Digitalität in der germanistischen Literaturwissenschaft, quo vadis? Ein Bericht aus der Praxis

Boucher, Marie-Christine; Gold, Julia; Menke, Fabian; Preis, Matthias; Benz, Maximilian; Buschmeier, Matthias; Kababgi, Daniel; Kauffmann, Kai; Erhart, Walter; Herrmann, Berenike
https://zenodo.org/records/10698466
Zum TEI/XML Dokument

Dieser Beitrag berichtet aus der Praxis der Implementierung von Digitalität in der germanistischen Lehre an der Universität Bielefeld. Ausgehend von den Herausforderungen der digitalen Transformation von Gesellschaft und Geisteswissenschaften wird geschildert, welche digitalen und kollaborativen Möglichkeiten im Bereich der Literaturgeschichte entwickelt werden, wie Studierende in einem Bachelor-Studiengang der Germanistik Kompetenzen der Digital Humanities und Fachwissen über emergente Phänomene der Digitalität in Gegenwartsliteratur und Medialität erwerben, wie Fragen der Alterität in der mediävistischen Lehre begegnet wird und welche fachdidaktischen Ansätze sich zu medienkritischen Diskursen, Algorithmizität und digitaler Ästhetik bewähren.

Dabei wird kritisch beleuchtet, vor welchen Herausforderungen die Teilfächer, die Dozierenden und Studierenden gerade einer stark auf Lehramtsstudiengänge ausgerichteten Germanistik standen und stehen. Im Kontext des Projekts Curriculum 4.0.NRW (Gestaltung von Hochschulcurricula für die digitale Welt) werden das ‚Fachportal‘, aber auch das ‚Basismodul Literaturwissenschaft‘ des Studiengangs BA Germanistik an der Universität Bielefeld weiterentwickelt und zudem ein Profilmodul mit dem Schwerpunkt ‚Literatur in der Gegenwart: Kultur, Medien, Digitalität‘ definiert, um damit das Qualifikationsprofil des Studiengangs mit Blick auf einen weiten Begriff von Digitalität zu modifizieren. Dies erfolgt z.B. durch die Einbindung von Open Educational Resources (OERs) zu Data Literacy (BiLinked), und insbesondere zur Literaturgeschichte ( LiGeDi).

LiGeDi (‚Literaturgeschichte(n) erarbeiten – Gemeinsam im Digitalen‘) ist ein universitäres Lehr-Lern-Projekt mit dem Anspruch, Literaturgeschichte auf kollaborative und interaktive Weise im digitalen Raum zu vermitteln, um Literaturgeschichte als ein gemeinsames Gespräch über Texte, Fachdiskurse und ihre Kontexte zu verstehen. In den digitalen Lerneinheiten werden eine Vielzahl von digitalen Formaten integriert, darunter Videos, Podcasts und interaktive H5P-Inhalte wie Quizzes, Lernkarteien oder eEssays. Die Kurse enthalten über ihre literaturgeschichtlichen Inhalte hinaus zahlreiche Verweise auf essentielle Hilfsmittel, welche für die gemeinsame Teamarbeit, und den literaturwissenschaftlichen Umgang mit Texten verwendet werden können.

In der Mediävistik wurde im Sommersemester 2022 und Wintersemester 2022/23 im Rahmen eines vom Qualitätsfonds der Universität Bielefeld geförderten Projekts ein virtueller Escape Room entwickelt und implementiert, der die fachliche Einführung begleitet und ergänzt. Virtuelle, immersive Escape Room-Erfahrungen stellen eine zukunftsorientierte Form des Lehrens und Lernens dar; die Studierenden sind spielerisch aufgefordert, die Wissensinhalte, Konzepte und Materialien anwenden, überprüfen, bewerten und in Beziehung setzen zu können, die sie parallel in einer traditionellen Lernumgebung (Präsenz- oder Hybrid-Seminar) kennenlernen. Der Escape Room ist als branching scenario in H5P realisiert und in Moodle eingebunden. Es besteht aus einem Abenteuer, das die Studierenden durch fünf virtuelle Räume führt, die mit Rätseln, Hinweisen und Aktivitäten gefüllt sind, die ihnen helfen, sich mit den Kursinhalten tiefergehend zu beschäftigen. Gamification-Ansätze, die im Bereich der Forschung zur digitalen germanistischen Mediävistik bislang ein Desiderat darstellen (vgl. Lienert u.a., 2022), ermöglichen eine niederschwellige, intensive Auseinandersetzung mit den fachlichen Inhalten sowie den interaktiven Wissenstransfer. 

Fachdidaktische Veranstaltungen legen einen besonderen Fokus auf den rezeptiven und produktiven Umgang mit diversen digital-medialen Texten unter Vermittlungsaspekten (analoges vs. digitales Lesen, Medienverbund, Social Media/Reading, Fanfiction etc.). Ferner führen sie ein in digitale Lehr- und Lernmethoden und thematisieren medienkritische Diskurse u.a. zu Fragen der digitalen Kommunikation (z.B. Echokammer; Identitätskonstruktion; konzeptionelle Mündlichkeit/Schriftlichkeit), der Algorithmizität (z.B. TikTok, ChatGPT, Midjourney) und der digitalen Ästhetik (z.B. poetische KI, postartifizielle Texte). Der jährlich von der germanistischen Fachdidaktik organisierte Medienbildungstag (MeBiT) widmet sich wechselnden Themenstellungen zu Fragen des Lehrens und Lernens im (post)digitalen Zeitalter, etwa Kreativitätsentwicklung, Gamification oder Algorithmen im Unterricht.

Teildisziplinübergreifend wird ein digitales Literatur-Korpus (KOLIMO+) aufbereitet, um über Services der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur Text+ auch für die Lehre langfristig zur Verfügung zu stehen. Anhand des skalierbaren Korpus soll die Einübung und Auseinandersetzung mit digitalen Verfahren der Philologie erprobt werden, insbesondere quantitative Verfahren des Distant Reading  am Beispiel von Frequenzanalysen, Stilometrie, aber auch Annotationspraktiken und ein digitales Close Reading. Diese werden durch entsprechende Tools wie R/Python-Bibliotheken, aber auch Voyant und CATMA (‚Computer Assisted Textual Markup & Interface‘) praktisch eingeführt. Studierende sollen so durch die Nutzung von state of the art-Anwendungen nicht nur literaturhistorisches Domänenwissen erlangen, sondern auch Data Literacy-Kompetenzen, die u.a. in gesellschaftlichen ( citizenship) und Erwerbskontexten ( employability) maßgeblich sind.

Die Rückführung der praktischen Erfahrungen in die Konzeptualisierung und Operationalisierung einer domänenspezifischen Data Literacy sowie Aspekte der fachspezifischen Hochschuldidaktik in den Studiengang erfolgt u.a. im Rahmen eines Curriculum 4.0.NRW-Projekts zur Digitalisierung der Hochschullehre, das fachrelevante Praktiken ab dem Beginn des Studiums gezielt vermittelt. Zudem fragt die BiLinked  Community of Pratice ‚Data Literacy‘: Worin besteht eine genuin literaturwissenschaftliche Data Literacy? Wie ist sie von Medienkompetenz abzugrenzen? Welche Tools bewähren sich für welche Zwecke? Und welche generalisierbaren Methoden-Kompetenzen jenseits des einzelnen Tools sind zentral? Darf man anderswo Abstriche machen, um zentrale Daten- und Medien-Kompetenzen zu fördern? Wenn überhaupt, wo?

Auf unterschiedlichen Ebenen wird bei uns Digitalität – teils auch in Kollaboration mit Computerlinguistik, Geschichts- und Erziehungswissenschaft sowie Gender Studies – zunehmend im germanistischen Curriculum verankert. Wir berichten von diesbezüglichen Herausforderungen und Best Practices, von Einsichten und Perspektiven.


Bibliographie

  • Albrecht, Christian, Matthias Preis und Peter Schildhauer. 2020. Verstetigung im Wandel. Antinomien als Konstanten digitaler Transformation? In Digitale Innovationen und Kompetenzen in der Lehramtsausbildung, hg. von Michael Beißwenger et al., 15-41. https://doi.org/10.17185/duepublico/73330 .
  • Beiträge Zur Mediävistischen Erzählforschung. 2022. Themenheft 12: Digitale Mediävistik. Perspektiven der Digital Humanities für die Altgermanistik. https://doi.org/10.25619/BME_H20223 .
  • Universität Bielefeld. BiLinked - Universität Bielefeld. https://www.uni-bielefeld.de/lehre/innovative-lehrprojekte/bilinked/ (zugegriffen: 28. November 2023).
  • Ciecior, Jens, Tanja A. Kunz, Stephanie Wollmann, Karima Lanius und Matthias Buschmeier. 2023. „Literary History in Digital Teaching and Learning: The KoLidi-Project—Collaborative and Interactive Approaches for German Studies“. In: Innovative Approaches to Technology-Enhanced Learning for the Workplace and Higher Education, hg. von David Guralnick, Michael E. Auer, und Antonella Poce, 581: 114–124. Cham: Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-031-21569-8_11.
  • Curriculum 4.0.nrw | Stifterverband. https://stifterverband.org/curriculum_4_0_nrw (zugegriffen: 28. November 2023).
  • Cwielong, Ilona, Sophie Sossong, Malte Persike, Philipp Weyers und Alina Vogelgesang. 2021. „Daten und Data Literacy im Kontext der Wissenschaft“. Medienimpulse , September, 35 Seiten Seiten. https://doi.org/10.21243/MI-03-21-14 .
  • Frederking, Volker und Axel Krommer. 2019. Digitale Textkompetenz. Ein theoretisches wie empirisches Forschungsdesiderat im deutschdidaktischen Fokus. https://www.deutschdidaktik.phil.fau.de/files/2020/05/frederking-krommer-2019-digitale-textkompetenzpdf.pdf .
  • Gius, Evelyn, Jan Christoph Meister, Malte Meister, Marco Petris, Mareike Schumacher und Dominik Gerstorfer. 2023. CATMA 7 (Version 7.0). Zenodo. https://doi.org/ 10.5281/zenodo.1470118 .
  • Herrmann, J. Berenike. 2017. „In a test bed with Kafka. Introducing a mixed-method approach to digital stylistics“. Herausgegeben von Joris J. van Zundert, Sally Chambers, Marijn Koolen, Mike Kestemont, und Catherine Jones. DHQ: Digital Humanities Quarterly 11 (4). http://digitalhumanities.org/dhq/vol/11/4/000341/000341.html .
  • Herrmann, J. Berenike, und Gerhard Lauer. 2018. „Korpusliteraturwissenschaft. Zur Konzeption und Praxis am Beispiel eines Korpus zur literarischen Moderne“. Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 92: 127–56.
  • Primorac, Antonija, Rosario Arias, Roxana Patras, Eva Eglāja-Kristsone, Karina van Dalen-Oskam, Berenike Herrmann, Christof Schöch, und Pieter François. 2023. „Distant Reading Two Decades On: Reflections on the Digital Turn in the Study of Literature“. Digital Studies / Le Champ Numérique . https://doi.org/10.16995/dscn.8855 .
  • Kunz, Tanja Angela, Matthias Buschmeier, Jens Ciecior, Karima Lanius und Stephanie Wollmann. 2023. „Digital Open Education Im Bachelor-Studium: Lesen Und Schreiben in LMS-Basierten Selbstlernkursen Im Bereich Der Deutschsprachigen Literaturgeschichte“. MiDU - Medien Im Deutschunterricht 5 (1): 1-16. https://doi.org/10.18716/ojs/midu/2023.1.8 .
  • Lauer, Gerhard. 2020. Lesen im digitalen Zeitalter . Darmstadt: wbg Academic.
  • Literaturgeschichten.de. https://literaturgeschichte-kolidi.de (zugegriffen: 28. November 2023).
  • Sinclair, Stéfan und Geoffrey Rockwell. 2016. Voyant Tools . http://voyant-tools.org/   (zugegriffen: 28. November 2023).