Über den Text hinaus: Die Edition eines Historiogramms
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Peter von Poitiers, französischer Gelehrter an der Pariser Universität, schuf im ausgehenden 12. Jahrhundert mit dem Compendium historiae in genealogia Christi ein theologisches Lehrwerk, welches die Bibelgeschichte und die in ihr vorkommenden zentralen Personen in ihrer Abstammung und Chronologie als Historiogramm (Worm, 2021) präsentiert. Im Zentrum dieses Diagramms liegt die genealogische Abstammungslinie Christi, basierend auf ihren Beschreibungen im Alten Testament, die sich von Adam und Eva über die sieben großen Patriarchen zu Jesus erstreckt. Die Namen der Personen sind in Medaillons dargestellt, deren Verbindungen neben ihrer genealogischen Bedeutung auch als geistige Verbindung oder Tradition verstanden werden müssen. Neben der Abstammungslinie Christi sind weitere Nebenlinien dargestellt; so findet man beispielsweise die Abfolge der jüdischen Hohepriester oder der assyrischen Könige. Die systematisierende Natur des Werkes wird um Diagramme, die sich exegetisch mit bedeutsamen Bibelstellen befassen (etwa der innere Aufbau der Arche), sowie durch Illustrationen, die biblische Konzepte vermitteln sollen, ergänzt. Hinzu kommen zahlreiche textuelle Erläuterungen zu bestimmten Personen, bedeutenden Ereignissen und zur Bibelgeschichte. Eine von Peter von Poitiers selbst verfasste Handschrift ist nicht überliefert, jedoch bezeugen zahlreiche frühdatierte Kopien eine rasche Ausbreitung seines Werkes in ganz Europa.
Im Rahmen unseres Projekts „History as a Visual Concept: Peter of Poitiers’ Compendium historiae“ (Worm et al., 2023) mit einer Laufzeit von 3 Jahren (2023-2025) soll dieses Werk digital erschlossen werden. Für das Edieren von textuellen Werken gibt es neben den Verfahren der klassischen Textkritik inzwischen etablierte digitale Methoden (z.B. TEI für Text als Sprache und Werkstruktur oder RDF für die semantische Dimension) und auch Text-Bild Beziehungen sind in der digitalen Editorik keine Neuheit mehr (s. Foys et al., 1996-2003; Stronks et al., 2003-2006; Schmidt und Šimek, 2011-2015). Meist wird jedoch entweder der Text oder das Bild als wichtiger erachtet.
Für ein Werk, welches vor allem aus bildhaften Narrativen unterschiedlicher Natur, essenziell einem Graphen, aber auch aus diversen Textabschnitten besteht, bedarf es jedoch sowohl für die Erschließung des Werkes selbst als auch für die Präsentation der Edition anderer Zugänge. Um den vielfältigen Ebenen des Compendiums gerecht zu werden, streben wir den Ansatz einer mehrdimensionalen Edition an, welche die graphische und bildhafte Natur des Compendiums berücksichtigt.
Geplant ist, dass eine abstrahierte Visualisierung des Werkes - der sog. „Navigations-Graph“, (s. Abb. 1) - als Einstieg in und Navigation durch die Edition dient. Dieser „NavGraph“ repräsentiert eine rekonstruierte, kanonische Fassung des Compendiums und enthält den Stammbaum von Adam und Eva bis Christus (dz. 448 Knoten), die exegetisch bedeutsamen Diagramme (5) sowie die deskriptiven Texte (dz. 166) und erklärende Beischriften zu Gruppen und Ereignissen (dz. 83), die Graphen und Diagramme begleiten.
Durch einen Klick auf die einzelnen Objekte sollen User:innen in die nächsttiefere Ebene der Edition eintauchen, die sowohl die eigentliche Edition bietet als auch den Varianzen der Überlieferung gewidmet ist. Hier sollen zusammengehörende Knoten des Stammbaums in ihrem Zusammenhang gezeigt (s. Abb. 2), ein kritischer Text geboten und die textuelle sowie visuelle Varianz repräsentativer, vorab definierter Überlieferungsgruppen des Compendiums gezeigt werden.
Das Grundgerüst für dieses Vorhaben stellt ein Netzwerk aus IDs dar, die für sämtliche Inhalte (Knoten und Knotengruppen, Diagramme, Textblöcke, Illustrationen, sowie deren Varianten) während der TEI-Kodierung des Compendiums vergeben werden. So lassen sich die jeweiligen Elemente in den einzelnen Manuskripten adressieren und ‘auf einer Ebene’ gegenüberstellen.
Essenziell für diese Tiefenerschließung ist die vorangegangene Breitenerschließung der Überlieferung. Die dabei entstehende Datenbank der Handschriftenbeschreibungen aller bisher bekannten Textzeugen gibt einerseits einen Überblick über die Verteilung und Attribute bekannter Handschriften, andererseits werden dadurch die editorischen Selektionsprozesse transparent gemacht. Die Datenbank erweitert die von Piggin (2019) erstellte statische Liste der Handschriften um weitere Kategorien (z.B. zu den visuellen Komponenten) und ergänzt die Sammlung um bis dato noch nicht erfasste Compendia. So konnte Piggins Liste von 220 Handschriften bereits jetzt auf rund 300 erweitert werden - Tendenz steigend. Im Zusammenspiel mit der Tiefenerschließung entsteht somit nicht nur eine offen zugängliche, kritische Ausgabe, charakterisiert durch einen visuellen Ansatz zur graphischen Metastruktur des Werkes, sondern auch ein Überblick über die Überlieferungsgeschichte, den sozio-kulturellen Kontext und die Rezeption des Compendiums.
Das eingereichte Poster wird den Stand des Projekts nach einem Jahr Laufzeit vorstellen und dabei auf den intendierten Workflow von Tiefen- sowie Breitenerschließung und die damit verbundenen technischen Lösungsansätze (Stichwort: NavGraph) eingehen.
Das Poster soll besonders Kolleg:innen ansprechen, die sich mit ähnlich komplexen multimodalen Quellen beschäftigen und bei der Modellierung nebst Rückgriff auf Standards wie XML/TEI, SVG und RDF auch eine quellennahe visuelle Umsetzung anstreben.
Bibliographie
- Foys, Martin K., James F. Caccamo, Jody Evenson, und Erica L. Pittman. 1996-2003. „The Bayeux Tapestry Digital Edition“. Digitale Edition. The Bayeux Tapestry Digital Edition. https://web.archive.org/web/20230130090658/http://www.sd-editions.com/bayeux/online/index.html#/facsimile%3DBayeux%26panel%3D1 (zugegriffen: 04. Dezember 2023).
- Piggin, Jean-Baptiste. 2019. „Peter’s Stemma.“ In Piggin.net (blog). https://web.archive.org/web/20231114105046/https://www.piggin.net/stemmahist/petercatalog.htm (zugegriffen: 04. Dezember 2023).
- Schmidt, Peter, und Jakub Šimek. 2011-2015. „Welscher Gast digital“. Digitale Edition. Welscher Gast digital. https://web.archive.org/web/20231028193254/https://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/ (zugegriffen: 04. Dezember.2023).
- Stronks, E., P. Boot, J. Tilstra, H. Brandhorst, M. de Gruijter, D. Stiebral, H. van Baren, G. Huijing, und J.A. Blans. 2003-2006. „Emblem Project Utrecht“. Digitale Edition. Emblem Project Utrecht - Dutch Love Emblems of the Seventeeth Century. https://web.archive.org/web/20230329003122/https://emblems.hum.uu.nl/ (zugegriffen: 04. Dezember 2023).
- Worm, Andrea. 2021. Geschichte und Weltordnung: graphische Modelle von Zeit und Raum in Universalchroniken vor 1500. Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft.
- Worm, Andrea, Patrick Sahle und Roman Bleier. 2023. „Geschichte als visuelles Konzept: Peter von Poitiers' Compendium historiae. https://web.archive.org/web/20231204065548/https://compendium-historiae.uni-graz.at/de/ (zugegriffen: 04. Dezember 2023).