Die Memoiren der Gräfin Schwerin (1684-1732). Zur digitalen Edition eines einzigartigen Selbstzeugnisses.

Weis, Joëlle; Galka, Selina; Peper, Ines; Pölzl, Michael; Petrolini, Chiara
https://zenodo.org/records/10698228
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In den frühen 1720er-Jahren schrieb die Gräfin Luise Charlotte von Schwerin ihre Lebenserinnerungen nieder. Diese berichten in großem Detail von ihrem Leben und ihrem Übertritt vom reformierten zum katholischen Glauben im Jahr 1719 in Wien und geben einen für diese Zeit einzigartigen Einblick in die Lebenswelt einer Frau, die daraufhin aus Preußen verstoßen wurde und sich eine neue Existenz aufbauen musste. In ihren Memoiren zeichnet sie ein außergewöhnlich präzises Bild von Handlungsspielräumen und Netzwerken von Frauen des Hofadels im frühen 18. Jahrhundert. Insbesondere aus dem Raum der Habsburgermonarchie sind aus dieser Zeit keine vergleichbaren Selbstzeugnisse von Frauen erhalten.

Im Rahmen eines vom FWF finanzierten Forschungsprojekts (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, Laufzeit: 2022-2025) wird eine digitale Edition entstehen, die den Text in französischer Sprache und deutscher Übersetzung für die Forschung zugänglich macht und durch Hintergrundinformationen erschließt. Die Memoiren der Gräfin sind in zwei Abschriften in Aix-en-Provence (A) und Wien (W) überliefert. Bereits 2013 erschien eine gedruckte Edition auf Basis von Handschrift A (Daumas et al. 2013); die Wiener Abschrift wurde erst 2016 entdeckt. Die Lesefassung der digitalen Edition basiert auf beiden Abschriften und weist auch die Abweichungen aus. Bei beiden Handschriften handelt es sich offensichtlich um Abschriften, bei denen jeweils mehrere Hände involviert waren. Manuskript A ist mit dem Enddatum Juni 1721 um ca. 24% länger als Manuskript W, das bereits Weihnachten 1720 abbricht (Ms A umfasst 1428 Seiten; Ms W 630 Seiten – wobei hier die Seiten größer und enger beschrieben sind). Darüber hinaus enthält Manuskript W aber zusätzliche Passagen, die in Manuskript A vermutlich absichtlich weggelassen wurden. Zudem ist die Schreibweise von Personen- und Ortsnamen in Manuskript W deutlich genauer, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Manuskript W einen älteren Textzustand widerspiegelt und Manuskript A vermutlich absichtliche Kürzungen – eventuell zu Publikationszwecken – erfahren hat. Um die Textgenese und Überlieferungsgeschichte weiter zu klären, wird die digitale Edition eine synoptische Lesefassung sowie eine übersetzte Version, die im Zuge des Projekts erstellt wird, zugänglich machen. Die Lesefassung soll beschlagwortet werden; daneben sollen auch inhaltliche umfangreiche Kommentare zu Personen, Orten, Ereignissen und historischen Sachverhalten zur Verfügung gestellt werden. Der so gebotene flexible Zugang zur Quelle soll die Bearbeitung diverser Forschungsperspektiven zulassen und wird durch zusätzliche Explorationsangebote ergänzt (vgl. dazu auch das Konzept der “assertive edition” Vogeler 2019).

Im Zentrum der Forschungsfragen des Projekts steht das soziale Netzwerk der Gräfin in Wien. Dieses beruhte primär auf verwandtschaftlichen und informellen Beziehungen, aber auch Hofämter und kirchliche Institutionen spielten eine wichtige Rolle darin. Bei der Kodierung wird daher ein besonderes Augenmerk auf die Annotation von Personenbeziehungen gelegt - diese sollen mit <tei:relation> im Personenregister und mit der Kodierung der relevanten Stellen im Editionstext (<tei:seg> mit dem Attribut @ana, welches auf die @xml:id der <tei:relation> verweist) modelliert werden; außerdem werden sie auch in RDF abgebildet (vgl. Galka, Vogeler 2023). Im Sinne der “assertive edition” wird somit eine mehrschichtige Repräsentation geschaffen – TEI/XML-Annotationen werden mit externen Informationsstrukturen verknüpft, um die im Text enthaltenen Fakten als Aussagen (assertions) zu modellieren (Vogeler 2019, 315). Im Projekt wird außerdem ein eigenes Datenmodell, basierend auf bestehenden Ontologien zu sozialen Beziehungen und kinship entworfen (vgl. Chui, Grüninger und Wong 2020; Herradi et al. 2015). Zusätzlich kann das Projekt auf die im prosopographischen Forschungsportal VieCPro hinterlegten Daten zu Personen am Wiener Hof zurückgreifen, die die Informationen aus den Memoiren ergänzen werden (vgl. Romberg et al. 2023).

Auch für die Selbstzeugnisforschung sind die Memoiren eine aufschlussreiche Quelle. Claudia Ulbrich und Gabriele Jancke folgend, wird das autobiographische Schreiben der Gräfin konsequent als soziales Handeln aufgefasst, dessen Vielschichtigkeit es in der Edition aufzudecken gilt (vgl. Jancke und Ulbrich 2005). Auf textlicher Ebene sind daher Fragen nach den Kommunikationsabsichten sowie dem intendierten Publikum besonders spannend. Bei der Auswertung sollen computergestützte Analyseverfahren dabei helfen, auktoriale Strategien und stilistische Vorbilder (etwa die französischen Übersetzungen von Augustinus’ Confessiones oder die Memoiren der Madame de Guyon) aufzudecken sowie Phänomene wie text reuse zu erkennen. Die Rückbindung der Edition an Voyant Tools wird auch den Nutzer*innen erlauben, den Text auf eigene Fragestellungen hin zu explorieren.

Im Projekt konnten bereits einige Dinge abgeschlossen werden (z.B. die Transkription von Ms W mitsamt Kodierung von Textphänomenen wie Streichungen etc., XSLT-Transformationen zur Transformation des Outputs aus Transkribus in das finale Datenmodell, Website-Prototyp), andere Arbeitsprozesse laufen parallel und kontinuierlich (Verfeinerung des Datenmodells, Kodierung der Lesefassung, Übersetzung etc.). Das Poster wird insbesondere auf die hier beschriebenen angewandten Methoden und erste Ergebnisse eingehen sowie das Datenmodell vorstellen, mit besonderem Fokus auf soziale Beziehungen. Darüber hinaus wird es den Workflow der digitalen Edition detailliert skizzieren und erste Designmockups und weitere geplante Funktionalitäten präsentieren.


Bibliographie

  • Chui, Carmen, Michael Grüninger und Janette Wong. 2020. “An Ontology for Formal Models of Kinship.” Frontiers in Artificial Intelligence and Applications 330: 92–106. https://doi.org/10.3233/FAIA200663.
  • Daumas, Maurice und Claudia Ulbrich (Hrsg.) 2013. Mémoires de la comtesse de Schwerin. Une conversion au XVIIIe siècle. Bordeaux: PUB 2013.
  • Galka, Selina und Georg Vogeler. 2023. “Relation^3: How to relate text describing relationships with structured encoding of the relationships?” Encoding Cultures. Joint MEC TEI conference 2023. https://teimec2023.uni-paderborn.de/.
  • Herradi, Noura, Fayçal Hamdi, Elisabeth Métais, Fatma Ghorbel und Assia Soukane. 2015. “PersonLink: An Ontology Representing Family Relationships for the CAPTAIN MEMO Memory Prosthesis.” Advances in Conceptual Modeling. ER 2015. Lecture Notes in Computer Science 9382: 3–13.Cham: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-319-25747-1_1.
  • Jancke, Gabriele und Claudia Ulbrich (Hrsg.) 2005. Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung. Göttingen 2005.
  • Romberg, Marion, Maximilian Kaiser, Matthias Schlögl und Gregor Pirgie. 2023 (im Druck). “Von APIS zu VieCPro. Die Entwicklung einer multifunktionalen Prosopographiedatenbank. ” In Historische Biographik und kritische Prosopographie als Instrumente in der Geschichtswissenschaft hrsg. v. Bianka Trötschel-Daniels. Oldenburg: De Gruyter.
  • Vogeler, Georg. 2019.“The ‘assertive edition’: On the consequences of digital methods in scholarly editing for historians.” International Journal of Digital Humanities 1: 309–322.