Paradigmen einer digitalen Rezeptionswissenschaft Produktiv-literarische Rezeptionsphänomene als Linked Data am Beispiel der deutschsprachigen literarischen Sappho-Rezeption

Untner, Laura
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Thema

Die Modellierung von Wissen über literarische Texte und deren Beziehungen zueinander ist eine zentrale Aufgabe der digitalen Literaturwissenschaft. Im Zuge des Dissertationsprojekts werden grundlegende methodologische Überlegungen zu einer digitalen Rezeptionswissenschaft angestellt. Der Fokus liegt auf der Modellierung literaturwissenschaftlichen Wissens über produktiv-literarische Rezeptionszeugnisse als Linked Data, wobei die Sappho-Rezeption im deutschsprachigen Raum als Beispiel dient.

Unter produktiv-literarischen Rezeptionszeugnissen werden literarische Texte von ‚ausführenden‘ Rezipient_innen (Eco, 1973, 29) verstanden, die Elemente eines Rezeptionsgegenstandes enthalten, etwa in der Form von Figuren- und Motivübernahmen, Paraphrasen und Fiktionalisierungen von Autor_innen. Ein Beispiel ist Franz Grillparzers vielfach parodiertes Trauerspiel Sappho (UA 1818), worin die titelgebende Dichterin als Figur vorkommt und aus ihrem Werk zitiert wird.

Forschungsstand

Digitale Rezeptionswissenschaft

Bislang sind methodologische Überlegungen für eine digitale Rezeptionswissenschaft nur verstreut zu finden (z. B. bei Hohl-Trillini und Quassdorf, 2010; Hohl-Trillini, 2020; Barth und Murr, 2017; Women Writers-Project; NEWW Women Writers). Wichtige Anknüpfungspunkte finden sich insbesondere in der digitalen Intertextualitätsforschung, insofern produktiv-literarische Rezeptionsphänomene in der Regel Intertextualitätsphänomene sind (Bluhm und Hölter, 2010, [vii]; Tennis, 2004) und hier wie dort transbiblionome Daten (Wagner et al., 2016) im Vordergrund stehen. Zu nennen sind etwa Editionen, die ihren Fokus auf Intertextualität legen (z. B. Kraus, 2021), und Untersuchungen zur Auffindung (z. B. Coffee und Scheirer, 2018; Manjavacas, 2021) und Modellierung (z. B. Nantke und Schlupkothen, 2018, 2019; Nantke und Sulzbacher, 2020; Oberreither, 2018, 2023a, 2023b; Horstmann et al., 2023) von Intertextualität. Besonders ergiebig sind solche Arbeiten, die sich nicht auf einen lexikalischen Intertextualitätsbegriff beschränken, sondern auch semantische Aspekte miteinbeziehen – was derzeit nur vereinzelt der Fall ist.

Sappho-Rezeption

Als Beispiel dient die produktiv-literarische Sappho-Rezeption im deutschsprachigen Raum vom 15. bis zum 21. Jahrhundert, die ca. 1.000 literarische Texte umfasst. Insbesondere seit dem 20. Jahrhundert ist die Sappho-Rezeption Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung, vermehrt noch in den letzten Jahrzehnten im angloamerikanischen und frankophonen Raum (z. B. bei Robinson, 1924; DeJean, 1989; Greene, 1996; Prins, 1999; Andreadis, 2001; Reynolds, 2001). Im deutschsprachigen Raum beschäftigte sich zuerst Horst Rüdiger (1933, 1934) ausführlich mit der literarischen Sappho-Rezeption. Jüngere Arbeiten stammen zum Beispiel von Helmut Saake (1972) und Cornelia Heinsch (2020). Die wichtigsten Erkenntnisse zur deutschsprachigen literarischen Sappho-Rezeption werden aktuell in dem Band Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum (Untner, 2023) versammelt.

Methode

Da es sich bei produktiv-literarischen Rezeptionsphänomenen um netzartige Verhältnisse von ‚Palimpsesten‘ (Genette, 1993) handelt, eignet sich Linked Data für die Modellierung von Wissen über diese besonders gut. Für Linked Data spricht zudem die Interoperabilität bzw. Kompatibilität von RDF-Datensätzen und dass mit diesen – im Gegensatz zu vielen anderen Formen der Metadatenerfassung – literaturwissenschaftliche Schlussfolgerungen sehr gut kleinteilig nachvollziehbar gemacht und nur implizit vorhandenes Wissen einfach aufgedeckt werden kann.

Detailliert werden produktiv-literarische Rezeptionsphänomene aus rund 100 Texten modelliert, die in Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum zu finden sind. Um das literarische Netzwerk um Sappho in feinkörniger Weise sicht- und analysierbar zu machen, werden etwa Entitäten wie Autor_innen, Werke und Figuren und Relationen wie Zitate und Motivübernahmen modelliert. Damit wird die vorgeschlagene Linked Data-Methode exemplarisch geprüft. Zu den weiteren ca. 900 Rezeptionszeugnissen, die derzeit als CSV erfasst sind, werden nur vereinzelte Metadaten in RDF überführt. Damit wird jedoch zugleich erstmals ein möglichst vollständiger, maschinenlesbarer Katalog mit deutschsprachigen produktiv-literarischen Rezeptionszeugnissen zu Sappho erstellt.

Bei der Modellierung wird primär auf CIDOC CRM, FRBRoo und die OWL-Ontologie INTRO (Intertextual Relationships Ontology for literary studies) zurückgegriffen. Außerdem kommt eine SKOS-Taxonomie zum Einsatz, mit der wiederkehrende Figurennamen, Motive, Themen und Stoffe in der Sappho-Rezeption definiert werden.

Nur am Rande werden zudem Überlegungen zu Methoden bzw. Workflows angestellt, die einer Linked Data-Modellierung vorangehen oder folgen könnten. Dazu zählen etwa Suchabfragen mit regulären Ausdrücken, Annotationen mit XML/TEI, Topic Modeling, Sentimentanalysen, Stilometrie und Netzwerkanalysen bzw. deren möglicher Nutzen für die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung. Damit soll eine möglichst umfassende sowie anschlussfähige Handreichung garantiert werden.

Ergebnis

Abgeschlossen wird mit einer theoretisch-reflektierenden Doktorarbeit sowie einer Sammlung FAIRer digitaler Daten, die als Open Access zugänglich gemacht wird. Die digitalen Daten werden die verwendete Ontologie, die exemplarische Modellierung der deutschsprachigen literarischen Sappho-Rezeption und die Taxonomie zur literarischen Sappho-Rezeption enthalten. Angedacht wird ein User Interface basierend auf ResearchSpace. Eine Webseite zur Publikation vorläufiger Ergebnisse steht kurz vor der Veröffentlichung.

Bibliographie

Andreadis, Harriette. 2001. Sappho in Early Modern England. Female Same-Sex Literary Erotics 1550–1714. Chicago; London: University of Chicago Press. Barth, Florian und Sandra Murr. 2017. „Digital Analysis of the Literary Reception of J.W. von Goethe’s Die Leiden des jungen Werthers.“ In Digital Humanities 2017. Conference Abstracts, hg. von Rhian Lewis, Cecily Raynor, Dominic Foret, Michael Sinatra und Stéfan Sinclair, 540–542. Montreal: McGill University. Bluhm, Lothar und Achim Hölter. 2010. „Zueignung.“ In Produktive Rezeption. Beiträge zur Literatur und Kunst im 19., 20. und 21. Jahrhundert, hg. von dens. Trier: WVT. DeJean, Joan. 1989. Fictions of Sappho 1546–1937. Chicago; London: University of Chicago Press. Eco, Umberto. 1973. Das offene Kunstwerk, übers. von Günter Memmert. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Forstall, Christopher W. und Walter J. Scheirer. 2019. Quantitative Intertextuality. Analyzing the Markers of Information Reuse. Cham: Springer. Genette, Gérard. 1993. Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, übers. von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Greene, Ellen, Hg. 1996. Re-Reading Sappho. Reception and Transmission. Berkeley: University of California Press. Heinsch, Cornelia. 2020. „sappho gibt es nicht“. Die Rezeption Sapphos in deutschsprachiger Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts. Baden-Baden: Ergon. Hohl-Trillini, Regula und Sixta Quassdorf. 2010. „A ‚key to all quotations‘? A corpus-based parameter model of intertextuality.“ In Literary and Linguistic Computing 25/3: 269–286. Hohl-Trillini, Regula. 2020. „WordWeb/IDEM: Datenbasierte Erfassung von Intertextualität durch eine Graphdatenbank zum frühneuzeitlichen englischen Theater.“ In DHd 2020: Spielräume. Digital Humanities zwischen Modellierung und Interpretation. 7. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd 2020), Paderborn, hg. von Christof Schöch, 67–68, https://doi.org/10.5281/zenodo.3666690 (zugegriffen: 28. 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Nantke, Julia und Frederik Schlupkothen. 2018. „Zwischen Polysemie und Formalisierung: Mehrstufige Modellierung komplexer intertextueller Relationen als Annäherung an ein ‚literarisches‘ Semantic Web.“ In DHd 2018: Kritik der digitalen Vernunft. 5. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd 2018), Köln, hg. von Georg Vogeler, [1–4], https://doi.org/10.5281/zenodo.4622553 (zugegriffen: 28. Dezember 2023). Nantke, Julia und Frederik Schlupkothen. 2019. FormIt: „Eine multimodale Arbeitsumgebung zur systematischen Erfassung literarischer Intertextualität.“ In DHd 2019: Digital Humanities: multimedial & multimodal. 6. Tagung des Verbands Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd 2019), Frankfurt am Main, Mainz, hg. von Patrick Sahle, 289–291, https://doi.org/10.5281/zenodo.2596095 (zugegriffen: 28. Dezember 2023). 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München; Paderborn; Wien: Schöningh. Tennis, Joseph F. 2004. „URIs and Intertextuality. Incumbent Philosophical Commitments in the Development of the Semantic Web.“ In Knowledge Organization and the Global Information Society. Proceedings of the Eighth International ISKO Conference, London, hg. v. Ia Cecilia McIlwaine, 103–108. Würzburg: Ergon. Untner, Laura, Hg. 2023. Sappho. Texte zur literarischen Rezeption im deutschsprachigen Raum. Würzburg: Königshausen & Neumann. Wagner, Benno, Alexander Mehler und Hanno Biber. 2016. „Transbiblionome Daten in der Literaturwissenschaft. Texttechnologische Erschließung und digitale Visualisierung intertextueller Beziehungen digitaler Korpora.“ In DHd 2016: Modellierung – Vernetzung – Visualisierung. Die Digital Humanities als fächerübergreifendes Forschungsparadigma. 3. Tagung des Verbands „Digital Humanities im deutschsprachigen Raum“ (DHd 2016), Leipzig, hg. v. Elisabeth Burr, https://www.dhd2016.de/abstracts/sektionen-005.html (zugegriffen: 10. Januar 2024).

Weitere Quellen

CIDOC CRM, http://www.cidoc-crm.org/cidoc-crm/ (zugegriffen: 28. Dezember 2023). FRBRoo, http://iflastandards.info/ns/fr/frbr/frbroo/ (zugegriffen: 28. Dezember 2023). INTRO, https://w3id.org/lso/intro/currentbeta# (zugegriffen: 28. Dezember 2023). NEWW Women Writers, https://womenwriters.resources.huygens.knaw.nl/ (zugegriffen: 28. Dezember 2023). The Women Writers Project, https://www.wwp.northeastern.edu (zugegriffen: 28. Dezember 2023).