Co-Kreativität digital erschließen: Über die Annotation komplexer ästhetischer Phänomene
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Forschungsfrage
Obwohl gemeinschaftliche Autorschaft in der frühen Neuzeit häufig der Normalfall war, geht die Forschungsliteratur weiterhin und gerade dann von einem Konzept der Einzelautorschaft aus, wenn sie sich lediglich auf die Identifizierung der Anteile individueller Autoren (insbesondere Shakespeares) an Gemeinschaftswerken fokussiert (z.B. Vickers, 2002). Das Aufkommen und die Verbesserung digitaler Methoden hat leider nur zu einer Bagatellisierung des Konzepts gemeinschaftlicher Autorschaft geführt; stilometrische Untersuchungen von dramatischen Texten befördern die Vorstellung von gemeinschaftlicher Autorschaft als Summe von Einzelautorschaften und reduzieren die Autor- und Urheberschaft auf den Stil. Gemeinschaftliche Autorschaft ist aber mehr als die Summe ihrer Teile; um sie zu erforschen, braucht man eine Idee davon, was an ihr anders ist. Um dies herauszufinden, sollte man wissen, wie in der Frühen Neuzeit selbst darüber gedacht wurde. Im Projekt zur Ästhetik gemeinschaftlicher Autorschaft1 haben wir uns zum Ziel gesetzt, das bislang wenig beachtete, inhärente Konzept der Co-Kreativität, das der Praxis gemeinschaftlicher Autorschaft zugrunde liegt, aus englischen literarischen Texten der Frühen Neuzeit zu erschließen. Wir untersuchen daher implizite und explizite Reflexionen co-kreativer Prozesse, die wir z.B. in Metaphern des Gebens und Nehmens finden (etwa George Herberts Widmung seines Gedichtbandes an Gott „The Dedication,“ Z. 1-2: „from [whom] they came / and must return“ (Herbert, 2008, 44; s. dazu Bauer et al., 2023a). Um über einzelne, qualitative Studien hinaus auch einen Blick für wiederkehrende Reflexionsfiguren und weitgreifende Konzepte zu gewinnen, nutzen wir das Annotationsprogramm CorefAnnotator2 ; damit können wir in größeren Korpora Reflexionen über Co-Kreativität digital erfassen und systematisieren. Eine solche Systematisierung ästhetischer Reflexion ist allerdings auch eine große Herausforderung für digitale Methoden (siehe Heiniger et al., 2022).
Material
Wir entschieden uns zu Beginn der Arbeit für kurze, aber reflexionsdichte Texte, d.h. Gedichte, um möglichst schnell einen Einblick in verschiedene Autoren und Werke zu erlangen. Bei der Aufbereitung der unserer Arbeit zugrunde liegenden Gedichtkorpora griffen wir überwiegend auf editierte, in digitaler Form vorliegende Werke bekannter frühneuzeitlicher Autoren zurück und bereiteten diese auf Basis intern entwickelter Richtlinien für die Weiterarbeit im CorefAnnotator vor.3 Zunächst beschränkten wir unsere Auswahl auf zuvor von der Annotationsgruppe ausgewählte Fallbeispiele, d.h. wir annotierten zunächst fünf im Hinblick auf die Reflexionsdichte exemplarische Gedichte einiger Dichter. Diese Beispielgedichte dienten zur ersten Entwicklung der Annotationsrichtlinien. Im nächsten Schritt arbeiteten wir ausschließlich mit zufällig gewählten, aber in Proportion zur Korpusgröße des Autors stehenden Gedichten fünf bekannter frühneuzeitlicher Autoren: Edmund Spenser, George Herbert, Henry Vaughan, John Donne und William Shakespeare. Diese 100 Gedichte, aufgeteilt in zwei Korpora mit je 50 Gedichten, dienen nun als Grundkorpus für die Entwicklung, Erprobung und Überarbeitung unserer Annotationsrichtlinien; das annotierte erste Korpus bildet den Datensatz für die ersten Auswertungen.
Methode
Aufgrund der Komplexität des Phänomens, das wir untersuchen, nutzten wir den CorefAnnotator von Anfang an als heuristisches Instrument, das uns in erster Linie zur Erfassung des Konzepts der Co-Kreativität diente. Es benötigte zunächst einen Fehlversuch, um eine Methode zu finden, die uns ermöglichte, Reflexionen über Co-Kreativität in Texten nicht nur zu lokalisieren und konkret in items zu verankern, sondern auch zu beschreiben und in Zusammenhang zu bringen.
Der erste Versuch, co-kreative Reflexionen in Gedichten zu annotieren, basierte auf dem Expertenvorwissen aller Annotator:innen. Wir suchten zunächst nach Bausteinen, die kombiniert, so lautete unsere Hypothese, ein bestimmtes Konzept der Co-Kreativität bildeten. Wenn also z.B. Herbert von einem Austausch der Gedichte zwischen Gott und ihm spricht, könnte man dieses Konzept als aus den Bausteinen des Gebens und Nehmens gebildet analysieren. Die Herausforderung dieser Herangehensweise lag darin, die Bausteine ohne Kenntnis des im Gedicht anzutreffenden Konzepts zu identifizieren. Ein erster Versuch bestand darin, Synonyme bereits bekannter Bausteine in unseren Fallbeispielkorpora ausfindig zu machen und manuell 50 tokens vor und nach dem Beleg zu untersuchen, um herauszufinden, ob gewisse Bausteine häufig zusammen mit bestimmten anderen Ausdrücken eine Reflexion über Co-Kreativität bilden. L eider konnte jedoch auf diese Weise kein für die Reflexion von Co-Kreativität charakteristisches Vokabular ermittelt werden. Folglich richteten wir unsere Untersuchung neu aus und entwickelten das Komponenten-Modell.
Dieses Modell geht davon aus, dass die Reflexion über co-kreative Prozesse einen Sonderfall der Reflexion über Produktionsvorgänge bildet, an denen mehrere Akteure beteiligt sind. Dementsprechend erfolgt die Annotation co-kreativer Reflexionen in mehreren Schritten: zunächst muss der im Text erwähnte Akt der Produktion oder das produzierte Artefakt (A) in den Blick genommen werden, dann die Akteure, auf denen die Co-Kreativität (CO) beruht, sowie im letzten Schritt die damit verbundene Prädikation (P), d.h. das, was über die Produktion gesagt wird. Das Zusammenspiel aller drei Komponenten bilden eine co-kreative Konstellation. Verdeutlicht werden kann dies am Beispiel von George Herberts Gedicht „A True Hymne“: Hier heißt es in Z.17-18: „Although the verse be somewhat scant, / God doth supplie the want“ (Herbert, 2008, 574). „Verse“ ist das geschaffene Artefakt (A), das auf dem (hier implizierten) Akt des Schreibens basiert; die Co-Kreativität (CO) besteht in der Zusammenarbeit des Sprechers mit Gott, und die Prädikation (P) ist „supplie the want,“ d.h. die Beschreibung der Leistung des Co-Autors. Co-Kreativität wird hier demnach als Aktivität beschrieben, in der ein Beteiligte:r die Mängel des oder der anderen ausgleicht. Die Annotation sieht wie folgt aus: „Although the [verse] A be somewhat scant, / [God] CO doth [supplie the want] P.”
Ein erstes zentrales Ergebnis des Entwicklungsprozesses der Annotationsrichtlinien für die erste Komponente, die Akte und Artefakte (A), war die Feststellung, dass wir einen ganz offenen und neuen Minimalkonsens dafür schaffen mussten, worin ‚Gemachtheit‘ besteht. Als Grundlage für die Annotationsrichtlinien gilt daher:
Die Annotation der Akte und Artefakte erforderte zudem ausführliche Angaben zu ihrer Verankerung im Text, wie z.B. die Regelung, dass wir maximal annotieren, d.h. dass wir alle syntaktischen Elemente, die einen Akt oder ein Artefakt spezifizieren, mitannotieren. Darüber hinaus führen die Annotationsrichtlinien eine Reihe von Spezialfällen auf, wie z.B. die Annotation von hypothetischen oder destruktiven Akten und Artefakten.
Wenn alle Akte und Artefakte in einem Korpus erfasst und nummeriert wurden, erfolgt im zweiten Schritt die Annotation der Komponente „CO“. Die Annotationsrichtlinien sehen hier vor:
Da in einem Gedicht mehrere Akte und Artefakte mit unterschiedlichen COs auftreten können, gilt es an dieser Stelle im Annotationsprozess, die einzelnen Komponenten und ihre Zugehörigkeit zu einer Konstellation über verbindende Marker kenntlich zu machen.
Die dritte Komponente, die Annotation der Prädikation (P), befindet sich momentan noch in der Erprobung. Grundsätzlich soll P eine Verhältnisbestimmung der einzelnen Komponenten beitragen. Über die Erfragung des Verhältnisses zwischen „A“ und „CO“ kommt man zur Prädikation. In Donnes „A Valediction of Weeping“ (2008, 112) stehen der Sprecher und die Geliebte z.B. im wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis („Since thou and I sigh one anothers breath,“ Z. 26). Diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Beteiligten bildet also eine Aussage über einen co-kreativen Prozess, der nach erfolgter Annotation mit anderen Aussagen über ähnliche Prozesse bzw. mit ähnlichen Aussagen über andere co-kreative Prozesse verglichen werden kann. Das Ziel der P-Annotationen ist es, möglichst viele Aussagen über die Verhältnisse der annotierten items treffen zu können, um später in der Auswertung des Datensatzes konkret nach bestimmten Konstellationen zu suchen.
Bislang wurden in unserem ersten Korpus mit fünfzig Gedichten alle Akte und Artefakte sowie aller CO-Akteure annotiert. Während die Erprobung der P-Annotationsrichtlinien läuft und das zweite 50er Korpus auf A und CO hin annotiert wird, können uns erste Auswertungen der vorhandenen A- und CO-Annotationen bereits Erkenntnisse liefern, die ohne diesen digitalen Zugang nicht ersichtlich wären und zudem das Potential dieser Annotationsmethode und des CorefAnnotator deutlich zeigen. Während wir natürlich über Möglichkeiten der Automatisierung nachdenken, bereitet neben der geringen Größe des Korpus auch die Komplexität der Phänomene aktuell noch Herausforderungen, sodass dieser Aspekt der Annotationsarbeit momentan außerhalb unseres Fokus liegt.
Ergebnisse
Die im CorefAnnotator angefertigten Annotationen wurden exportiert und anschließend so aufbereitet, dass alle co-kreativen Konstellationen über die Verankerung der Marker offengelegt und analysiert werden konnten. Im ausgewerteten Korpus sind 311 (von insgesamt 1011) Akte und Artefakte an co-kreativen Konstellationen beteiligt, was bedeutet, dass 30,76% aller erwähnten Akte und Artefakte co-kreativ entstanden sind. Abbildung 1 zeigt zudem deutlich, dass (bis auf acht Ausnahmen) in allen Fällen der co-kreativen Aktivität zwischen zwei Akteuren mindestens zwei Akte/Artefakte geschaffen werden.
Die Anzahl an Akten und Artefakten, die im Rahmen einer einzigen co-kreativen Aktivität erschaffen werden, bezeugt die Komplexität des untersuchten Phänomens. In manchen Fällen werden sogar bis zu neun verschiedene Akte und Artefakte in einer co-kreativen Konstellation kreiert. Die Vielschichtigkeit der Reflexionen, die wir zu erfassen suchen, wird auch in der folgenden Abbildung deutlich, die unterschiedliche CO-Konstellationen gemäß der Häufigkeit ihres Auftretens sortiert:
Die Abbildung zeigt auf, welche CO-Akteure besonders häufig miteinander produktiv tätig sind: der Sprecher des Gedichts etwa tritt 41x als CO im Korpus auf, Gott 33x; gemeinsam sind sie in dieser Konstellation 12x co-kreativ tätig. Das Diagramm verschafft also einen ersten Eindruck in die unterschiedlichen CO-Konstellationen zwischen zwei oder mehr Akteuren, die wir in Reflexionen über Co-Kreativität antreffen.
Die Datenlage zeigt insgesamt, dass diese Reflexionen in doppelter Hinsicht hochkomplex sind: sie involvieren mehrere COs in unterschiedlichen Konstellationen, und es werden meist die Schöpfungsprozesse von mehr als zwei Akten und Artefakten reflektiert.
Unsere Annotationsmethode ermöglicht uns aber nicht nur die Erfassung der beteiligten COs und geschaffenen As, obgleich allein diese Daten bereits erkenntnisreich sind, wenn beispielsweise Untersuchungen zu den am häufigsten auftretenden Kollaborationspartnern Gottes erwünscht sind. Unser komplexes Annotationssystem bietet darüber hinaus die Möglichkeit, über die Annotation zusätzlicher Eigenschaften den Konstellationen bestimmte Kategorisierungen zuzuteilen. In diesem Korpus führten wir z.B. den sog. Marker „enabling“ ein, da der heuristische Prozess des Annotierens und Revidierens der Annotationsrichtlinien bereits zur Aufstellung einer Hypothese führte: es schien, als würde Co-Kreativität zwischen Gott und Mensch auf einer Abhängigkeit des Menschen von Gott beruhen. Diese Abhängigkeit konnten wir weiter als eine Befähigung des Menschen zum Kreieren durch Gott spezifizieren. Das ganze Korpus wurde dahingehend untersucht und alle co-kreativen Reflexionen in denen ein CO das andere CO zum schöpferischen Prozess befähigt, erhielten den Marker „enabling.“ Da es sich nicht um eine spezifische Aussage über den Produktionsprozess handelt, wurde diese Abhängigkeit zwischen den Personen nicht als P annotiert.
Die Kreisdiagramme zeigen, dass Gott in über 52% aller „enabling“-Konstellationen, die fast ein Drittel aller co-kreativen Konstellationen ausmachen, partizipiert. Damit können wir eine gängige Annahme, dass Gott und Mensch in der frühen Neuzeit nicht als kreative Partner gedacht wurden, auf Grundlage unserer Annotationsmethode und der Auswertung widerlegen. Erkenntnisse dieser Art legen den Baustein für ein breiteres Verständnis eines vormodernen Konzepts der Co-Kreativität. Die Grundlage unserer digitalen Arbeit bilden die Konstellationen aus As und COs, die über Marker um Eigenschaften ergänzt werden, bspw. durch den „enabling“-Marker oder Marker, die Selbstreferenzialität oder Metaphorik kennzeichnen. Die Einführung unserer dritten Komponente, der Prädikation P, wird zusätzliche Eigenschaften der co-kreativen Konstellationen aufzeigen. Der größte Gewinn dieser Annotationsarbeit ist also der große Datensatz an bereits erfassten co-kreativen Reflexionen, die mit Eigenschaftsmarkern versehen und deren Verhältnisse zueinander bestimmt wurden. Diese aufbereiteten Daten lassen uns erkennen, wie über co-kreative Prozesse gesprochen und gedacht wurde; das so entstandene Bild wird helfen, auch die Praxis der kreativen Zusammenarbeit neu zu betrachen. Die vorgestellte komplexe Annotationsmethode erlaubt es nicht nur, komplizierte Reflexionen in Einzelkomponenten herunterzubrechen und zu systematisieren. Sie bietet darüber hinaus methodische Ansätze für die Annotation weiterer komplexer literarischer Phänomene.
Fußnoten
Bibliographie
- Bauer, Matthias, Sarah Briest, Sara Rogalski, und Angelika Zirker. 2023. “Geben und Nehmen. Eine Reflexionsfigur gemeinschaftlicher Autorschaft in der englischen Literatur der Frühen Neuzeit.” In Plurale Autorschaft: Ästhetik der Co-Kreativität in der Vormoderne , hg. von Stefanie Gropper, Anna Pawlak, Anja Wolkenhauer und Angelika Zirker, 31-52. Berlin, Boston: De Gruyter. DOI: 10.1515/9783110755763-003 .
- Heiniger, Anna Katharina, Nils Reiter, Nathalie Wiedmer, Stefanie Gropper und Angelika Zirker. 2022. “Kann man Ästhetik zählen? Systematische Annotation und quantitative Analyse von Erzählerbemerkungen in den Isländersagas . ” In Andere Ästhetik: Grundlagen – Fragen – Perspektiven , hg. von Annette Gerok-Reiter, Jörg Robert, Matthias Bauer und Anna Pawlak, 283-308. Berlin, Boston: De Gruyter.
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- Zirker, Angelika, Matthias Bauer, Sara Rogalski, Sandra-Madeleine Wetzel und Alexa König. 2023. SFB1391 C05 Annotationen [Data set]. Zenodo. DOI: 10.5281/zenodo.7701515