Digitale Kontextualisierung und Visualisierung der Quellen-Trias Bild-Text-Realia zu historischer Kleidung, ihrer Ausformung, Zeichenhaftigkeit und Dreidimensionalität

de Günther, Sabine; Freyberg, Linda
https://zenodo.org/records/6327959
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Kleidung als Untersuchungsgegenstand

Kleidung, Tracht und Mode kommunizieren die Vorstellung des Trägers von Schönheit, Status, Alter, Geschlecht, Körper, Form, sozialen Hierarchien und religiösen Unterschieden, kurz: die Identität des Trägers. Sie kennzeichnet den Träger auch als Teil einer gesellschaftlichen Schicht (Simmel 1905: 8-9). Das Aussenden von Zeichen und Botschaften wirkt als Orientierungsmechanismus in sozialen Interaktionen. Diese geben sowohl Formen als auch Normen vor, die durch Ökonomie, technischen Fortschritt und Sittengesetze reguliert werden. Die Kommunikation durch Kleidung auf der visuellen Ebene, dem "viscourse" (Cetina 1999, 245-263), ist gekoppelt mit der kulturellen Bedeutung von Zeichen und Symbolen, einer kodierten Sprache, die der Epoche und ihrem kulturellen Kontext immanent ist. Darüber hinaus wirkt der stets räumliche Aspekt der Kleidung als visueller Code. In ihrer Dreidimensionalität fungiert die Kleidung als "meaningful marker of space" (Höpflinger 2014: 177).

Kontextualisierung als Methode

Überlieferte Quellen zur Kleidung, Tracht und Mode finden sich in bildlichen Darstellungen, Schriftquellen, wie beispielsweise Luxusgesetzen, Nachlassinventaren oder Spottschriften, und überlieferten textilen Artefakten, wie beispielsweise Grabfunden. Jeder Quellentypus liefert Einzelinformationen, die interpretiert und in Verbindung mit weiteren Quellen quergelesen werden müssen, um eine Aussage über die Zeichenhaftigkeit von Kleidung treffen zu können (de Günther/Zitzlsperger 2018: 1-6).

Die Darstellung von Kleidung in Porträts, Genredarstellungen, Modegrafik oder Karikaturen liefert eine Reihe von Informationen über den oder die TrägerIn, über Identifikationsmuster, den kulturellen Kontext oder die Intention des Malers oder der Malerin. Oft genug wird jedoch hybride oder unauthentische Kleidung abgebildet und verwässert so die Sprache der Kleidung im Bild (Zitzlsperger 2015). Darüber hinaus erschwert die fehlende Mehransichtigkeit der dargestellten Kleidung die Identifizierung der dargestellten Person, ihrer Gewandung und die zeitliche oder geographische Einordnung. Eine Interpretation und Kontextualisierung von Gewand- und Schmuckelementen im Bild ist notwendig, das Hinterfragen und Querlesen des Bildes als Informationsquelle ratsam.

Während visuelle und textuelle Quellen eine Reihe von Informationen liefern, sind es die materiellen Objekte selbst, die für das Verständnis der Kleidergeschichte entscheidend sind. Textile Artefakte geben Auskunft über Schnitt, Konstruktion, Farbe, Volumen, Änderungen und textile Fertigungstechniken - kurz: über den materiellen Aspekt des Kleidungsstücks. Jene Materialität gibt Auskunft über den Wohlstand des Trägers, über Schnitt und Konstruktion, über textile Schichten, Verarbeitungsweisen und rückseitige Ausformungen. Diese Details liefern Informationen für disziplinenspezifische Fragestellungen; so etwa für Forschende der Material Cultures, als auch für Forscher*innen aus den Bereichen der visuellen Studien, der Sprach- und der Kulturwissenschaften.

In dem interdisziplinären Forschungs- und Digitalisierungsprojekt „Restaging Fashion. Digitale Kontextualisierung vestimentärer Quellen“, angesiedelt am UCLAB der Fachhochschule Potsdam1  in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz und dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg wird die Quellen-Trias Bild-Text-Realie mit unterschiedlichen bildgebenden Verfahren digitalisiert, die Daten werden modelliert, semantisch angereichert, annotierbar gemacht und in unterschiedlichen Granularitäten visualisiert. Die digitale Verzahnung verschiedener vestimentärer Quellen ist in der Forschung ein methodisches Desiderat. Der wissenschaftliche Ansatz liegt demnach in der inhaltlichen Kontextualisierung der Quellen und darüber hinaus in dem Angebot zu disziplinenübergreifenden und kollaborativen Forschungsmöglichkeiten.

Sammlungskonvolute

Den Ausgangspunkt für das Projekt „Restaging Fashion“ bildet die im späten 19. Jahrhundert zusammengetragene Gemäldesammlung des Berliner Verlegerehepaares Franz und Frieda von Lipperheide, welche sich heute im Besitz der Kunstbibliothek Berlin – Staatliche Museen zu Berlin befindet.

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Lipperheidesche Kostümbibliothek Berlin (Kunstgewerbemuseum), Fotografie, 1906

Das Konvolut umfasst über 600 Darstellungen, die Mode und Gewandung, Kostüm und Tracht aus dem 15. bis in das 19. Jahrhundert dokumentieren. Seit 1934 war dieser Sammlungsbestand nicht mehr zugänglich, eine Zusammenführung der nach dem 2. Weltkrieg in beide Landesteile verstreuten Gemälde erfolgte erst wieder 1997 am Berliner Kulturforum. Auch dort ist die Gemäldesammlung weder dokumentiert noch zugänglich. Im Kontext von „Restaging Fashion“ wurden in Zusammenarbeit mit der Restauratorin Thuja Seidel und dem Fotografen Dietmar Katz 270 Gemälde auf ihre Transportfähigkeit hin untersucht, wenn nötig gefestigt, entstaubt und auf einem Cruse-Tischscanner hochauflösend digitalisiert.

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Scan des Bildnisses von Virginia Guiccina (Guicciardina ?) im Alter von 20 Jahren, Anonym, 1560-1620, Lipperheidesche Kostümbibliothek

Die Gemäldesammlung war ursprünglich integraler Bestandteil der 1899 von Franz und Frieda von Lipperheide getätigten Schenkung an den Staat: diese enthielt neben den genannten Bildwerken einen großen Bestand an Textquellen, weitere grafische Quellen, darunter frühneuzeitliche Kostüm- und Reisebücher, Journale, Kalender und Almanache, Fotografien und Druckgrafiken, Handzeichnungen und eine große Zahl an Modezeitungen.

Für das Projekt „Restaging Fashion“ werden inhaltlich und formal relevante Handzeichnungen und Druckgrafiken aus dem Bestand ausgewählt, digitalisiert und mit den Gemälden und Miniaturen der Lipperheideschen Sammlung verknüpft. In einer webbasierten Forschungsinfrastruktur werden die digitalen Bilder eingebunden, die Werke inhaltlich tief erschlossen und mit Normdaten und Thesauri beschrieben. Die Sammlungskonvolute werden damit erstmals digital verfügbar gemacht.

Hinzu kommen Textquellen, die in Open Access verfügbar sind, sowie eine Auswahl an erhaltenen historischen Kleidungsstücken aus der Textilsammlung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. Diese exemplarisch ausgewählten Ensembles stehen in einem inhaltlichen oder formalen Zusammenhang zu den bildlichen Quellen und werden in ihrer Dreidimensionalität erfasst. Zusammengeführt werden somit Objekte, ihre Metadaten und Schriftquellen aus Archiven, Bibliotheken und Museen.

Der Fokus richtet sich dabei zunächst auf die historische und geografische Verortung von dargestellter Kleidung und darüber hinaus auf ihre Funktion als Kommunikationsmittel, als Distinktionsmittel sowie als Bildargumentation. Am Beispiel der genannten webbasierten Forschungsinfrastruktur werden die Möglichkeiten der Digitalisierung, der inhaltlichen Erschließung, der Visualisierung und deren Funktion als Erkenntnismittel aufgezeigt. Die Forschungsinfrastruktur beschreibt und dokumentiert nicht nur dieses Konvolut, sondern auch den Kontext zu weiteren Daten, die als LOD verfügbar sind.

3D-Digitalisierung

Ein besonderer Schwerpunkt in „Restaging Fashion“ liegt auf der prototypischen 3D-Digitalisierung historischer Kleidung. Die "Inszenierung" von Kleidern in Online-Sammlungen lehnt sich bisher weitestgehend an den Darstellungen in Print-Katalogen an: die vorherrschende Dokumentation umfasst eine Schauseite und Detailaufnahmen (Rijksmuseum 2017: 13 ff.). Die digitale Bilderfassung und photogrammetrische Verarbeitung dagegen wurde bisher vorrangig in Bereichen wie topographische Kartierung, Architektur und Ingenieurwesen und erst seit kurzem für 3D-Museumsobjekte wie Skulpturen oder Reliefbilder eingesetzt. Für die Erfassung der historischen Kleiderensembles steht in dem Projekt „Restaging Fashion“ die Erprobung eines objekt- und materialangemessenen 3D-Digitalisierungprozesses2  nach dem Prinzip der Photogrammetrie sowie eine webbasierte dreidimensionale Präsentation im Vordergrund. In diesem Projekt wird sowohl das einzelne Objekt in seiner Materialität und seinen Eigenschaften verfügbar gemacht als auch abstrakte Dimensionen und der größere Kontext der Sammlung aufgezeigt.

In der Photogrammmetrie wird die exakte Lage und Form eines Objektes durch Einzelbilder oder Sensortechnik gemessen, wobei 3D-Koordinaten die Positionen von Objekten in einem Raum definieren. Jede der vier Variablen, d.h. äußere Orientierung, innere Orientierung, Bildkoordinaten und weitere zusätzliche Punkte definieren die Parameter des Abbildungsprozesses und des Modells. Textilien stellen ein interessantes Fallbeispiel für die digitale Dokumentation dar; sie sind zerbrechlich, detailreich und sind oft schwierig zu stabilisieren (z.B. Federn, leichte Textilien). Photogrammmetrie erfordert zum einen eine Stabilisierung des Objekts während des Dokumentationsprozesses und zudem eine gleichmäßige Beleuchtung, um ein gutes Datenergebnis zu zeitigen.

Die detaillierte fotografische 3D-Reproduktion soll über die reine Präsentation hinaus mit einem Annotationswerkzeug erweitert werden. In einem weiteren Schritt kann eine Animation der 3D-Digitalisierung verwendet werden, um verblasste Farben, fehlende Kleiderelemente, realistische Bewegung, Dichte, Steifheit oder Bewegtheit des historischen Kleidungsstücks zu simulieren. Das Ziel ist es, einen Workflow zu erproben, um die Vorzüge und Grenzen der 3D-Reproduktionstechnologie für die Kleiderforschung zu untersuchen.

Inhaltliche Erschließung mit Normdaten, Vokabularien und Datenmodellierung

Eine ausführliche inhaltliche Beschreibung der Objekte bildet die Basis der semantischen Kontextualisierung. Die Objekte werden auf Metadaten-Ebene strukturell und inhaltlich erschlossen sowie semantisch angereichert. Als Wissensorganisationssystem fungiert eine technische Infrastruktur, erstellt in Omeka-S und hauptsächlich strukturiert in der erweiterbaren Ontologie CIDOC-CRM (Conceptual Reference Model)3 .

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Datenmodellierung in Omeka-S

Durch die Verknüpfung von Entitäten (Entities) durch Eigenschaften (properties) können in CIDOC präzise Aussagen über die Objekte getroffen werden, die unendlich erweiterbar sind. Die Modellierung von Ereignissen (Events) ermöglicht zudem komplexe Sachverhalte wie kunsthistorische Diskurse zu den Werken auszudrücken, raumzeitlich zu verorten und strukturiert zu vermitteln. So entstehen Wissensmorphologien, auf die unter anderem mittels Schlagwortsuche und kontrollierter Vokabulare zugegriffen werden kann. Diese detailliert beschriebenen Daten bilden die Basis für die Visualisierungen.

Die Fachterminologie für historische Kleidung, Mode und Tracht stellt dabei eine Herausforderung dar, weil sie regionen- und zeitspezifische, teils unpräzise Bezeichnungen beinhaltet, die nicht angemessen mit bestehenden Kleider-Thesauri oder Iconclass4  beschrieben werden können. Hinzu kommt die Problematik einer relativ „flachen“ Erschließungsmöglichkeit von dargestellter Kleidung. Eine detailgetreue Beschreibung jedoch stellt die Basis für die Interpretation der Zeichen- und Symbolhaftigkeit der dargestellten Kleidung dar.

Visualisierung als Forschungsinstrument

Visualisierung fungiert als epistemisches Werkzeug, welches sowohl Aussagen über die Sammlungen und als auch ihre Einzelwerke ermöglichen und fördern soll. Indem die Objekte und ihre Relationen sichtbar gemacht werden, werden Wissensmorphologien anschaulich. In ihrer Funktion als Analysewerkzeug und Erkenntnismittel erlaubt die Visualisierung dabei einen strukturierten Zugriff, auch auf große Datenmengen, wie auch einen dynamischen Zugriff auf vielfältige Dimensionen und Inhalte. Nach von Windhager et. al. (Windhager et. al. 2018: 2316-2317) existieren in der Visualisierung von Kulturerbe-Daten vier Modi der visuellen Granularität. Shneidermans „Visual Information Seeking Mantra: Overview first, zoom and filter, then details-on-demand“ (Shneiderman 1996: 337) folgend werden für das Projekt „Restaging Fashion“ die Daten in verschiedenen visuellen Granularitäten präsentiert. Sowohl Überblicke, multiple Dimensionen also auch das Heranzoomen auf Einzelobjekte sollen in dynamischen und interaktiven Visualisierungen angeboten werden. Zurückgegriffen wird dabei auf den VIKUS-Viewer, einen übertragbaren Prototypen, der von Forschenden des UCLABs für die Visualisierung von kulturellen Sammlungen entwickelt wurde.5 

Ergebnisse

Im Ergebnis des Projekts steht eine webbasierte Verfügbarkeit von drei Sammlungskonvoluten durch Digitalisierung, inhaltlicher Erschließung und Interface-Design. Ein wesentlicher Teil des Projektes beinhaltet dabei die Erforschung von Bildquellen, die Modellierung der Daten und die Verknüpfung dieser Quellen. Das Projekt soll zudem übertragbare Arbeitsprozesse und Szenarien für den Umgang mit 3D-Objekten, hier historischen Kleidungsstücken, deren digitale Erfassung, Datenverarbeitung und Visualisierung im Web liefern. Den Innovationsgrad dieses Projektes stellt einerseits die Integration ausgewählter textiler Objekte wie auch die gleichwertige visuelle Präsentation der verschiedenen Quellen- und Materialarten dar. Ziel ist es die Quellentrias Bild-Text-Realie zusammenzuführen. Dabei steht die Methode der Visualisierung im Fokus, die nicht als bloße Präsentationsform der Objekte aufgefasst wird, sondern als Forschungsinstrument durch semantische Arrangements und interaktive Zugriffsmöglichkeiten die Grundlage für neue Erkenntnisse bildet.


Fußnoten

1 https://uclab.fh-potsdam.de/projects/restaging-fashion/.
2 Hier wird die Methode SFL (Structure from Light) verwendet. Softwarepakete, die dabei zum Einsatz für die Betrachtung, Verarbeitung und Modellierung der Daten kommen, sind PhotoScan Pro (http://www.agisoft.com), MeshLab (http://www.meshlabjs.net), SketchUp (https://www.sketchup.com) und CloudCompare (https://www.cloudcompare.org). Mit den Bildbearbeitungszeugen wie Zbrush (http://www.pixologic.com) können die Modelle weiterbearbeitet werden.
3 http://www.cidoc-crm.org/.
4 http://www.iconclass.org/.
5 https://uclab.fh-potsdam.de/projects/vikus-viewer/.

Bibliographie

  • de Günther, Sabine / Zitzlsperger, Phillip (eds.) (2018): Signs and symbols: dress at the intersection between image and realia, Berlin.
  • Höpflinger, Anna-Katharina (2014): „Clothing as a Meaningful Marker of Space: A Comparative Approach to Embodied Religion from a Cultural Studies Perspective“, in: Religious Representation in Place: Exploring Meaningful Spaces at the Intersection of the Humanities and Sciences: 177–192. Papers of the „Meaningful Spaces“ Conference in April 2011 at the Collegium Helveticum, London.
  • Knorr-Cetina, Karin (1999): „Viskurse der Physik. Wie visuelle Darstellungen ein Wissenschaftsgebiet ordnen", in: Interventionen 8: 245-63, Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich.
  • Rijksmuseum (2015): „Manual for the Photography of 3D Objects“ https://www.rijksmuseum.nl/en/2d3d-2017/rijksmuseum-manual-for-the-photography-of-3d-objects [letzter Zugriff 01. Juli 2017]
  • Simmel, Georg (1905): Philosophie der Mode. Moderne Zeitfragen, Berlin.
  • Shneiderman, Ben (1996): The Eyes Have It: A Task by Data Type Taxonomy for Information Visualizations. In: Proceedings. IEEE Symposium on Visual Languages: September 3-6, 1996, Boulder, Colorado. Los Alamitos, Calif: IEEE Computer Society Press, 336-343.
  • Windhager, Florian / Federico, Paolo / Schreder, Gunther / Glinka, Katrin / Dork, Marian / Miksch, Silvia / Mayr, Eva (2018): „Visualization of Cultural Heritage Collection Data: State of the Art and Future Challenges”, in: IEEE Transactions on Visualization and Computer Graphics https://doi.org/10.1109/TVCG.2018.2830759 [letzter Zugriff 13. Juli 2021]
  • Zitzlsperger, Philipp (2015): „Zwischen ‚Lesbarkeit‘ und ‚Unlesbarkeit‘ der Kleider-Codes. Zur bildlichen Repräsentation unauthentischer Kleidung“., in: Die Medialität der Mode: Kleidung als kulturelle Praxis: Perspektiven für eine Modewissenschaft, 89-107, Bielefeld.