Selektion und Nutzer*innen-Position in traditionellen und Internet-Informationsintermediären
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Motivation und Relevanz
Angesichts der Menge an Informationen, die uns täglich zur Verfügung stehen, müssen wir unweigerlich eine Auswahl treffen, um entscheidungs- und handlungsfähig zu sein. Bezüglich der Informationsauswahl im Internet ruft dies heftige Diskussionen und Bedenken hervor: So wird vor einer Polarisierung der Internetnutzer*innen und der Fragmentierung der Öffentlichkeit gewarnt. Zugleich wird befürchtet, dass Rezipient*innen an Autonomie verlieren, weil sie nicht mehr selbst entscheiden, welche Inhalte sie wahrnehmen, sondern in ihrer Informationsauswahl von Algorithmen beeinflusst werden (Pariser 2011, Schweiger 2017, Lobe 2018, Ngyuen 2018).
Dabei stehen vor allem Suchmaschinen und Soziale Netzwerk-Seiten in der Kritik. Als Informationsintermediäre vermitteln sie zwischen den Produzierenden und den Rezipierenden von Inhalten, indem sie Informationen auswählen und gewichten. Dies bietet Nutzer*innen einerseits Orientierung in der Informationsfülle, nimmt andererseits aber Einfluss auf die Inhalte, aus denen Nutzer*innen auswählen können (Jürgens & Stark 2017). In der Diskussion wird dabei oft ausgeklammert, dass die Vorauswahl von Information durch Intermediäre kein Phänomen der Digitalisierung ist, sondern ebenso durch traditionelle Intermediäre wie publizistische Medienangebote, Verlage, Buchhandlungen oder Bibliotheken vorgenommen wird (Hagenhoff 2017).
Forschungsstand
Weder für Internet-Intermediäre, noch für traditionelle Intermediäre ist ausreichend untersucht, welche Faktoren und Normen ausschlaggeben dafür sind, wie Inhalte ausgewählt und für Nutzer*innen sichtbar gemacht werden. Daher kann auch keine Aussage darüber getroffen werden, wie sich die Selektion der Internet-Intermediäre von den Praktiken der traditionellen Intermediäre strukturell unterscheiden (Leyrer 2018). Darüber hinaus gibt es bislang keine vergleichenden Analysen, die zeigen, wie sich der Wechsel von traditionellen zu Internet-Intermediären auf die Autonomie der Nutzer*innen auswirkt (Hagenhoff 2020).
Forschungsfragen
Diese Arbeit widmet sich daher den Fragen:
- Welche Selektionslogiken und Normen bestimmen die Auswahl von Inhalten in Informationsintermediären im traditionellen und Internet-Kontext?
- Wie unterscheiden sich die Selektionslogiken in traditionellen Intermediären von den Selektionslogiken in Internet-Intermediären?
- Wie unterscheidet sich die Position der Nutzer*innen von Internet-Intermediären im Vergleich zur Position der Nutzer*innen traditioneller Intermediäre?
Theoretischer Rahmen und methodische Herangehensweise
Um sich diesen Fragen zu nähern, greift die Arbeit verschiedene Typen traditioneller und Internet-Informationsintermediäre beispielhaft heraus: So werden die beiden Internet-Intermediärs-Typen Suchmaschinen und Soziale Netzwerk-Seiten in den Blick genommen, da sie im Zentrum der Diskussion um die Informationsauswahl im Internet stehen. Als traditionelle Intermediärs-Typen werden Buchhandlungen, Verlage und Bibliotheken untersucht, da deren Selektionslogiken ein deutliche Forschungslücke darstellen (v.a. im Vergleich zu publizistischen Medienangeboten). Darüber hinaus wird die Recherche in Bibliotheken als Vorläufer oder Parallele zur Suche in Suchmaschinen gesehen (Nissenbaum 2010, Zimmer 2008), sodass ein Vergleich dieser beiden Intermediärs-Typen vielversprechend ist.
Selektionslogiken und Informationsnormen
Zuerst wird analysiert, welche Selektionslogiken die Auswahl von Inhalten im traditionellen Intermediärs-Typ Bibliothek und im Internet-Intermediärs-Typ Suchmaschine jeweils bestimmen. Dazu wird für jeden Intermediärs-Typ anhand des Filter-Modells von Bozdag (2013, Abb.1) dargestellt, welche Faktoren und Akteur*innen den Informationsfluss in den verschiedenen Stufen der Informationsverarbeitung beeinflussen. Da bisher nicht erforscht ist, welche Selektionslogiken die Medienauswahl in Bibliotheken bestimmen, werden Expert*innen-Interviews mit Erwerbungsbibliothekar*innen geführt und ausgewertet. Die Selektionslogiken, die in Suchmaschinen zum Einsatz kommen, werden anhand aktueller Forschungsliteratur herausgearbeitet (Lewandowski 2021).
Vergleich der Selektionslogiken
Anschließend werden die Selektionslogiken der Internet-Intermediäre Suchmaschinen mit denjenigen der traditionellen Intermediäre Bibliotheken verglichen. Die theoretische Basis bietet dafür die Contextual Integrity Decision Heuristic (CIDH) von Helen Nissenbaum (2010): Sie geht davon aus, dass jeder Kontext von handlungsweisenden Informationsnormen bestimmt wird, die festlegen, welche Praktiken angemessen sind. Um eine neue Praxis zu bewerten, werden Informationsnormen als Ausgangspunkt herangezogen, die sich in einem bereits bestehenden, vergleichbaren Kontext etabliert haben. Damit ermöglicht die CIDH eine Aussage darüber, ob die Selektionslogiken in Internet-Intermediären die Informationsnormen verletzen, die sich in traditionellen Intermediären etabliert haben.
Position der Nutzer*innen
Schließlich wird untersucht, wie sich die Digitalisierung auf die Autonomie und die Position der Nutzer*innen von Informationsintermediären auswirkt. Auf Basis der Network Gatekeeping Theorie von Barzilai-Nahon (2008) wird für jeden Intermediärs-Typ untersucht, welche Beziehung der*die Nutzer*in ( Gated) zum Intermediär ( Gatekeeper) hat. Die Position der Gated gegenüber dem Gatekeeper wird dabei anhand von vier Attributen beschrieben: politische Macht, Informationsproduktion, Beziehung zum Gatekeeper und Alternativen. Anhand der Ausprägung dieser vier Attribute wird verglichen, wie sich die Position der Nutzer*innen bei traditionellen und Internet-Gatekeepern unterscheidet.
Ziele und erste Ergebnisse
Ziel der Arbeit ist es, eine systematische empirische Analyse als Beitrag zur Debatte um die Informationsauswahl und die Nutzer*innen-Autonomie im Kontext von Internet-Informationsintermediären zu leisten. Erste Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass sich die Position der Nutzer*innen gegenüber Informationsintermediären durch die Digitalisierung zwar verändert, aber nicht verschlechtert hat.
Bibliographie
- Barzilai-Nahon, Karine (2008): „Toward a theory of network gatekeeping: A framework for exploring information control“, in: Journal of the American Society for Information Science and Technology 59(9): 1493–1512.
- Bozdag, Engin (2013): „Bias in algorithmic filtering and personalization“, in: Ethics and Information Technology 15(3): 209–227.
- Hagenhoff, Svenja (2017): „»Außer Kontrolle«: Alte und neue Informationsfluten im Publikationswesen“, in: Freiburg, Rudolf (ed.): D@tenflut: Erlanger Universitätstage 2016. Erlangen: FAU University Press 77–98.
- Hagenhoff, Svenja (2020): „Digitale Souveränität“: Kontextualisierung des Phänomens in der Domäne der medial vermittelten öffentlichen Kommunikation unter besonderer Berücksichtigung von Reader Analytics. Erlanger Beiträge zur Medienwirtschaft 14 urn:nbn:de:bvb:29-opus4-150157.
- Jürgens, Pascal / Stark, Birgit (2017): „The power of default on reddit: A general model to measure the influence of information intermediaries“, in: Policy & Internet 9(4): 395–419.
- Leyrer, Katharina (2018): Selektion und Bias in traditionellen und Internet-Informationsintermediären. Forschungsstand. Erlanger Beiträge zur Medienwirtschaft 10 urn:nbn:de:bvb:29-opus4-102405.
- Lewandowski, Dirk (2021): Suchmaschinen verstehen, 3. Aufl., Berlin, Springer Vieweg.
- Lobe, Adrian (2018): „Wenn die Filterblase platzt“, in: Süddeutsche Zeitung, 10. Dezember https:// www.sueddeutsche.de / medien/ filterblase- facebook- youtube- soziale- netzwerke- 1.4245243- 2 [Letzter Zugriff am 9 Dezember 2020].
- Nguyen, C. Thi (2018): „Escape the echo chamber“, in: Aeon, 10. April https:// aeon.co / essays/ why- its- as- hard- to- escape- an- echo- chamber- as- it- is- to- flee- a- cult [Letzter Zugriff am 9 Dezember 2020].
- Nissenbaum, Helen F. (2010 ): Privacy in context: Technology, policy, and the integrity of social life. Stanford, CA: Stanford Law Books.
- Pariser, Eli (2011): The filter bubble: What the Internet is hiding from you. London: Viking.
- Schweiger, Wolfgang (2017): Der (des)informierte Bürger im Netz. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
- Zimmer, Michael (2008): „Privacy on Planet Google: Using the theory of »Contextual Integrity« to clarify the privacy threats of Google's quest for the perfect search engine“, in: Journal of Business & Technology Law 3: 109–126.