlieferung der materiellen Fixierung durch bspw. Protokollführer/innen ist in der Regel innerhalb der Institution festgesetzt, ebenso wie ihre Ablage und archivarische Behandlung reglementiert sind. 

Der Fokus des Panels liegt auf dem Abgleich der Herangehensweisen von bestehenden Editionsprojekten, die sich vorrangig mit Protokollen auseinandersetzen – sie haben, wie Vorgespräche zeigten, ähnliche Ausgangslagen bei der Bewältigung von „Altbausanierung“ (Neuber/Schaßan/Kasper/Gödel/Stäcker 2020), aber auch bei der Erstellung von Druckvorlagen im Rahmen ihrer Umstellung in hybrides Single-source-Publishing. 

Die meisten dieser Protokolleditionsprojekte sind als Digitale Editionen angelegt und verwenden TEI-XML unterschiedlicher Auszeichnungstiefe. Überlappungen bestehen unter anderem mit den Bestrebungen, die Parlamentssitzungen verschiedener europäischer Staaten in einem TEI-Schema miteinander vergleichbar zu machen (Parla-CLARIN/teiParla, cf. Erjavec / Pančur, Andrej. (2019), mit den Interessen von Korpora aus Politik- und Rechtswissenschaften (vgl. etwa saschagobel/legislatoR: Interface to the Comparative Legislators Database oder https://zenodo.org/communities/sean-fobbe-data/ ), oder mit den Überlegungen zur Überarbeitung des TEI-Elements <event> (cf. Fritze/Klug/Kurz/Steindl, 2019 und Fritze/Kurz/Klug/Schlögl/Steindl 2020 ).

 

Beteiligte

Die Ministerratsprotokolle Österreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie 1848–1918 – Digitale Edition

Die digitale Edition umfasst zwei der vier Ministerräte der Habsburgermonarchie bzw. Österreich-Ungarns, die in der editorischen Verantwortung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften liegen: Den österreichischen Ministerrat 1848–1867, dessen Protokolle in 28 Bänden abgeschlossen vorliegen und die in TEI retrodigitalisiert wurden, sowie den „cisleithanischen“ Ministerrat 1867–1918, wobei der erste Band dieser Serie in TEI vorliegt, während zum Zeitpunkt der Einreichung die Bände II, III/1 sowie VIII im seit 2018 erarbeiteten Editionsworkflow in hybrider Erscheinungsweise in der Endbearbeitung sind. Weiters sind unkorrigierte Volltexte zu jenen Bänden der Protokolle des Gemeinsamen Ministerrats 1867–1918 verfügbar, die von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ediert werden konnten. Zum Ungarischen Ministerrat 1867–1918 liegen Links zu Bilddigitalisaten und Listen der Sitzungen und Tagesordnungspunkte ebenfalls in der Webapplikation des Editionsprojekts unter https://mrp.oeaw.ac.at vor. Prosopographische und bibliographische Auxiliardaten zu verwendeter Literatur, identifizierten Personen, Institutionen und Orten sind ebenfalls verfügbar. Mehrere API-Endpoints ergänzen das Angebot. Das Editionsteam, das mit zwei Perspektiven am Panel vertreten sein wird, einer geschichtswissenschaftlich-editorischen (Fischer-Nebmaier) und einer eher technischen (Kurz), ist überzeugt, dass im Austausch mit anderen Protokolleditionen Verbesserungen in der Datenmodellierung, in der editorischen Arbeit, aber auch an den Interfaces möglich ist.

Editionsprogramm Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949–2005

Im Rahmen des vom Deutschen Bundestag geförderten Editionsprogramms erschließt die „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ (KGParl) seit 1993 in unregelmäßigen Abständen, seit 2013 systematisch einen einzigartigen Quellenbestand zur Geschichte der parlamentarischen Kultur und des Parlamentarismus in der Bundesrepublik für Forschung und Öffentlichkeit: Seit 1949 führen praktisch alle Fraktionen und größeren (Landes-)Gruppen des Bundestags Protokolle ihrer Sitzungen, die sukzessive für die Zeit von 1949 bis 2005 vollständig ediert und veröffentlicht werden. Seit Ende der 1960er Jahre treten zu den schriftlichen Protokollen unterschiedlichster Ausprägung (Wort-, Verlaufs- oder Ergebnisprotokoll bzw. Mischformen) Tonbandaufzeichnungen, die teilweise das schriftliche Protokoll als Basis des Organisationsgedächtnisses ergänzen oder ersetzen. Die zunächst klassisch in Buchform erschienene Edition wurde seit 2017 digitalisiert und ist in PDF(A)-Form mit Volltextsuche im Netz abrufbar. Seit Ende 2020 wird das Vorhaben in eine digitale Edition auf Basis von TEI-XML überführt, neuere Zeiträume ab 1976 erscheinen genuin digital und nur noch als Auswahledition im Print. Besonderes Augenmerk wurde bei der semantischen Auszeichnung auf die Identifizierung von Parlamentaria (Gesetzesvorhaben etc.) und v.a. von Personen (SprecherInnen und Erwähnte) gelegt, wobei auf Austauschbarkeit über Normdaten zunächst mit der GND und den MdB-Stammdaten des Open-data-Portals des Bundestags Wert gelegt wurde. (In Überlegung ist, in mittlerer Perspektive, soweit möglich, weitere Verknüpfungen z.B. mit legislatoR oder entstehenden (OAI-)Schnittstellen der Parteiarchive, die die Quellen für die Edition liefern, hinzuzufügen). So entsteht eine umfassende digitale Quellenbasis zu zentralen parlamentarischen Organisationseinheiten und damit zur Funktionsweise des politischen Systems der Bundesrepublik, die interdisziplinär nutzbar ist.

Die Protokolle des Bayerischen Ministerrats 1945–1962 Online

Anfang der 1990er Jahre begann die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in Zusammenarbeit mit der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns mit der historisch-kritischen Aufbereitung der Sitzungsprotokolle des Bayerischen Ministerrats nach 1945. Bis 2017 erschienen acht gedruckte Bände, die Diskussionen, Kontroversen und Beschlüsse der Bayerischen Staatsregierung in der Zeit der Besatzung und der frühen Bundesrepublik dokumentieren (retrodigitalisiert unter https://www.bayerischer-ministerrat.de).

Während diese Bände auf klassische Weise erstellt wurden, wurde 2014 beschlossen, die Edition auf einen digitalen, TEI-XML-basierten Ansatz und die Veröffentlichung im Internet umzustellen. Dabei mussten unterschiedliche Ziele in Einklang gebracht werden. Einerseits sollte durch umfängliche Anreicherung des Texts mit Metadaten und Verknüpfungen möglichst großer Nutzen aus den neuen Möglichkeiten gezogen werden. Andererseits galt es Rücksicht auf bestehende Strukturen des Projekts zu nehmen und den bisherigen Workflow möglichst wenig zu verändern oder durch übermäßigen Zusatzaufwand auszubremsen. Auch sollen die neuen Bände in möglichst unveränderter Form weiterhin noch gedruckt erscheinen.

Als Ergebnis dieser Anforderungen entstand das Editionskonzept “Oxydition” ( ), das inzwischen auch bei anderen Projekten der Kommission eingesetzt wird. Im Sommer 2019 wurde der neunte Band der Edition im Druck erfolgreich fertiggestellt. Die Onlineveröffentlichung ist für 2022 geplant.

Mit den Protokollen des Bayerischen Staatsrats 1799–1817 betreibt die Historische Kommission eine zweite Protokolledition. Seit 2006 wurden vier Bände im Druck und online (https://www.bayerischer-staatsrat.de) veröffentlicht, der fünfte und letzte Band ist derzeit in Arbeit. Die TEI-XML-Fassung wird im Zuge der Drucklegung mit erzeugt. Sie umfasst lediglich typographische Auszeichnungen. Hinzu kommt eine Anreicherung mit Verknüpfungen zwischen Editionsdokumenten und Register, externe Verlinkungen auf häufig zitierte, online verfügbare Ressourcen und Metadaten.

Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung

Mit der Edition „Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung“ erfüllt das Bundesarchiv den per Kabinettsbeschluss erhaltenen Auftrag der Bundesregierung, die über 30 Jahre alten Sitzungsniederschriften der Beratungen des Kabinetts und seiner Ausschüsse in wissenschaftlich kommentierter Form zu veröffentlichen. Seit Erscheinen des ersten Bandes 1982 wurden 32 Bände, zuletzt der Jahresband 1974, publiziert. Eine seit 2003 bestehende Online-Edition präsentiert die Inhalte der gedruckten Bände jeweils 18 Monate nach Veröffentlichung. Darüber hinaus stellt sie seit 2013 die bereits schutzfristfreien, aber noch unkommentierten Jahrgänge der Kabinettsprotokolle textkritisch bearbeitet zur Verfügung.

Um das veraltete, proprietäre Verfahren der Online-Stellung durch ein XML-basiertes Redaktions- und Publikationssystem abzulösen, wird seit Mai 2019 in Kooperation mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften die Arbeitsumgebung ediarum für die Edition der Kabinettsprotokolle weiterentwickelt, seit Juli 2020 im produktiven Betrieb. Ediarum ist eine von TELOTA an der BBAW seit 2012 entwickelte Lösung, die es Wissenschaftler*innen erlaubt, Transkriptionen in TEI-XML zu bearbeiten, mit Apparaten sowie Registern zu versehen und zu veröffentlichen. Dabei setzt TELOTA auf existierende Softwarekomponenten von Dritten auf, um die Entwicklungsarbeit auf spezifische Bedürfnisse und Anforderungen der editionswissenschaftlichen Fachcommunity zu fokussieren.

Der Dokumenttyp „Protokoll“ ist im Kontext der ediarum-Entwicklung neuartig, sodass die ediarum-Basiskomponenten angepasst und erweitert werden. Es entsteht eine generisch konzipierte Editionsumgebung für (Sitzungs-)Protokolle, die perspektivisch die Integration weiterer Editionen des Bundesarchivs ermöglicht und von anderen Akteneditionen nachgenutzt werden kann. Eine Veröffentlichung von ediarum.MINUTES ist für 2021 geplant.

Themen und Herausforderungen

Die vertretenen Protokolleditionsprojekte stehen vor ähnlichen Herausforderungen, etwa in den Bereichen

  • Quellenkritik (Was ist ein verbranntes Protokoll? Was ist der Quellenstatus eines Spiegel-Artikels, der anstelle eines Protokolls abgedruckt wird?) 
  • Modellierung (Wie ist die Textsorte Protokoll in allen ihren Formen in Markup zu fassen? Was an Beilagen, welche in Bezug auf Textsorten und Medien divers sind, nehmen die Projekte wie auf?)
  • Dateneingabe (HTR? Transkription von Stenographie? OCR? Abtippen?)
  • Verarbeitung und Datenanreicherung (NER, Metadatenerfassung, Erkennung textueller Muster; Nutzung von Norm- und Auxiliardaten)
  • der visuellen Präsentation, Webseite, Schnittstellen usf. 

Primäres Ziel ist die Entwicklung gemeinsamer Best-practice-Mittel bei der Edition von protokollartigen Texten, insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeiten von Mapping oder Harmonisierung der Datenmodelle der Projekte (etwa im Hinblick auf Metadatenerstellung oder APIs für Datenaustausch/Harvesting sowie Anbindung an Open Data-Portale). Daneben erwarten wir Hinweise zu wiederverwendbaren Werkzeugen, die sich in der Bearbeitung (nicht nur) dieser Textsorte bewährt haben.

Der Austausch zwischen den teilnehmenden Editionsprojekten soll öffentlich geführt werden, um anderen ähnlich gelagerten Projekten die Möglichkeit zu geben, sich an der Diskussion zu beteiligen.


Bibliographie

  • Erjavec, Tomaž, & Pančur, Andrej. (2019). Parla-CLARIN: TEI guidelines for corpora of parliamentary proceedings. Zenodo.
  • Fritze, Christiane / Helmut W. Klug / Stephan Kurz / Christoph Steindl. Recreating history through events (TEI 2019, Graz, 2019, )
  • Galloway, Alexander: Protocol. How Control Exists after Decentralization. Cambridge, Mass: MIT Press 2004.
  • Fritze, Christiane / Stephan Kurz / Helmut W. Klug / Matthias Schlögl / Christoph Steindl. Panel: Events: Modellierungen und Schnittstellen (DHd 2020, Paderborn )
  • Neuber, Friederike / Thorsten Schaßan / Dominik Kasper / Martina Gödel / Thomas Stäcker. (2020). Altbausanierung mit Niveau – die Digitalisierung gedruckter Editionen (DHd 2020, )
  • Niehaus, Michael; Hans-Walter Schmidt-Hannisa (2005). Das Protokoll: Kulturelle Funktionen einer Textsorte. Frankfurt: P. Lang.
  • Niehaus, Michael (2011). "Epochen des Protokolls". Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, hg. von Lorenz Engell und Bernhard Siegert, 2/2011: Medien des Rechts. Hamburg: Meiner, 141–156.
  • Siegert, Bernhard / Vogl, Joseph (2003, Hg.). Europa. Kultur der Sekretäre. Zürich und Berlin: diaphanes.