Normdaten zu Texten und philologisches Wissen

Brüning, Gerrit; Strobel, Jochen; Al-Eryani, Susanne; Bosse, Anke; Dietrich, Elisabeth; Fischer, Barbara
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Problemstellung

Die Referenz auf Werke und die Verzeichnung von Werktiteln spielt in Praktiken der Zuschreibung von Bedeutung sowie der Erschließung vorhandener Wissensbestände seit jeher eine zentrale Rolle. Das traditionelle Spektrum dieser Praktiken reicht von der Identifikation intertextueller Bezüge in Interpretationen und Kommentaren bis hin zur Herstellung von Verweisnetzen in Form von Registern (einer weithin unterschätzten wissenschaftlichen Aufgabe, vgl. Kunze,1992). In philologischen Kontexten begreifen diese Praktiken auch solche Texte ein, die den typischen Erwartungen an ‚Werke‘ (Opus, Œuvre) nicht entsprechen (daher der Titel „Normdaten zu Texten“ anstelle von „Werknormdaten“). Im Raum menschen- und maschinenlesbarer Entitätsbezeichner haben sich Normdaten als De-facto-Standard etabliert. Hervorgegangen aus der bibliothekarischen Erschließung, gewinnen Normdaten für die editionsphilologische Praxis Relevanz (vgl. Müller und Strobel, 2024). Wesentlicher Faktor ist dabei der NFDI-Prozess, an dem die Deutsche Nationalbibliothek institutionell sowie infrastrukturell u.a. als Träger der Gemeinsamen Normdatei (GND) maßgeblich beteiligt ist. Für das Panel einschlägig ist insbesondere die Task Area Editions innerhalb des NFDI-Konsortiums Text+ (vgl. Kett et al., 2022). Gegenüber Personen, Körperschaften, Geographica etc. sind Werknormdaten (darunter die zu Texten) im bibliothekarischen Alltag der Normdatenerstellung bislang jedoch unterrepräsentiert (Dietrich und Kolbe, 2023, 326; zum diesbezüglichen Verhältnis der verschiedenen Normdatenverzeichnisse vgl. Calvo Tello et al., 2023); jedenfalls liegen sie nicht in einem Umfang und einer Qualität vor, der ihrer potenziellen Rolle in digitalen Editionen und den in ihnen enthaltenen oder durch sie ermöglichten komplexen Wissensgraphen entspräche.

Das Panel „Normdaten zu Texten und philologisches Wissen“ diskutiert, wie diesem Mangel abgeholfen werden kann, und fasst dabei speziell den Teilbereich philologisch relevanter – d.h. in edierten Texten, in Kommentaren, Registern, generell in Metadaten genannter – Werktitel ins Auge. Wie jeder fachwissenschaftliche Umgang mit Normdaten erweist sich auch der philologische in vielfältiger Hinsicht als Konfliktfeld.

Zunächst einmal ist die Verknüpfung zwischen philologischem Wissen und Normdaten nicht selbstverständlich. Die Ermittlung und Benennung von Werktiteln in Editionen gilt in der Literaturwissenschaft nicht per se als Wissensgenerierung, sondern als quasi-handwerkliche Bereitstellung von Bausteinen zu wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. Erst die Kontextualisierung solcher Informationen und, in der digitalen Welt, die Relationalität entsprechender Daten, wie sie sich etwa in Wissensgraphen herstellen lässt, verspricht Nähe zu Erkenntnis. Nimmt man dies erst einmal hin, dann kann quellennahe geisteswissenschaftliche Tätigkeit mithilfe von Normdaten entscheidende Gewinne verbuchen, denn sie treiben die Strukturierung von Wissensrepräsentation (vgl. Stock und Stock, 2008) voran, etwa indem sie eindeutige, persistente Identifikation von Entitäten gewährleisten, Dubletten ausschließen oder umleiten und mittels Disambiguierung Eindeutigkeit herstellen.

Zu beobachten sind im Zusammenspiel von Forschung und Bibliothek mitunter divergierende Zielsetzungen und Verfahrensweisen, etwa unterschiedliche Perspektiven auf die Qualifikation von Texten als ‚Werk‘ (z.B. im Fall von Plänen, Skizzen und Entwürfen, von Briefen oder mitunter viel zitierten ‚Mikrostrukturen‘ wie Vorreden, Kommentaren, Repliken, Buchankündigungen), Fragen der Relevanz und Eignung, der Individualisierung und Ansetzung (z.B. Teiltexte, Fassungen, Drehbücher, Bühnenmanuskripte). Zu diskutieren wären weniger die bekannten Klagen über ihre Fehleranfälligkeit (vgl. Rettinghaus, 2024), sondern vielmehr teils in Spannung stehende Ansprüche an Qualität, Homogenität und Reichhaltigkeit, schließlich technisch-institutionelle Hürden, mit deren vorschneller Beseitigung sich allerdings neue Probleme ergeben würden (Verantwortlichkeit, Kuratierung), bis hin zu konkurrierenden infrastrukturellen Interessen und Ansätzen (z.B. GND vs. Wikidata). Fachwissenschaftliche Ansprüche, projektspezifische Bedarfe, institutionelle Präferenzen und technische Opportunitäten werden sich nicht reibungslos zur Deckung bringen lassen. Das geplante Panel versammelt Vertreter:innen aus den Bereichen Literaturwissenschaft und Editionsphilologie, NFDI Text+, GND und Forschungsbibliothek, um das wechselseitige Verständnis für die jeweiligen Interessen und Fähigkeiten zu vertiefen und den absehbaren Aufwuchs von Normdaten zu Texten in sowohl methodisch reflektierte als auch technologisch nachhaltige Bahnen zu lenken.

Zusammensetzung und Aufbau des Panels

Die übergreifende Problemlage sowie die spezifischen Perspektiven auf das Thema werden im Rahmen von ca. 5-minütigen Redebeiträgen umrissen. Die Teilnehmer:innen des Panels vertreten dabei jeweils unterschiedliche Perspektiven, die sich gleichwohl auf drei Feldern überlappen und verdichten: der neugermanistischen Editionswissenschaft, dem Bibliothekswesen sowie dem NFDI-Konsortium Text+.

1. Jochen Strobel führt aus editionsphilologischer Perspektive in das Thema ein und lenkt dabei den Blick auf mögliche Konfliktlinien, die sich im philologischen Umgang mit Normdaten zu Texten ergeben, von der Notation von Eigennamen und den geforderten Belegen für die konkrete Ansetzung über Fragen der Zusammenarbeit zwischen Forschungsprojekt und Bibliothek bis hin zur möglicherweise erwartbaren Nachnutzung durch kommende Projekte (vgl. Hegel et al., 2024) sowie der Vermittlung des Wertes von Normdaten in die traditionellen Fachcommunities hinein (vgl. Busch und Müller, 2023). Erfahrungen mit Normdaten sammelte er u.a. im aktuellen DFG-Projekt „Korrespondenzen der Frühromantik“. Er ist Co-Moderator des Panels.

2. Barbara Fischer leitet DFG-Projekte wie GND4C. Sie fördert im Auftrag der GND-Zentrale mittels Kooperationen und Kommunikationsmaßnahmen die Öffnung und Modernisierung der Gemeinsamen Normdatei. Aus der Perspektive der GND-Zentrale ist insbesondere wichtig, die Rolle und Funktion von Forschungsdaten sekundierend in der Forschung zu vermitteln und die Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit von Normdaten durch alle Beitragenden zu gewährleisten. Für die Umsetzung eines funktionalen Datenökosystems mit der GND als Referenzpunkt schafft die GND-Zentrale entsprechende Infrastrukturangebote. Die ehemalige Kuratorin für Kulturpartnerschaften von Wikimedia Deutschland sieht Wikidata und die GND als sich sehr gut ergänzende Teile des oben genannten Ökosystems.

3. Elisabeth Dietrich ist als Kulturhistorikerin und Wissenschaftliche Bibliothekarin einer Forschungsbibliothek sowohl mit der fachwissenschaftlichen als auch der bibliothekarischen Perspektive auf den Komplex Werknormdaten vertraut. Sie plädiert dafür, dass sowohl bei der Ansetzung neuer als auch der qualitativen Anreicherung bereits vorliegender Normdaten zukünftig die Bedarfe aus der Forschung stärker berücksichtigt werden müssen. Ausgehend von den Erfahrungen des DFG-Projekts „Werktitel als Wissensraum“ (2019–2024), diskutiert sie methodische Grundlagen für die Ansetzung von Normdaten zu Texten (inkl. deren Nachteile), mögliche (Nach-) Nutzungsszenarien sowie das Verhältnis von GND und Wikidata.

4. Anke Bosse ist Literaturwissenschaftlerin und u.a. Vorsitzende der Kommission für die Edition von Texten seit dem 18. Jahrhundert in der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Auf Grundlage der Erfahrungen in den von ihr verantworteten Editionen (u.a. Goethe, Musil) erörtert sie die Frage, inwieweit Normdaten aus editionsphilologischer Sicht eigentlich gebraucht werden und wozu sie im Rahmen von Editionen dienen könnten. Dabei formuliert sie Desiderate in Bezug auf den Status quo der vorliegenden Normdaten zu Texten in der GND, an dem auch der Österreichische Bibliotheksverbund mitwirkt.

5. Gerrit Brüning ist Mitglied der Task Area Editions in Text+ und an einem Projekt zu Goethes Lyrik beteiligt, das die umfangreiche und komplexe Überlieferung zu jedem einzelnen der mehr als 3000 Gedichte Goethes erschließen wird. Normierte Ansetzungen, wie sie im Weimarer Goethe- und Schiller-Archiv schon seit etlichen Jahren im Rahmen der Biographica-Projekte (PROPYLÄEN) entstehen, sind hierzu ein unverzichtbares Vehikel. Mit Blick auf inhaltlich unmittelbar benachbarte Projekte, allen voran Goethes ‚Venezianische Epigramme‘-Kritische digitale Edition (Rom, Stuttgart, Venedig), drängt sich das Anlegen institutionenübergreifender Normdaten auf. Der Panel-Beitrag reflektiert, welche (möglicherweise auch unerwünschten) Konsequenzen sich aus diesem scheinbar naheliegenden FDM-kompatiblen Ansatz ergeben könnten. Er ist Co-Moderator des Panels.

6. Susanne Al-Eryani verantwortet die GND-Agentur in Text+. Zu ihren Aufgaben gehört es, die zunehmend von wissenschaftlichen Projekten angemeldeten Bedarfe mit den infrastrukturellen Gegebenheiten der GND zur Deckung zu bringen. Sie erläutert das Konzept der GND-Agentur und entwickelt auf dieser Grundlage Perspektiven, wie das Verhältnis zwischen erkenntnisgeleiteten, zeitlich begrenzten Forschungsvorhaben einerseits und auf Dauer gestellten institutionellen Strukturen andererseits in kollaborativer Praxis verbessert werden kann.

Gerrit Brüning und Jochen Strobel sind Mitglieder der Kommission für die Edition von Texten seit dem 18. Jahrhundert in der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die das Panel unterstützt. Anke Bosse leitet die Kommission.


Bibliographie

  • Busch, Nathanael und Diana Müller. 2023. „Normdaten in den Geisteswissenschaften. Frequently Asked Questions.“ In Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 53: 781–796.
  • Calvo Tello, José. 2023. “5 Misconceptions and 4 open questions about authority files and the GND from a researcher’s perspective.” Text+ Blog. https://doi.org/10.58079/uqgv.
  • Calvo Tello, José, Nanette Rißler-Pipka und Florian Barth. 2023. „GND und Normdaten für europäische Literatur? Personen und Werke in den multilingualen Korpora von ELTeC.“ In DHd2023 Open Humanities, Open Culture, Trier, Deutschland / Belval, Luxembourg, 160–165. https://doi.org/10.5281/zenodo.7715281.
  • Dietrich, Elisabeth und Ines Kolbe. 2023. „‚Werktitel als Wissensraum‘ – über die Potentiale von Werknormdaten für die Digitalen Geisteswissenschaften.“ In DHd2023 Open Humanities, Open Culture, Trier, Deutschland / Belval, Luxembourg, 326–329. https://doi.org/10.5281/zenodo.7715400.
  • Hegel, Philipp, Tessa Gengnagel, Kilian Hensen, Karoline Lemke und Gerrit Brüning. 2024. „Die interoperable Edition sub specie durationis.“ In editio 38, 2024 (zur Publikation angenommen).
  • Kett, Jürgen, Christoph Kudella, Andrea Rapp, Regine Stein und Thorsten Trippel. 2022. „Text+ und die GND – Community-Hub und Wissensgraph.“ In Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 69, 1–2, 2022, 37–47. doi.org/10.3196/1864295020691262.
  • Kunze, Horst. 1992. Über das Registermachen. 4., erw. und verb. Aufl. München u.a.: Saur.
  • Müller, Bianca und Jochen Strobel. 2024. „Epistolare ‚Peritexte‘ und ‚Epitexte‘ als Normdaten in der Digitalen Briefedition.“ In Werk und Beiwerk. Zur Edition von Paratexten, hg. von Jan Hess und Roland S. Kamzelak (Beihefte zu editio. 54), 35–48. Berlin/Boston: de Gruyter.
  • Rettinghaus, Klaus. 2024. „Normdaten Quo Vadis.“ In DHd 2024 Quo Vadis DH, Passau, Deutschland, 236–239. https://doi.org/10.5281/zenodo.10698462 236-239.
  • Stock, Wolfgang G. und Mechtild Stock. 2008. Wissensrepräsentation. Informationen auswerten und bereitstellen. München: Oldenbourg.