„Da schunklet älli mit“ – Sammlung und Erforschung dezentraler Kulturdaten der schwäbisch-alemannischen Kneipenfastnacht
https://zenodo.org/records/10698483
Die schwäbisch-alemannischen Fastnacht ist schon seit Beginn ihrer modernen Renaissance Gegenstand ethnologischer oder literatur- und theaterwissenschaftlicher Forschung (Mezger, 1999). Der Schwerpunkt der bisherigen Untersuchungen lag dabei meist auf der Analyse der Kostüme (z.B. Hohl, 1999), der Einordnung öffentlich aufgeführter Bräuche, wie Umzügen oder der symbolischen Verbrennung der Fastnacht in einem großen Stroh- oder Reisigfeuer (z.B. Graf, 2019) oder der Erkundung der historischen Ursprünge und (Dis-)Kontinuitäten (z.B. Mezger, 1991).
Bislang weniger in den Blick genommen wurde dabei die Bedeutung der Kneipenfastnacht für die Kulturpraxis im deutschen Südwesten und in der nordwestlichen Schweiz1 . Diese ist ein ebenso zentraler Bestandteil der Feste und Bräuche rund um die Fastnacht. Aus Einzelhandelsfilialen, Garagen und Vereinsheimen werden in den fastnächlichen hohen Tagen „Besenwirtschaften“, von Vereinen oder Privatpersonen betrieben. Hier wird gemeinsam getanzt und gesungen. Für die eine Höhepunkt, für den anderen Unterbrechung dieser Feiern sind die Auftritte unterschiedlichster Gruppen. Die Kneipenfastnacht wird so in einigen Orten Schmelztiegel der dezentralen Kulturproduktion.
Mein Dissertationsprojekt setzt sich zum Ziel, einen erforschbaren Datensatz der im Rahmen der Kneipenfastnacht entstandenen Lieder, Gedichte und Stücke zu erstellen 1 , diesen nach den FAIR- und CARE-Prinzipien einzurichten und mit dem Einverständnis der Autorinnen und Autoren zur Verfügung zu stellen. Außerdem soll ein genauerer Überblick über die behandelten Themen und die Diskurspositionen gewonnen werden: Wie homogen ist die Themenauswahl? Wie stehen lokale, bundesweite und internationale Themen zueinander quantitativ und qualitativ im Verhältnis? Lassen sich die Positionen klar politischen Ausrichtungen zuweisen? Wie stark ist die politische Homogenität? Ich werde hierfür Ansätze im Sinne des Scalable Reading umsetzen und hermeneutische wie auch textstatistische Analysen des Korpus durchführen, beginnend mit KWIC, Keyword Extraction und most frequent n-grams, was dann um Methoden des Argument Mining erweitert werden soll. Auch die Form soll Teil dieser Untersuchung sein, um so auch in diesem Bereich Innovationen und Kontinuitäten erkennen zu können.
Den Fokus dieser Vorstellung möchte ich auf die Villinger Fastnacht und die dortigen Formen legen, da hierzu schon das meiste Datenmaterial vorliegt. Die Gruppen der Villinger Kneipenfastnacht unterscheiden sich einerseits hinsichtlich ihres Charakters als Zug/Abteilung/Gruppe einer Fastnachtsvereinigung oder als freie Gruppe, die in dieser Form nur für die Kneipenfastnacht zusammenkommt und andererseits bezogen auf die Gattung der jeweiligen Aufführung. Ich konzentriere mich hierbei auf diejenigen Aufführungen, die sich in Text niederschlagen können, also vor allem Lieder, Gedichte und Stücke.
Schon eine erste Exploration des bisher gesammelten Materials macht deutlich, dass neben politischen Themen und Alltagssujets vor allem fastnachtsspezifische Phänomene behandelt werden. Die Werke dienen hierbei nicht nur der Belustigung, sondern stelleneinen Diskussionsraum dar: Wer darf wann an welchem Brauch in welcher Rolle teilnehmen? An welchen Stellen ist Innovation erlaubt? Wo muss das bestehende gegen Veränderung beschützt werden?
Allein die Sammlung der Datengrundlage bringt in diesem Kontext große Herausforderungen mit sich, die zum einen im dezentralen Charakter der Produktion und Datenverfügbarkeit begründet sind, zum andern aber auch in brauchspezifischen Eigenheiten. Die Aufführungen werden in der Regel nicht aufgezeichnet, die Texte sind geschrieben, um im Raum zu verhallen und werden nicht in Schriftform verfügbar gemacht. Jede Gruppe verwaltet selbst die eigene Sammlung der verfassten Texte und viele der Autorinnen und Autoren wollen nicht als solche benannt werden, was nur im Kontext der fastnächtlichen Anonymität zu verstehen ist.
Kulturgüter, die so dezentral und so entfernt vom etablierten Literaturbetrieb generiert werden, blieben häufig unterhalb des Radars vieler Forschender. Die Digital Humanities bieten hier Chancen und es bleibt zu diskutieren, welche Rolle Public Science Ansätze bei der Sammlung, Aufbereitung und Kontextualisierung spielen können.
Fußnoten
Bibliographie
- Canova, Ruth. 2006. Jo, das isch e Schnitzelbangg! Basel: Spalentor Verlag.
- Graf, Edi. 2019. Fasnet – Schwäbisch-Alemannische Zünfte und Hochburgen. Meßkirch: Gmeiner Verlag.
- Hohl, Jürgen. 1999. „Gesichtsvermummung in der Fastnacht“. In Zur Geschichte der organisierten Fastnacht, hg. von der Vereinigung Schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte, 135-144. Vöhrenbach: Dold Verlag.
- Mezger, Werner. 1991. Narrenidee und Fastnachtsbrauch – Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur. Konstanz: Universitätsverlag.
- Mezger, Werner. 1999. „Vom organischen zum organisierten Brauch“. In Zur Geschichte der organisierten Fastnacht, hg. von der Vereinigung Schwäbisch-alemannischer Narrenzünfte, 7-42. Vöhrenbach: Dold Verlag.
- Schneider, Roman. 2022. „Zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit: Songtexte in der deskriptiven Sprachforschung“. In Sprachreport 1/2022. 38-50.