Intentionen der Änderungen: Ein geisteswissenschaftliches Beschreibungsschema für Versionen digitaler Editionen.
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Einleitung
Dieser Beitrag verteidigt die These, dass ein Verständnis von Versionen digitaler Ressourcen nur dann gegeben ist, wenn die Änderungen, die zur Version geführt haben, als zielgerichtete Handlungen beschrieben werden. Auf diesem Grundsatz aufbauend wird ein genuin geisteswissenschaftlicher Lösungsvorschlag zur Beschreibung von Änderungen erbracht.
Digitale Editionen, die inkrementell publiziert werden, erscheinen in Versionen (z.B. Broyles 2020, Pierazzo 2015, Sahle 2013). Doch was hat sich von der letzten zur aktuellen Version verändert? Gerade bei der kritischer Textarbeit ist es relevant zu wissen, welche Stellen der Edition verändert wurden: geht es um die diplomatische Umschrift, einen Nachweis in der Literatur oder doch die Formatierung des Einleitungskommentars? In jeder fünften digitalen Edition wird eine Änderungsdokumentation in Form von Releasebeschreibungen oder Versionskontrolle angeboten (Bürgermeister 2021). Für erstere gibt es bisher kein einheitliches, editionsübergreifendes Beschreibungsschema. Bei Zweiterem gibt es zwar ein algorithmisches Beschreibungsschema, aber die auf diese Art erzeugten Beschreibungen sind nur schwer nachvollziehbar. Das hier erstmals präsentierte Beschreibungsmodell löst diese Defizite.
Im ersten Teil des Beitrags geht es darum, jene theoretischen Aspekte darzustellen, die zeigen, dass Absichten für ein Handlungsverständnis grundlegend sind. Hierzu wird auf die Prinzipien der Handlungstheorie von Elizabeth Anscombe eingegangen und deren Auswirkungen auf die digitalen Geisteswissenschaften besprochen. Der zweiten Teil des Beitrages stellt das Beschreibungsmodell mit den einzelnen Komponenten vor und demonstriert die Anwendung des Modells an einem Beispiel.
Absichten und die Struktur absichtlichen Handelns
Anscombe war die erste Vertreterin der philosophischen Handlungstheorie des 20. Jahrhunderts, welche sich intensiv mit dem Unterschied von absichtlichem und unabsichtlichem Verhalten sowie mit den kognitiven, situativen und kontextuellen Bedingungen der Handlungsbeschreibung auseinandergesetzt hat. In ihrer Auffassung sind Absichten keine mentalen Zustände, sondern spezifische Beschreibungen von Handlungen, die relevant für das Handlungsverständnis sind. Sie betrachtet Handlungen als absichtliches und daher sinn- und bedeutungsvolles Verhalten, das nur im Kontext der Situation und im (zeitlichen) Zusammenhang verständlich wird (Chwaszcza 2003, 215-216). Anscombe unterscheidet in Intention (1963[1957]) absichtliche Handlungen ( intentional action) von Handlungen mit der Absicht auf ein bestimmtes Ziel hin ( intentions with which). Absichten in dieser zweiten Verwendungsweise beschreiben den Zweck oder das Ziel einer Handlung. Diese Information erwarten wir uns, wenn wir danach fragen, warum eine Person tut, was sie tut. Dass die Antworten auf die Warum-Frage nicht zufällig sind, sondern einem bestimmten formalen Charakter besitzen, bespricht Anscombe anhand des Umstandes, dass ein und dieselbe Handlung auf unterschiedliche Weise beschrieben werden kann. Im folgenden Beispiel wird eine Handlung (Armbewegung) über vier Beschreibungen charakterisiert, wobei die letzte die Absicht auf ein bestimmtes Ziel zum Ausdruck bringt:
‘Why are you moving your arm up and down?‘ ‚To operate the pump‘, and he is operating the pump, ‚‘Why are you pumping?‘ ‚To replenish the water-supply‘ and he is replenishing the water-supply; ‚Why are you replenishing the water-supply?‘ ‚’To poison the inhabitants‘ and he is poisoning the inhabitants, for they are getting poisoned. (Anscombe 1963, 40)
Trotz unterschiedlicher Antworten, ist für Anscombe klar, dass hier nur eine Handlung ausgeführt wurde. Diese Beschreibungen, dass jemand seinen Arm bewegt, eine Pumpe bedient, eine Zisterne befüllt und die Bewohner vergiftet, sind vier von vielen möglichen Beschreibungen. Es wäre auch zutreffend zu sagen, dass der Akteur seine Finger speziell gekrümmt hält, das linke Auge bei der Armbewegung zusammenkneift. Aber auch wenn all diese Beschreibungen zutreffend sind, sie sind für die ‚Absicht auf ein bestimmtes Ziel hin‘ nicht relevant, weil sie nicht die gleiche Absicht des Akteurs erfassen. Nach Anscombe sind die Beschreibungen nicht zufällig. In diesen zeigt sich die Struktur absichtlichen Handelns, die eine Reihenfolge von Mittel-Zweck-Ordnungen darstellt, die sich auf ein Ziel hin ausrichten (Böchers 2020, 328). Die Struktur absichtlichen Handelns wird laut Anscombe durch praktisches Wissen ( practical knowledge) bestimmt. Ihre Interpretation des praktischen Wissen, ist dafür verantwortlich, dass Akteur*innen zu jedem Zeitpunkt wissen, was sie tun und auch wie sie vorgehen. Etwas praktisch zu wissen, heißt, absichtlich zu handeln und etwas verständnisvoll zu tun (Chwaszcza 2003, 219-225).
Intentionale Änderungen
Anscombes Konzepte zu Absichten, zur Formbestimmung des Handelns und zum praktischen Wissen bieten den Schlüssel zum Verständnis der Änderungen an dynamisch publizierten Versionen von digitalen Editionen. Es wurde bereits gesagt, dass sich im praktischen Wissen das Knowhow einer Person und ihr theoretisches Wissen, sowie ihre Kenntnis von Regeln und Konventionen manifestiert. Zentrale Voraussetzung für das Verständnis von Handlungen ist neben dem Absichtlichkeitscharakter, das Fachwissen und die Kenntnis von Regeln und Konventionen in der jeweiligen Handlungssituation.
Praktisches Wissen in Bezug auf die digitalen Geisteswissenschaften
Das praktische Wissen impliziert die individuelle Kenntnis von Regeln und Konventionen in der jeweiligen Handlungssituation und alle Überlegungen dazu, wie das Gewünschte erreicht werden kann und welche Schritte dafür nötig sind. Umgelegt auf Forschungstätigkeiten in den digitalen Geisteswissenschaften bedeutet es, dass einzelne Handgriffe erst dann verständlich werden, wenn das theoretische Wissen und die Regeln und Konventionen des Fachs bekannt sind. Erst dann sind wir in der Lage, unseren Forschungspraktiken einen geordneten, zielgerichteten Ablauf zu geben, den wir auch beschreiben können. Im Fall von digitalen Editionen sind neben dem editorischen Fachwissen auch Grundlagenwissen zu XML, die Regeln der TEI, MEI, Metadatenstandards wie DC, METS, das Arbeiten mit Wissensorganisationssystemen und Ontologien (wie CIDOC-CRM, EDM) aber auch die Kenntnis von unterschiedlichen Werkzeugen und Methoden gefragt.1 Anhand der Regeln des „DTABf. Deutsches Textarchiv – Basisformat“ (BBAW 2011-2022) soll nun gezeigt werden, wie leicht es fällt, Handlungen zu beschreiben, wenn unter der Bedingung von Regeln gehandelt wird.2
Beispiel DTA Basisformat (DTABf)
Das DTABf basiert auf einer Tag-Auswahl (circa 180 Elemente) aus den TEI P5-Richtlinien, die die Grundlage für die Annotation der Volltexte des Deutschen Textarchivs bildet. Es beinhaltet Vorgaben zur Erfassung von Metadaten, vor allem aber gibt es Richtlinien zur formalen und inhaltlichen Erschließung von historischen Texten. Zur Auszeichnung formaler Eigenschaften regelt das zugrundeliegende Schema beispielsweise die Annotation von Absätzen, Zeilenumbrüchen, Listen, typographischen Besonderheiten usw. Ein Großteil der Regeln für die inhaltliche Erschließung dient der formalen Annotation des Textkörpers, aber auch inhaltliche Inline-Auszeichnungen (fremdsprachliches Material, Eigennamen und Datumsangaben) und editorische Eingriffe (Normalisierungen, Verbesserungen usw.), die überall im Text vorkommen können, unterliegen bestimmten Regeln.
Abbildung 1 zeigt Ausschnitte der Codierregeln und ihrer Bedeutung. Anhand dieser exakten Regeln ist es möglich, editorische Handlungen mit ihren Absichten zu beschreiben. Wird dem XML-Dokument die Codierung im Textkörper um ein <div type=“postface“>[…]</div> erweitert, dann ist das mit der Absicht passiert, das Nachwort einer transkribierten Textvorlage zu ergänzen. Fügt eine Editorin ein <del rendition=“#s“> in die Datenstruktur ein, dann geschieht das mit der Absicht, eine Streichung zu kennzeichnen. Verallgemeinert lässt sich sagen: Wenn man etwas unter der Bedingung der Befolgung von expliziten Regeln tut, dann wird das Verhalten nach diesem Regelverständnis interpretiert.
Beschreibungsschema
Das hier im Folgenden präsentierte Beschreibungsmodell, macht jede Änderung an Forschungsressourcen rational darstellbar. Jede Änderung wird als Handlung im Kontext beschrieben. Die Beschreibung der Änderung verdeutlicht die Mittel-Zweck-Ordnungen absichtlichen Handelns. Endpunkt der Ordnung ist die Intention, mit der die Handlung ausgeführt wurde oder anders gesagt das Ziel der Handlung.
Das Beschreibungsmodell (Abb. 2) besteht aus sechs Entitäten. Die Entitäten, Ziel, Rationalisierung und Änderung sind Teil einer zielgerichteten Ordnung der absichtlichen Handlung. Die weiteren Entitäten Ressourcentyp, Kontext und Regelwissen tragen essenzielle Informationen zur Interpretation der Handlung bei. Die Intention wird durch die Benennung eines Ziels ausgedrückt. Die Entitäten Rationalisierung und Änderung sind zwei unterschiedliche Beschreibungsformen der Änderung als intentionale Handlung. Beide sind Interpretationen der Handlung und stehen in Abhängigkeit zur Handlungssituation und dem individuellen Wissensstand.
Ziel
Das Ziel benennt die Absicht, mit der eine Handlung vollzogen wurde. Seine Realisierung liegt in der Zukunft. In der Forschungsarbeit beabsichtigen wir Forschungsziele zu erreichen. Diese können in Form von detaillierten Handlungsplänen vorliegen, die vorab festlegen, was wann erreicht werden soll.3 Durch das geplante, zielgerichtete Vorgehen können Entwicklungen innerhalb eines Forschungsprojekts für andere in der wissenschaftlichen Gemeinschaft begreifbar gemacht werden. Als Ziel gilt aber nicht nur das Erreichen eines bestimmten Forschungsstandes, sondern auch allgemeine Motive, wie gute wissenschaftliche Praxis, oder in der Editionsarbeit, der sorgfältige Umgang mit überlieferten Texten.
Rationalisierung
Die Entität Rationalisierung ist eine Beschreibungsform der Handlung, die konstitutiv für das Verständnis der Zweck-Mittel-Ordnung ist. Sie ist das notwendige Bindeglied zwischen der konkreten Änderungsbeschreibung und dem Ziel der Handlung. Diese Beschreibungsform ist Zweck und Mittel gleichzeitig: Sie ist der Zweck der Änderung und das Mittel zur Erreichung des Ziels der Handlung. Die Rationalisierung ist eine Interpretation der Handlung, die die Handlung in einen größeren Zusammenhang stellt. Sie impliziert Kenntnisse über die Handlungssituation, sowie das Anwenden von Regelwissen.
Änderung
Die Entität Änderung ist der erste Teil in der Serie der Mittel-Zweck-Ordnungen. Sie ist konstitutiv für das Erreichen des Handlungsziels und verdeutlicht die Wahl des Mittels. Die Änderung als Handlung beschreibt das Verhalten in einer ersten Interpretation, die absichtlich und zweckgerichtet ist. Das heißt die Änderung erklärt, wie der Zweck, der in der Rationalisierung beschrieben wird, umgesetzt wird und umgekehrt rechtfertigt der Zweck die Änderung. Bei digitalen Editionen beispielsweise, deren Daten auf XML-Modellen beruhen, besteht eine erste Interpretation der Handlung darin, zu beschreiben welche Elemente, Attribute und Textteile hinzugefügt, gelöscht, ersetzt oder verschoben wurden.
Ressourcentyp
Die Angabe des Ressourcentyps ist notwendig für die Interpretation der Handlungssituation und damit für die Bedeutung der Änderungen. Der Ressourcentyp erfasst, wofür die Ressource, die verändert wird, steht bzw. welche Inhalte sie repräsentiert. Nach den Regeln des DTABf sind das z.B. gedruckte Texte, Briefe, Dramen, Manuskripte oder Zeitungen. Bei der Umsetzung von digitalen Editionen könnten Ressourcentypen wie Transkription, Register, redaktionelle Texte und Kommentare sinnvoll sein, um die Relevanz der Änderung bewerten zu können. Es macht einen Unterschied, ob Editor*innen Änderungen an der Interpunktion der Projektbeschreibung machen oder aber an einem transkribierten Gedicht.
Kontext
Die Entität Kontext ist Teil der Beschreibung der Handlungssituation. Es ist die Aufgabe des Kontexts, soweit es strukturierte Daten betrifft, eine strukturelle Einordnung der Änderungen zu liefern. Konkret soll durch diese Entität die geänderte Stelle in den Daten eruiert werden. Im Fall von XML-Dokumenten kann mithilfe von XPath eine exakte Position in der Struktur des Dokuments wiedergegeben werden, in deren Kontext sich die Änderungen ereignet haben. Dieser muss abhängig vom Ressourcentyp unterschiedlich erfasst werden. Bei längerem Texten sollen klassische Orientierungshilfen wie Seiten-, Absatz- oder Versangaben zur Kontextualisierung herangezogen werden.
Regelwissen
Die Entität Regelwissen steht für das Fachwissen und die Kenntnis der Regeln und Konventionen in der digital geisteswissenschaftlichen Forschungspraxis. Die Formalisierung des regelbasierten Handelns ist in den digitalen Geisteswissenschaften bereits sehr fortgeschritten. Zum Regelwissen zählen nicht nur gängige Standards, sondern auch projektspezifische Regeln und Konventionen, wie Editions- und Codierregeln.
Beispiel
Die Edition eines Dramenkorpus soll umgesetzt werden. Im Projekt wird nach dem DTABf annotiert. Die Grundstruktur von Dramentexten im DTABf sieht folgendermaßen aus:
<div type="[z.B. scene]">
<head>[Titel des Auftritts]</head>
<stage>[Bühnenanweisung]</stage>
<sp>[Sprechakt]</sp>
<sp>[weiterer Sprechakt]</sp>
</div>
Die Editorin ändert die Bühnenanweisung:
<stage> Mit weißer Schürze [...]</stage> zu <stage><hi rendition="#g">Mit weißer Schürze [...]</hi>.</stage>.
Verständnistest:
Warum wurde die Änderung gemacht? - Weil eine typographische Besonderheit als Sperrdruck ausgezeichnet wurde (Rationalisierung). Warum wurde die typographische Besonderheit ausgezeichnet? – Weil der Text laut Vorlage wiedergegeben werden soll (Ziel).
Schluss
Mit Rückgriff auf die Handlungstheorie von Anscombe wurde in diesem Beitrag gezeigt, dass Änderungen verständlich gemacht werden können, wenn die Absichten dieser benannt werden. Absichten lassen sich identifizieren, wenn die Beschreibung der Änderung so erfolgt, dass sie eine zielgerichtete Handlung in einer bestimmten Handlungssituation erfasst. Auf dieser theoretischen Basis, wurde ein Beschreibungsschema vorgestellt, das auf die Bedürfnisse inkrementell publizierten digitaler Editionen abgestimmt ist. Das Schema ist so aufgebaut, dass jede Benutzerin der Edition sehr rasch feststellen kann, ob die Änderung für sie relevant ist und welchen Sinn die Änderung hat. Das ist möglich, weil die Beschreibungen auf geteilten Regeln und Konventionen aus dem Fachbereich beruhen, die die Änderung rationalisieren. Der Status under construction ist dann keine Fallgrube für die Wissenschaft, sondern der schnellste Weg, um Forschung voranzutreiben.
Fußnoten
Bibliographie
- Anscombe, G. E. M. 1963. Intention. Second Edition. Cambridge, London: Harvard University Press.
- Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hg.) (2011-2022). „DTABf. Deutsches Textarchiv – Basisformat“ http://deutschestextarchiv.de/doku/basisformat (zugegriffen: 23. Juli 2024).
- Borek, Luise et al. 2021. TaDiRAH: Taxonomy of Digital Research Activities in the Humanities https://vocabs.dariah.eu/tadirah/ (zugegriffen: 23. Juli 2024).
- Börchers, Fabian 2020. „Anscombe and Knowledge-How. Zum Zusammenhang von Form und Vermögen bei der Bestimmung absichtlichen Handelns“ In Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 45: 317-338 ISSN 0340-7969.
- Broyles, Paul A. 2020. „Digital Editions and Version Numbering“ In Digital humanities quarterly 14.2:1-24 http://digitalhumanities.org:8081/dhq/vol/14/2/000455/000455.html (zugegriffen: 23. Juli 2024).
- Bürgermeister, Martina. 2023. “Versionierung von digitalen Editionen in der Praxis” In Digitale Editionen in Österreich, hg. von Roman Bleier und Helmut Klug, 133-150. Norderstedt: BoD.
- Chwaszcza, Christine 2003. Praktische Vernunft als vernünftige Praxis. Ein Grundriß. Weilerswist: Velbrück.
- Pierazzo, Elena 2015. Digital Scholarly Editing: Theories, Models and Methods. Routledge: London https://doi.org/10.4324/9781315577227.
- Sahle, Patrick. 2013. Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt: BoD.