Digitale Editionen von historischen Reiseberichten öffnen: Open Text und Open Data mit einheitlicher Textauszeichnung, semantischer Annotation und ontologiebasierter Datenmodellierung

Balck, Sandra; Frank, Ingo
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Einleitung

Innerhalb der Literatur- und Kulturwissenschaften ist die historische Reiseforschung ein beliebtes Forschungsfeld, dennoch gibt es innerhalb der Digital Humanities wenige nennenswerte Fortschritte bei der Erschließung, Verarbeitung und Visualisierung von Reiseberichten. Konventionellen digitalen Editionen fehlt bisher die notwendige Ausdruckskraft und Flexibilität, um die diversen Anwendungsfälle und Forschungsfragen der historischen Reiseforschung zu erschließen. Anstatt einer starren Auszeichnung mit TEI zu folgen, müssen Informationen in digitalen Editionen erkannt, identifiziert, mit zusätzlichen Daten angereichert und Narrationen der Ereignisse explizit modelliert werden.1   

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage der Öffnung digitaler Reiseberichte für die wissenschaftliche Analyse und Visualisierung (von Zeit, Raum, Ereignissen u.a.) durch Textauszeichnung, semantische Annotation und ontologiebasierte Modellierung. Hierbei verfolgen wir einen disziplinübergreifenden, iterativen Ansatz, welcher sowohl geistes- als auch informationswissenschaftliche Perspektiven einbezieht.2  Erprobt wird dieser Ansatz an der digitalen Edition des Reiseberichts Franz Xaver Bronners (1758–1850), der 1810 als Professor für theoretische Physik von Aarau in der Schweiz an die russische Universität Kasan an der Wolga ging und 1817 in die Schweiz zurückkehrte. 

Problemstellung

Datenmodellierung kann laut Flanders und Jannidis (vgl. 2015) in zwei Gruppen unterschieden werden: Curation-Driven und Research-Driven. Curation-driven beschreibt die Praktiken von Bibliotheken und Archiven, Objekte mit Hilfe von Standards einheitlich zu erfassen, um so die Auffindbarkeit und Transparenz zu gewährleisten. Die dafür notwendige Reduktion führt jedoch zu Ungenauigkeiten und Lücken im Datenmaterial. Research-Driven hingegen zielt auf die Beantwortung spezifischer Forschungsfragen ab und die Datenerfassung/Modellierung folgt einem konkreten Forschungsinteresse. Dabei werden nur selten Standards berücksichtigt. Dieser Gegensatz zwischen Forschungs- und Kuratierungspraxis erschwert die Kompatibilität und damit die Vergleichbarkeit der Daten. Um digitale Reiseberichte für wissenschaftliche Analysen verwertbar zu machen, müssen sie beiden Ansprüchen gerecht werden. 

Im Bereich der digitalen Editionen haben sich die TEI-Guidelines zum De-facto-Standard entwickelt. “[TEI] is the most systematic effort so far to create standards for scholarly memory in an evolving digital culture.” (tei-c.org 2019) Die Guidelines beinhalten aktuell 585 Elemente und sind flexibel gestaltet, um für ein breites Spektrum von Forschungsfragen anwendbar zu sein. Ein Problem ist jedoch, dass dieselbe Information unterschiedlich kodiert und interpretiert werden kann (z. B. <rs>, <persName>) und der „Standard” damit nicht zwingend interoperabel ist (siehe Unsworth 2011; Burrows et al. 2021; Giovannetti und Tomasi 2022). Die TEI versucht die Brücke zwischen Standardisierung und Granularität zu schlagen, verliert damit aber ihre Eindeutigkeit (vgl. Kudella und Jefferies 2019). 

Textauszeichnung und Ontologie-Entwurfsmuster

Einen Lösungsansatz für das Interoperabilitätsproblem auf Textseite bietet das DTA-Basisformat (Haaf et al. 2015), welches sich zum Ziel gesetzt hat: “[...] eine umfassende Textaufbereitung [zu] ermöglichen und dabei gleichzeitig Variationsspielräume bei der Annotation so ein[zu]schränken, dass die Kohärenz [...] untereinander gewährleistet wird.” (DTABf 2011-2020) Das DTABf richtet sich dabei nach den P5-Richtlinien der TEI. Um darüber hinaus auch spezifische Forschungsinteressen der historischen Reiseforschung zu adressieren, entwickeln wir auf Datenseite einen ontologiebasierten Textanreicherungs- und Bearbeitungsworkflow: Ontologie-Entwurfsmuster werden iterativ aufgebaut und für die Klassifizierung von Reise(teil)ereignissen (Abreise, Ankunft usw.) und Reisebeobachtungen (z. B. besuchte öffentliche Orte, Gewohnheiten von Personen) angewandt. 

Während TEI für die Textauszeichnung verwendet wird, dient CRM zur Anreicherung des Textes mit explizitem Wissen, welches in einer Datenbank gespeichert wird. Wir modellieren mit den Ontologie-Entwurfsmustern nicht die Erzählung als solche3  , sondern den rekonstruierten und stellenweise interpretierten Reiseverlauf als Repräsentation der Realität. Aus narratologischer Sicht machen wir mit dem ereigniszentrierten Modellierungsansatz von CRM also nur die Fabula (chronologische Reihenfolge der Ereignisse) eines Reiseberichts explizit. Das Sujet (Erzählreihenfolge) kann allerdings bei Bedarf anhand der annotierten Textstellen abgefragt und rekonstruiert werden.4 

Zur Erstellung des Annotationsschemas und der damit verbundenen Ontologie-Entwurfsmuster wenden wir die Frame-Semantik als theoretischen Rahmen an. Frames können als n-äre Relationen5  repräsentiert und daher zur Entwicklung von Ontologie-Entwurfsmustern für Reiseereignisse und -beobachtungen verwendet und darüber hinaus als "knowledge patterns" zur Validierung der Entwurfsmuster herangezogen werden (vgl. Presutti et al. 2012).6  Die Ontology Design Patterns dienen uns als „Schablonen” zum Anlegen an den Text – wobei deren Orientierung an den Frames sehr hilfreich ist – um Reisedaten, Beobachtungen und Tätigkeiten unterwegs und während Zwischenstopps zu erfassen. Im ständigen Austausch mit der Bearbeitung von Forschungsfragen am Text werden die Frames und Design Patterns laufend überprüft und angepasst. Diese Form der forschungsgeleiteten Standardisierung (mittels expliziter und einheitlicher Modellierung) macht digitale historische Reiseberichte interoperabel und öffnet sie damit für vergleichende Analysen. Die möglichen Ansätze zur Verknüpfung von TEI-kodiertem Text und RDF-Daten mittels semantischer Annotation evaluieren wir (vgl. Eide 2015 und Borriello et al. 2016) und stellen im Poster Lösungswege mit EARMARK (Barabucci et al. 2013) und NIF (Hellmann et al. 2013) vor.

Verwandte Arbeiten und Schlussfolgerung

Es gibt einige Beispiele wie das Hellespont-Projekt (Mambrini 2016) oder die Semantic Blumenbach-Edition (Wettlaufer 2015), die TEI-kodierten Text und CRM-modellierte Daten miteinander verknüpfen. Unser Ansatz geht jedoch über die bestehenden Projekte hinaus, da wir Ontologie-Entwurfsmuster für eine explizitere Datenmodellierung entwickeln und anwenden.7  Kurz gesagt, wir lösen die Interoperabilitäts- und Ausdrucksprobleme von TEI und CRM mit Hilfe von DTABf und Frame-basierten Ontologie-Entwurfsmustern, was wiederum die Kategorien von Reiseereignissen und Reisebeobachtungen in historischen Reiseberichten für die weitere Analyse und Visualisierung explizit macht.


Fußnoten

1   Bei der Erstellung der digitalen Edition folgen wir dem Historical Information Life Cycle (Meroño-Peñuela et al. 2014), wobei wir Ontologien nicht nur in der Anreicherungs-, Bearbeitungs- und Retrieval-Phase des Lebenszyklus, sondern auch in der Analyse- und Visualisierungsphase einsetzen.
2  Unser Ontologie-Entwurfsansatz orientiert sich an der eXtreme Design-Vorgehensweise (Presutti et al. 2009), bei der sog. Competeny Questions aus anfänglichen User Stories abgeleitet werden, um die Anforderungen an die Datenmodellierung und das Information Retrieval zu definieren.
3  siehe hierzu den Modellierungsansatz von Bartalesi et al. 2017
4  Das kann interessant für Analyse und Visualisierung sein, weil, wie Maurer (2015, S. 391 f.) anmerkt, Reiseberichte von wissenschaftlichen Forschern oft einer thematischen Organisation folgen, um „Reiseergebnisse” zu präsentieren, anstatt einfach einer chronologischen Reihenfolge zu folgen.
5  Annotationswerkzeuge wie brat (Stenetorp et al. 2012) oder INCEpTION (Klie et al. 2018) bieten Annotations- und Visualisierungskomponenten für n-äre Relationen (Frames oder Ereignisse inkl. der Rollen von Akteuren). 
6  Siehe dazu etwa das allgemeine Frame Travel mit Frame-spezifischen Eigenschaften zur Beschreibung von reisender Person, Reiseziel, Verkehrsmittel usw. in FrameNet: http://framenet.lexicalsemantics.org/frameIndex.xml?frame=Travel
7  Die Datenmodelle GeoJSON-T, Linked Places und Linked Traces (siehe Grossner et al. 2017) sind bereits gut etabliert, aber es handelt sich dabei nur um Formate für den Datenaustausch und kommen daher in unserem Projekt nicht für den Aufbau der Datenbank in Frage.

Bibliographie

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