Narrativität visualisieren - Eine Rezeptionsstudie zur Evaluation der heuristischen Qualität von Narrativitätsgraphen
https://zenodo.org/records/10698506
Die visuelle Repräsentation von literarischen Phänomenen ist ein etablierter Ansatz in den Computational Literary Studies, um die aus Texten extrahierten Daten bzw. abgeleiteten Strukturen zu explorieren und zu interpretieren (cf. Baillot u. Lassner 2022; Krämer 2014). Vor diesem Hintergrund soll das vorgeschlagene Poster die Ergebnisse einer Rezeptionsstudie präsentieren, mit der die heuristische Qualität von den im Projekt EvENT ("Evaluating Events in Narrative Theory") bislang generierten Narrativitätsgraphen überprüft wurde. Ziel der Studie war es, die Erkennbarkeit der den Graphen zugrunde liegenden Texte zu untersuchen, um hieraus Rückschlüsse für die Weiterentwicklung des EvENT-Ansatzes wie auch die Anwendbarkeit der Graphen für die literaturwissenschaftlich-hermeneutische Praxis zu ziehen. Dabei stellen die Graphen das Ausmaß der Narrativität (auf der y-Achse) über den Textverlauf (auf der x-Achse) dar.
Die Narrativitätsgraphen basieren auf den vier, im EvENT-Projekt auf der Grundlage des narratologischen Forschungsstands konzipierten Ereigniskategorien (Zustandsveränderungen, Prozesseereignisse, statische Ereignisse und Nicht-Ereignisse) und der ihnen zugewiesenen Narrativitätsgrade (cf. Vauth u. Gius 2021). Die über die automatisierte Annotation von Verbalphrasen auf der Textoberfläche detektierten Ereignisse (cf. Hatzel 2022) werden im EvENT-Projekt verwendet, um die Narrativität von Texten über den Textverlauf als Narrativitätsgraphen abzubilden und damit auch die Handlung ihrer Geschichten zu modellieren (cf. Vauth et al. 2021; Gius u. Vauth 2022). Eine Annahme bei dieser Modellierung war, dass die Graphen ebenso die "Erzählwürdigkeit" der Ereignisse in den Texten indizieren und sich damit dem in der Narratologie als Event II diskutierten Phänomen annähern (cf. Hühn 2009, S. 80). Event II stellt einen Ereignistyp mit zusätzlichen Merkmalen im interpretativen Kontext dar, wie z. B. Relevanz oder Unerwartetheit, geht also über die vier oben genannten, grundlegenden Ereigniskategorien hinaus.
Die Studie wurde als Webanwendung konzipiert. React und Plotly wurden im Front-End verwendet und die Antworten an ein fastAPI-basiertes Back-End übermittelt, welches diese in einer PostgreSQL-Datenbank protokollierte. Auf diese Weise wurde eine schnelle Iteration des Studiendesigns sowie die Teilnahme auf allen wichtigen Plattformen ermöglicht.
Die 19 Teilnehmer:innen der Studie (aktuelle und ehemalige Studierende der Germanistik), wurden gebeten, einem literarischen Text den richtigen Narrativitätsgraphen zuzuordnen, wobei für jeden Text vier Graphen als Antwortmöglichkeiten ausgegeben wurden. Die Textdarbietung erfolgte auf drei unterschiedlichen Abstraktionsniveaus bzw. in drei Phasen. In der ersten Phase wurden die Teilnehmenden gebeten, zwei kurze deutschsprachige literarische Texte zu lesen und diese jeweils dem richtigen Graphen zuzuordnen. In der zweiten Phase erfolgte die Auswahl der Graphen auf der Grundlage von Zusammenfassungen, in denen die wesentlichen Ereignisse des jeweiligen Textes in chronologischer Reihenfolge präsentiert werden. In der dritten Phase wurden den Teilnehmenden nur die Titel der Texte angeboten, denen ein entsprechender Graph zugewiesen werden sollte. Bei diesen Texten handelt es sich um kanonische Texte (z. B. Hänsel und Gretel von den Brüdern Grimm), deren allgemeine Bekanntheit vorausgesetzt werden konnte.
Zu den auf dem Poster zu präsentierenden Resultaten der Studie gehört, dass der Anteil der korrekten Zuordnungen der Graphen zu den Texten durch die Teilnehmenden bei 25,56 % und damit nicht signifikant über dem Zufallsprinzip liegt. Allerdings gibt es eine positive Korrelation bei Teilnehmenden mit EvENT-Erfahrung (durch Mitarbeit im Projekt, Kenntnis der Annotationsguidelines), welche die korrekten Texte in 47.5% der Fälle ausgewählt haben, ein Wert der mittels Binomialtest als statistisch signifikant identifiziert wurde (p < 0.01). Wir konnten zudem mit statistischer Signifikanz zeigen, dass die Zeit, die sich Teilnehmende zur Beantwortung einer Frage nahmen, mit der Quote der richtigen Antworten korreliert. Auch waren lange Texte für unsere Annotator:innen statistisch signifikant schwieriger zu identifizieren als kurze (hier ist anzumerken, dass alle vier Optionen für eine Identifikation stets so gewählt waren, dass sie ähnliche Längen aufwiesen). Offenkundig ist die Identifikation der textzugehörigen Graphen voraussetzungsreich. Im Anschluss an die Zuordnungsaufgaben beantworteten die Teilnehmenden zwei offene Fragen nach ihren Entscheidungsgrundlagen im Verlauf der Studie. Die Antworten legen nahe, dass die Narrativitätsverläufe der Graphen als Repräsentationen von Event II-Vorkommen und die Amplitudenausschläge damit als Verweise auf besonders handlungsrelevant erscheinende Textpassagen interpretiert wurden. Als entscheidungsrelevant wurden von den Teilnehmenden außerdem nicht nur die Peaks der Graphen, sondern auch deren Anzahl sowie Anfang und Ende eines Narrativitätsverlaufs ausgewiesen.
Bibliographie
- Baillot, Anne und David Lasser. 2022. “Von Graphen zu Word Embeddings – Zur Entwicklung des mathematischen und visuellen Instrumentariums der Literaturwissenschaft.” Germanica 71/2, Landkarten und Zeitleisten: zur Funktion von Bildern in der Literaturgeschichte / La carte et la frise: les images de l'histoire littéraire, entre visualisation et modélisation: 191-203. https://doi.org/10.4000/germanica.19002
- Gius, Evelyn und Michael Vauth. 2022. Inter Annotator Agreement und Intersubjektivität – Ein Vorschlag zur Messbarkeit der Qualität literaturwissenschaftlicher Annotationen. DHd 2022 Kulturen des digitalen Gedächtnisses. 8. Tagung des Verbands “Digital Humanities im deutschsprachigen Raum”. Potsdam. https://doi.org/10.5281/zenodo.6328209.
- Hatzel, Hans Ole. 2022. Event Narrativity Classifier. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.6821142.
- Hühn, Peter. 2009. Event and Eventfulness. In: Handbook of Narratology, hg. von Peter Hühn; Christoph Meister, John Pier u. Wolf Schmid, 80-97. Berlin/New York: De Gruyter.
- Krämer, Sybille. 2014. Zur Grammatik der Diagrammatik: Eine Annäherung an die Grundlagen des Diagrammgebrauches. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 176/4: 11-30. http://dx.doi.org/10.1007%2FBF03377227
- Vauth, Michael und Evelyn Gius. 2021. Richtlinien für die Annotation narratologischer Ereigniskonzepte. Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.5078174.
- Vauth, Michael, Hans Ole Hatzel, Evelyn Gius und Chris Biemann. 2021. “Automated Event Annotation in Literary Texts“. In: CHR 2021: Computational Humanities Research Conference, 333-345. Amsterdam. http://ceur-ws.org/Vol-2989/short_paper18.pdf.