Uncovering the Forgotten Bits: Perspektiven von Retrocomputing und Emulation für die DH

Roeder, Torsten; Leitgeb, Johannes; Marenec, Madlin; Shtohryn, Tomash; Herbst, Yannik
https://zenodo.org/records/10698218
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Die prekäre Lage des digitalen Kulturerbes in der Gegenwart

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Abb. 1: Emulation eines Atari-ST-Systems im Emulator Hatari auf einem PC mit Windows 11.

Ein großer Teil des kulturellen Erbes der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft ist digital: Zu den relevanten Überlieferungsträgern zählen insbesondere seit der Etablierung von Heimcomputern in den 1980er Jahren in großer Menge elektronische Medienformate sowie die unmittelbar dazugehörige Hard- und Software. Die UNESCO hat früh den Stellenwert dieses besonderen Kulturerbes erkannt: Im Oktober 2003 deklarierte sie mit ihrer Charter on the Preservation of the Digital Heritage erstmals Grundsätze zum Umgang mit digitalem kulturellem Erbe auf internationaler Ebene, um es präventiv vor Verlust zu schützen und für künftige Generationen zu bewahren (vgl. UNESCO, 2003). 

Digitales Kulturerbe wird jedoch bislang von kulturellen Institutionen und Gedächtnisorganisationen im Hinblick auf ihren originären Auftrag zu sammeln, zu erforschen, zu bewahren und auszustellen nicht ausreichend mitgedacht. Diese Aufgabe kann nicht allein von öffentlichen Institutionen und Organisationen bewältigt werden; vielmehr handelt es sich um eine weitreichende Herausforderung für alle Akteur*innen im digitalen Raum. Ohne Strategien der Erhaltung und etablierte Praktiken steht ein beträchtlicher Teil des frühen digitalen kulturellen Erbes aktuell vor der Gefahr, für die Nachwelt verloren zu gehen (vgl. Lusenet, 2007). 

Die in der Charta formulierten präventiven Handlungsabsichten sind jedoch nicht trivial umzusetzen, da die überlieferten Daten häufig nur im Rahmen ihrer ursprünglichen technischen Infrastruktur aktiv erhalten werden können. Hardware wiederum ist von großer Flüchtigkeit und kann nur mit großem Aufwand funktionsfähig gehalten werden. Zur Abbildung dieser hat sich daher die Methode der Emulation als Zugang zu älteren Dateiformaten in deren ursprünglichem Kontext etabliert: Auf dem Host-System wird ein Großteil der internen Strukturen sowie der Benutzeroberfläche des emulierten Systems virtualisiert (vgl. Abb. 1). Vor dem Hintergrund methodologischer Strömungen im Bereich des Retrocomputings, namentlich der ‚Codephilologie‘ (vgl. Höltgen, 2022), steht die Arbeit an historischer Software in der neuralgischen Schnittstelle zwischen Informatik und Geisteswissenschaften. Die Erforschung digitaler Objekte in ihrem historischen wie technischen Kontext erfordert eine hybride Arbeitsweise, ein gewisses Maß an Kreativität sowie ein Grundverständnis informationstechnischer Prozesse, was den direkten Anschluss an die Digital Humanities ermöglicht.

Themen des Workshops 

Der geplante Workshop findet vor dem Hintergrund eines Forschungsprojektes statt, welches sich seit Anfang 2023 am Zentrum für Philologie und Digitalität der Julius-Maximilians-Universität Würzburg mit der Erschließung und Erhaltung sogenannter Diskettenmagazine (Diskmags) auseinandersetzt. Bei diesen handelt es sich um periodische Publikationen auf Diskette mit Inhalten der Heimcomputer-, Computerspiele- und Demoszene (vgl. Roeder, 2022). Um diese zu erschließen, kommt im Laufe des Projekts eine Vielzahl an Emulatoren von Heimcomputern zum Einsatz, welche mit Rücksicht auf die wissenschaftliche Arbeit jedoch eine besondere Reflektion erfahren: Als Vermittlungsinstanz müssen Emulatoren als „Interpretation zweiter Ordnung“ (Pias, 2017, 384) gelten und nehmen einen „Umschreibprozess“ (Höltgen, 2022, 106) am informatischen Artefakt vor. In vielen Aspekten können die Emulatoren kein vollständiges Surrogat für die originalen Systeme sein; die Betrachtung der digitalen Objekte im Emulator ist immer defizitär. Auch diese Reflektion und Perspektivierung der Emulatoren als eigenes System mit den entstehenden Trade-Off-Effekten ist jedoch noch nicht ausreichend vorangetrieben worden, sodass die Emulatoren nicht nur als Werkzeug, sondern auch als Forschungsobjekt von Relevanz für die DH sind.

Erkenntnisinteressen

In einer Vielfalt an Disziplinen ist die Erhaltung historischer Software und Dateien inzwischen von besonderer Relevanz, darunter in den Game Studies und in der Erforschung digitaler Literatur genauso wie in der Archivarbeit sowie in der Museumspraxis. Emulatoren können dabei die Zugänglichkeit zu digitalen Objekten stärken – sowohl für die Forschenden als auch für die öffentliche Präsentation. Als heuristisches Modell für das Originalsystem ermöglichen sie einen Zugriff, der das digitale Artefakt in das Licht unmittelbarer Interagierbarkeit stellt. So erlauben Emulatoren in Museen wie dem Computerspielemuseum in Berlin die Präsentation von Spielen, ohne die ebenso erhaltenswerte historische Hardware einer übermäßigen Abnutzung zu unterziehen. (vgl. Lange, 2012) Auch in der Erforschung digitaler Literatur spielen Emulatoren eine wichtige Rolle, können sie doch die spezifischen Episteme in der Entstehung der Texte dokumentieren. In der Erschließung digitaler Nachlässe ermöglichen Emulatoren den Zugriff auf die oftmals proprietären Dateiformate älterer Textverarbeitungssysteme. Ferner werden Emulatoren in den Kontext von Langzeitarchivierung digitaler Objekte eingeordnet (vgl. Loebel, 2014), wo sie den Erhalt von Software unabhängig von der zugehörigen Hardware ermöglichen.

Die angesprochenen Felder sind Teil verschiedener zentraler Diskurse in den DH, die den Erhalt historischer Daten als Gemeinsamkeit haben. Im vorgeschlagenen Workshop ist es diese Abhängigkeit, die als Motivation der Stärkung einer Schnittstelle zwischen Retrocomputing und DH-Forschung gelten muss. Darüber hinaus begründet die überaus hohe Heterogenität der Datei- und Systemstrukturen den Hands-on-Ansatz als unmittelbare Notwendigkeit in der Vermittlung der Problemstellen computerhistorischen Arbeitens.

Der Hands-on-Ansatz des Arbeitens mit Emulatoren als Kerngebiet des Retrocomputings soll daher im Workshop durch theoretische Perspektiven und Ausblicke ergänzt werden. Dabei kann auf die Sensibilität für die Datenquellen im Retrocomputing und für den Erhalt von historischen Datenträgern hingewiesen werden. Als Beispiel lassen sich hier die im oben erwähnten Projekt untersuchten Diskmags heranziehen: In vielen Fällen wurden die Disketten nur dezentral von privaten Sammler*innen gesammelt, archiviert und online zugänglich gemacht. Damit sind sie prototypisch für viele Ressourcen im Retrocomputing, die zusätzliche Reflektion im Arbeitsprozess erfordern. Ferner stellen sich auch Fragen zum Verhältnis zwischen Emulation, digitaler Edition und originaler Hardware: Für die Erschließung historischer digitaler Artefakte muss eine Abwägung zwischen deren verschiedenen Möglichkeiten und Bedingungen getroffen werden. Aus diesen Feldern speist sich die Diskussion im Seminar, nicht zuletzt jedoch mit dem übergeordneten Ziel, Anwendungs- und Entwicklungspotenziale des Retrocomputings in den DH ausgehend von den fachlichen Hintergründen der Teilnehmenden zu evaluieren.

Ablauf des Workshops

Das Ziel des Workshops ist es daher zunächst, den Teilnehmenden das theoretische und praktische Wissen über die Grundlagen und Prinzipien von Retrocomputing zu vermitteln. Die Teilnehmenden müssen dabei kein spezifisches Wissen zum Thema besitzen. Im Workshop werden sie erfahren, wie die ausgewählten Systeme funktionieren, wie man mit einem Emulator arbeitet und wie die Daten aus den Disketten in virtueller Form ( Disk Images) extrahiert und verarbeitet werden. Über das praktische Wissen aus dem Hands-on-Verfahren hinaus werden mit der Diskussion des Einsatzes von Emulatoren für die Erhaltung digitaler Objekte potenzielle Forschungsdesiderate in den DH offengelegt.

Um eine angenehme und produktive Arbeitsatmosphäre während des Workshops gewährleisten zu können, ist die Teilnehmerzahl auf 30 Personen begrenzt. Da es sich um ein Hands-on-Format handelt, sollen die Teilnehmenden eigene Laptops mitbringen. Die erwähnten Emulatoren sind auf den üblichen Betriebssystemen lauffähig. Zudem ist seitens der Referent*innen wünschenswert, dass der Workshop-Raum über einen stabilen Internetzugang verfügt und mit einem Beamer sowie einer Tafel oder einem Flipchart und außerdem mit Steckdosen in erreichbarer Nähe der Arbeitsplätze ausgestattet ist. Sinnvoll wäre weiterhin die Möglichkeit, Gruppentische für jeweils 4 bis 6 Personen zu bilden.

Der Workshop ist in Form eines ganztägigen Emulator-Hackathons mit zwei Sessions je vier Stunden angelegt.

Die erste Hälfte des Workshops startet mit einer kurzen Vorstellungsrunde (0,5h), in der sich die Teilnehmenden über ihre Interessen und Erfahrungen mit Retrocomputing austauschen können. Anschließend folgt der erste theoretische Teil, welcher den Teilnehmenden die Grundlagen der Emulation näher bringt und Kenntnisse über gängige Emulatoren sowie deren Anwendung vermittelt. Dabei nimmt insbesondere das Verhältnis der Emulatoren zur originalen Hardware einen großen Teil ein; geplant ist dafür auch, historische Geräte vorzuführen (1h). Nach einer 15-minütigen Pause folgt der erste praktische Teil (2h), in welchem sich die Teilnehmenden gemeinsam mit den Referent*innen mit dem VICE-Emulator für das System Commodore 64 auseinandersetzen. Hierbei wird das Programmieren mit der BASIC-Sprache umrissen; die Teilnehmenden können sich zudem an simplen Textverarbeitungsaufgaben ausprobieren sowie ausgewählte Diskmags und deren Inhalt entdecken.

Die zweite Hälfte des Workshops dient dazu, die in der ersten Session erlernten Fähigkeiten und Kenntnisse zu reflektieren und zu erweitern. Auf Basis dessen wird zu Beginn in einem zweiten theoretischen Teil der Trade-Off-Effekt zwischen Hardware und Emulation mit den Teilnehmer*innen diskutiert sowie sich mit der Frage auseinandergesetzt, welche Vorteile das Arbeiten mit Emulatoren für die Forschung im wissenschaftlichen Bereich bieten kann (1h). Diesem schließt sich ein zweiter praktischer Teil (2h) an, in welchem die Teilnehmer*innen sich in mehreren Kleingruppen zusammenschließen, um so partizipativ verschiedene andere Systeme (z.B. Atari, Amiga, Apple II etc.) und ihre Emulatoren zu testen und auszuprobieren. Diese aktive Teilhabe soll das bis zu diesem Zeitpunkt Erlernte festigen, um so einen Erkenntnisgewinn für die Teilnehmenden zu gewährleisten.

Dem Workshop schließt sich gegen Ende hin eine Abschlussdiskussion (1h) an, in welcher die Teilnehmer*innen gemeinsam mit den Referent*innen auf den Verlauf des Workshops zurückblicken, die Inhalte kritisch reflektieren sowie aktiv miteinander über Emulatoren und das Potenzial ihres Einsatzes im Kontext der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb der Digital Humanities diskutieren.

Vor dem Workshop werden wir eine kurze Umfrage zu besonderen Interessen und Kenntnissen der Teilnehmer*innen erstellen, um die zweite Hälfte des Workshops in der inhaltlichen Ausrichtung daraufhin vorzubereiten und anzupassen.

Kontaktdaten und Forschungsinteressen

Dr. phil. Torsten Roeder

Kontakt: torsten.roeder@uni-wuerzburg.de

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg, zuständig für Digitale Editionen, aktuelle Schwerpunkte Hybridität und frühes digitales Kulturerbe.

Yannik Werner Herbst, B.A.

Kontakt: yannik.herbst@uni-wuerzburg.de

Ist Student der Digital Humanities im Master und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg. Seine Forschungsinteressen umfassen Digitale Editionen mit Schwerpunkt auf Synoptischen Ansichten, Interface Beschreibungen, Data Mining, Retrocomputing etc.

Johannes Leitgeb, B.A.

Kontakt: johannes.leitgeb@stud-mail.uni-wuerzburg.de

Ist Student der Digital Humanities und der Germanistik im Master und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft im Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg. Seine Forschungsinteressen umfassen Retrocomputing, Computational Literary Studies sowie die Darstellung von Informatik und Physik in der deutschsprachigen Literatur.

Madlin Marenec, B. A.

Kontakt: madlin@mrsmuseum.de

Studiert Digital Humanities sowie Museum Studies im Master und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft im Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Digital Literacy im Museumsbereich, die Computational Museology sowie digitale Sammlungsforschung.

Tomash Shtohryn, B.A.

Kontakt: tomash.shtohryn@stud-mail.uni-wuerzburg.de

Studiert Digital Humanities im Master und arbeitet als wissenschaftliche Hilfskraft am Zentrum für Philologie und Digitalität an der Universität Würzburg. Seine Forschungsinteressen umfassen die Anwendung von Data Science-Methoden im Bereich der Digitalen Editionen und Natural Language Processing.


Bibliographie

  • Höltgen, Stefan. 2022. Open History. Archäologie des Retrocomputings. Berlin: Kulturverlag Kadmos.
  • Lange, Andreas. 2012. "Pacman im Archiv. Computerspiele als digitales Kulturgut. " Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9(2). 10.14765/zzf.dok-1587 (zugegriffen: 05. Dezember 2023).
  • Loebel, Jens-Martin. 2014. Lost in Translation. Leistungsfähigkeit, Einsatz und Grenzen von Emulatoren bei der Langzeitbewahrung digitaler multimedialer Objekte am Beispiel von Computerspielen. Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch.
  • Lusenet, Yola de. 2007. "Tending the garden or harvesting the fields: digital preservation and the UNESCO Charter on the Preservation of the Digital Heritage. " Library trends 56(1): 165-182. 10.1353/lib.2007.0053 (zugegriffen: 19. Juli 2023). 
  • Pias, Claus. 2017. "Medienphilologie und ihre Grenzen. " In Medienphilologie: Konturen eines Paradigmas, hg. von Friedrich Balke und Rupert Gaderer, 365-385. Göttingen: Wallstein.
  • Roeder, Torsten. 2022. "Rescuing Diskmags: Towards Scholarly [Re]Digitisation of an Early Born-Digital Heritage. " magazén 3(1): 139-158. 10.30687/mag/2724-3923/2022/05/006 (zugegriffen: 18. Juli 2023).
  • UNESCO. 2003. "Charter on the Preservation of the Digital Heritage. " CL/3865. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000179529 (zugegriffen: 18. Juli 2023).