Computerspiele als Darstellungsmedium für immaterielles Kulturerbe: Theoretische Überlegungen
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Einleitung
Methoden der Digitalisierung haben den Schutz des materiellen Kulturerbes zweifellos vorangebracht. Zunehmend werden auch Lösungen für die Langzeitarchivierung sogenannter born digitals gefordert: So formulierte etwa die Gesellschaft für Informatik den „Erhalt des digitalen Kulturerbes“ als eine von fünf Grand Challenges der Informatik (Gesellschaft für Informatik e.V., 2014). Dazu gehören auch Computerspiele, deren Archivierung in Fachkreisen zunehmend in den Fokus rückt (Nylund et al., 2021). Ist es aber umgekehrt möglich, dass Computerspiele selbst als Archive dienen? Das Poster untersucht die grundsätzliche Eignung von Computerspielen als Präsentationsmedium für immaterielles Kulturerbe (IKE) – also jenen Ausdruck von Kultur, der gelebt wird und nicht unmittelbar in materieller Form dargestellt werden kann.1 Zu diesem Zweck erfolgt ein Mapping der Bedarfe für den Schutz von IKE auf die Eigenschaften und Vorteile von digitalen Spielen. Anhand von Beispielen aus dem Spiel Assassin’s Creed: Viking Age Discovery Tour (Ubisoft Montreal, 2021), das viele IKE-Artefakte enthält, wird die Argumentation unterstützt.
Immaterielles Kulturerbe und Computerspiele
Spätestens seit der Verabschiedung der Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage durch die UNESCO, bemühen sich Kulturinstitutionen, -träger:innen und weitere Akteur:innen um den Schutz von IKE. Bestehende Lösungsansätze sind so vielfältig wie IKE selbst (Hou et al., 2022). Der Ansatz, Computerspiele für diese Aufgabe zu nutzen, ist nicht gänzlich neu: Laiti et al. (2021) untersuchten etwa am Beispiel der Sami-Community, wie das Kulturerbe einer Gemeinschaft im Rahmen von Game Jams in Computerspiele übersetzt werden kann. LaPensée (2021) reflektiert die Entwicklung des Spiels When Rivers Were Trails in Kollaboration mit nordamerikanischen Indigenen. Im Rahmen des Forschungsprojekts i-Treasures entwickelten Forscher:innen ein Framework zur Implementierung von Computerspielen mit Motion-Capture-Daten (Dimitropoulos et al., 2018). Einer Analyse der Repräsentation von Kulturerbe in Computerspielen widmen sich Balela und Mundy (2015) und führen ein geeignetes Analyseframework ein. Die Projekte zeigen, dass Computerspiele ein großes Potenzial für die Darstellung von IKE haben. Doch worauf gründet sich dieses Potenzial? Dazu werden im Folgenden drei Kernargumente dargelegt, die basierend auf umfangreicher Literaturrecherche zu IKE, Computerspielen und deren Schnittstelle, sowie einer Spielanalyse auf Basis des oben genannten Frameworks von Balela und Mundy (2015) ermittelt wurden.
Multimodalität und Prozeduralität
In Computerspielen können verschiedene semiotische Modi verwendet werden, um Informationen zu vermitteln. Dazu gehören Text, Bild, Ton, haptisches Feedback, und Prozeduralität, die es Computerspielen erlaubt, komplexe Konzepte und Prozesse darzustellen, indem Regeln und Aktionen im Spiel manifestiert werden (Hawreliak, 2019). Die Verwendung von Prozeduralität trägt dazu bei, IKE darzustellen und zu vermitteln, indem sie den Spieler:innen die Auswirkungen ihrer Handlungen in bestimmten sozialen und kulturellen Kontexten verdeutlicht (Majewski, 2019).
Kontext und Materialität
Materielles und immaterielles Kulturerbe sind untrennbar miteinander verbunden, und die Erhaltung eines Objekts ohne die Erhaltung des damit verbundenen IKE lässt es ohne Kontext für Interpretationen (Bonn et al., 2016). Der Kontext von IKE kann verschiedene Formen annehmen, beispielsweise bestimmte Räumlichkeiten, Landschaften, Zeiten, Kleidung, oder Werkzeuge. Computerspiele bieten die Möglichkeit, IKE in einem simulierten physischen Kontext zusammen mit dem dazugehörigen materiellen Erbe darzustellen.
Körperlichkeit und Körperbewegung
Es liegt in der Natur der Sache, dass IKE niemals statisch ist - es wird immer auf eine bestimmte Art und Weise gemacht; dementsprechend ist der menschliche Körper immer an seiner Herstellung beteiligt und ist für das Verständnis und die Darstellung von IKE unabdingbar (Wulf, 2015). Computerspiele können die Rolle des menschlichen Körpers reflektieren und darstellen: durch die Spieler:innen selbst und die Übersetzung von Körperbewegungen über das Eingabemedium, über den Player Character, und schließlich durch Non-Playable Characters, also nicht spielbare Charaktere, die sich bewegen und mit denen Spieler:innen teilweise auch interagieren können.
Fazit und Ausblick
Diese Überlegungen zeigen das Potenzial von Computerspielen für den Schutz von IKE. Darauf aufbauend gilt es nun herauszufinden, wie dies adäquat und in Übereinstimmung mit Kulturträger:innen umgesetzt werden kann oder bereits umgesetzt wird. Durch das Poster erhoffe ich mir weiterführende Diskussionen über die Präsentation von IKE in Spielen, über die kolonialistische Konnotation solcher „Archive“, sowie über alternative, dekoloniale Modelle der intraludischen Archivierung.
Das Poster eröffnet neue Perspektiven an der Schnittstelle von Cultural Heritage Studies, Game Studies und Digital Humanities. Innerhalb der Digital Humanities leistet das Poster einen Beitrag zu den Teilbereichen der „Digitized Humanities“ sowie der „Humanities of the Digital“ (Roth, 2019), da Computerspiele sowohl den Untersuchungsgegenstand als auch das Medium der Digitalisierung für IKE darstellen.
Fußnoten
Bibliographie
- Balela, Majed S., und Darren Mundy. 2015. „Analysing Cultural Heritage and its Representation in Video Games“. In Proceedings of the 2015 DiGRA International Conference. Lüneburg, Germany.
- Bonn, Maria, Lori Kendall, und Jerome McDonough. 2016. „Preserving Intangible Heritage: Defining a Research Agenda“. Proceedings of the Association for Information Science and Technology 53 (1): 1–5. https://doi.org/10.1002/pra2.2016.14505301009.
- Dimitropoulos, Kosmas, Filareti Tsalakanidou, Spiros Nikolopoulos, Ioannis Kompatsiaris, Nikos Grammalidis, Sotiris Manitsaris, Bruce Denby, u. a. 2018. „A Multimodal Approach for the Safeguarding and Transmission of Intangible Cultural Heritage: The Case of i-Treasures“. IEEE Intelligent Systems 33 (6): 3–16. https://doi.org/10.1109/MIS.2018.111144858.
- Gesellschaft für Informatik e.V. 2014. „Die Grand Challenges der Informatik“.
- Hawreliak, Jason. 2019. Multimodal Semiotics and Rhetoric in Videogames. Routledge Studies in Multimodality 8. S.l.: Routledge.
- Hou, Yumeng, Sarah Kenderdine, Davide Picca, Mattia Egloff, und Alessandro Adamou. 2022. „Digitizing Intangible Cultural Heritage Embodied: State of the Art“. Journal on Computing and Cultural Heritage 15 (3): 1–20. https://doi.org/10.1145/3494837.
- Laiti, Outi, Sabine Harrer, Satu Uusiautti, und Annakaisa Kultima. 2021. „Sustaining Intangible Heritage through Video Game Storytelling: The Case of the Sami Game Jam“. International Journal of Heritage Studies 27 (3): 296–311. https://doi.org/10.1080/13527258.2020.1747103.
- LaPensée, Elizabeth. 2021. „When Rivers Were Trails: Cultural Expression in an Indigenous Video Game“. International Journal of Heritage Studies 27 (3): 281–95. https://doi.org/10.1080/13527258.2020.1746919.
- Majewski, Jakub. 2019. „Playing with intangible heritage: video game technology and procedural re-enactments“. In Safeguarding Intangible Heritage: Practices and Politics, herausgegeben von Natsuko Akagawa und Laurajane Smith. London; New York, NY: Routledge/Taylor and Francis Group.
- Nylund, Niklas, Patrick Prax, und Olli Sotamaa. 2021. „Rethinking Game Heritage – towards Reflexivity in Game Preservation“. International Journal of Heritage Studies 27 (3): 268–80. https://doi.org/10.1080/13527258.2020.1752772.
- Roth, Camille. 2019. „Digital, Digitized, and Numerical Humanities“. Digital Scholarship in the Humanities 34 (3): 616–32. https://doi.org/10.1093/llc/fqy057.
- Ubisoft Montreal. 2021. „Assassin’s Creed Discovery Tour: Viking Age“. Montreal.
- UNESCO. 2003. „Text of the Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage“. https://ich.unesco.org/en/convention.
- Wulf, Christoph. 2015. „Performativity and Dynamics of Intangible Cultural Heritage“. In Globalization, Culture, and Development, herausgegeben von Christiaan De Beukelaer, Miikka Pyykkönen, und J. P. Singh, 132–46. London: Palgrave Macmillan UK. https://doi.org/10.1057/9781137397638_10.