Digitale Erforschung von Historiographie: Untersuchungen zur Kirchengeschichtsschreibung im wilhelminischen Kaiserreich
https://zenodo.org/records/14943220
Projektbeschreibung und Zielsetzungen
Das Forschungsprojekt verortet sich zwischen Kirchengeschichte, Digital Humanities und Literaturwissenschaft. Es kombiniert die Methoden dieser Disziplinen, um eine bisher nicht erschlossene theologische Quellengattung zu analysieren: Die Historiographie. In der Theologie gibt es bisher weder systematische Forschung zu ‚Kirchengeschichtsschreibung‘ insgesamt noch zu ihrer weit verbreiteten Erscheinungsform, den historiographischen Lehrmitteln. Nicht allein deswegen, sondern auch, weil sie Einblicke in die Entwicklung des Faches Kirchengeschichte, seiner Didaktik und der christlichen Historiographie sowie in den historischen Kontext geben, stellen sie eine äußerst relevante Quellengattung dar.
Dieses Forschungsprojekt zielt darauf, diese Forschungslücke für den Zeitraum zwischen 1890 und dem Ersten Weltkrieg zu schließen. 1 Die Epoche des wilhelminischen Kaiserreiches gilt als „Achsenzeit“ (Hübinger, 2008) der Geschichtstheorie, die der Kirchengeschichte als theologischer und historischer Disziplin neue Herausforderungen stellte und ihre Relevanz als wissenschaftliche Disziplin anzweifelte (Murrmann-Kahl, 1992). ‚Kirchengeschichtliche Lehrbücher‘ reflektierten diese wissenschaftliche und methodische Entwicklung und spiegelten die aktuelle Geschichtskultur (Rüsen, 1994): So ist eine zunehmend (weltanschaulich) objektivere, andere Disziplinen einbeziehende und weniger erzählende Darstellung der christlichen Geschichte wahrnehmbar. Als Lehrwerke zielten sie außerdem auf eine Vermittlung von Geschichtswissen und -bewusstsein (Jeismann, 1988), was sich auch in der Art und Weise der Darstellung sowie der Intention der Lehrbücher niederschlägt. Diese bestanden zusammenfassend aus einem komplexen Gefüge, in welches das Welt- und Gottesbild des Autors einflossen, und das den (kirchen-)politischen Gegebenheiten der Umwelt zu genügen suchte.
Das Ziel des Projektes ist daher erstens die Erforschung und phänomenologische Beschreibung von ‚Kirchengeschichtsschreibung‘ in Lehrbüchern, und zwar – zweitens – in ihrer Wechselwirkung mit dem historischen Kontext.
Quellen
Kirchengeschichtliche Lehrbücher, geschrieben zumeist von (angehenden) Professoren der Kirchengeschichte, hatten ihren Lebensbezug im Lehr- und Lernkontext der Universität. Sie erreichten durch die Benutzung von zukünftigen Lehrer*innen und Pfarrern im Studium hohe Auflagenzahlen (Hammann, 2021) und hatten einen weiten Wirkungskreis bei hoher zugeschriebener Glaubwürdigkeit. Dabei zerfällt das Feld in zwei zentrale Sub-Genres: ‚Kirchengeschichte‘, welche die Entwicklung der christlichen Kirche(n) betrachtet, und die für das späte 19. Jahrhundert typische ‚Dogmengeschichte‘, die die Entwicklung des christlichen Lehrinhalts nachvollzieht. Besonders populär in beiden Genres war die Darstellung der Spätantike bis zur sogenannten ‚konstantinischen Wende‘: Diese Epoche wurde häufig als verlängerter Ursprung des Christentums und normative Periode betrachtet. Der Untersuchungszeitraum beschränkt sich daher auf die Darstellung bis ca. 320 n. Chr., was ein Volumen von 60 bis 280 Seiten je Werk umfasst.
Die konkreten Quellen werden anhand folgender Kriterien ausgewählt: Hauptsächlich geht es um den ‚Erfolg‘ der Werke und um das Renommee, welches an(?) Empfehlungen und Autorenreputation ablesbar ist. Als weiteres Kriterium finden Innovativität und Einfluss des Buches Beachtung. Festgelegt wurden bisher die Werke von Karl Müller ( Kirchengeschichte), Karl Heussi ( Kirchengeschichte), Reinhold Seeberg ( Dogmengeschichte), Wilhelm Möller ( Kirchengeschichte) Johann H. Kurtz ( Kirchengeschichte) und Friedrich Loofs ( Dogmengeschichte). In Planung sind Hans von Schuberts Kirchengeschichte und Adolf von Harnacks Dogmengeschichte. Damit werden effektiv zwar nicht alle, aber die relevantesten Werke des Wilhelminischen Kaiserreiches abgedeckt.
Methode
Die Quellen sind bisher, wenn überhaupt, als PDF zugänglich – meistens liegen sie als Buch und in Frakturdruck vor. Der erste Schritt ist dementsprechend die Digitalisierung, die mittels OCR4all (bietet ggf. manuell korrigierbares Preprocessing, Segmentation, Line Segmentation, Recognition, Ground Truth Production sowie Structuring und Training zum jeweiligen Schriftsatz (Reul et al., 2019)) gelöst wurde. Dadurch liegen momentan sechs Quellen in TXT und XML-Format vor.
Inhaltlich steht eine Lösung zum Systematisierungsproblem im Vordergrund: Was ‚ist‘ Historiographie zwischen 1890 und 1914? Welche Rolle spielen die Subgenres der Kirchen- oder Dogmengeschichte? Zur Beantwortung dieser Fragen eignet sich die narratologische Analyse (Martínez, 2019). Konkret wird mit dem Analysemodell von Johannes Jansen (2021) gearbeitet, das auf historiographische Lehrwerke zugespitzt wurde. Zusätzlich zur Bestandaufnahme des ‚historischen Materials‘ und seiner spezifischen Zusammenstellung ( Histoire) ermöglicht sie einen Blick unter die Textoberfläche und legt zugrundeliegende Erzähl- und Sinnebenen frei ( Discourse).
Eine analoge narratologische Analyse über mehrere hundert Seiten und mehrere Bücher ist, zumal im Zeitfenster einer Promotion und allein durch die kaum zu bewältigenden anfallenden Datenmengen, nicht durchführbar und griffe darüber hinaus zu kurz. Sie wird daher als digitale und ergänzende Vorgehensweise aus Close Reading und Distant Reading, also eher qualitativen und eher quantitativen Methoden, umgesetzt.
Die qualitative, via digitalem Tagging relevanter Textstellen durchgeführte und eher interpretierende Analyse fokussiert sich auf tiefer liegende Text- und Bedeutungsebenen. Sie kann etwa das zugrundeliegende Gottesbild oder Geschichtsbewusstsein aufdecken. Durch die quantitativen Methoden, die eher auf der Textoberfläche arbeiten, können beispielsweise über mehrere Werke hinweg die Einzelpersonen und Personengruppen zugeschriebenen Attribute verglichen werden. Relevant ist auch, ob und wie häufig Begriffe wie „Häretiker“ oder Bibelzitate vorkommen. Diese Analyse wird ergänzt um eine nur digital durchführbare Paratextanalyse. Durch sie kann die didaktischen Entwicklung der Texte sichtbar gemacht werden, die sich in der zunehmenden Einbeziehung von Karten oder Zusammenfassungen und strukturierenden Elementen wie Überschriften und Kleindruck niederschlug. Zusätzlich kann so das historiographische Format anhand der äußeren Struktur untersucht werden: Für die Benutzung und die Wirkung der Werke machte es einen Unterschied, ob ein ausführliches Lesebuch vorlag oder ein zum Auswendiglernen gedachter Abriss. Darüber hinaus wird durch die Digitalisierung der Vergleich verschiedener Auflagen desselben Werks möglich.
Für die narratologische Analyse bietet sich das etablierte Tool CATMA (Gius et al.,2024) an, das manuelle und halbautomatische Annotation ermöglicht. Mittlerweile hat sich ein festes Analyse-Tagset herausgearbeitet, das in Anlehnung an Jansen und Gius (Gius, 2015) erstellt und auf die spezifische Quellengrundlage zugeschnitten wurde. Zudem wurde für quantitativen Fragen die weitere Analyse der Daten mit dem Analysewerkzeug von CATMA selbst sowie dem Python-Package GitMA (Vauth et al., 2022) für vier Werke durchgeführt.
Diese Untersuchungen werden zum Zeitpunkt der DHd 2025 vollendet sein und gebündelt als Text und Tabelle bzw. Grafik vorliegen. Weitere Analysen, beispielsweise via MALLET (McCallum, 2002), etwa Cluster-Analysen oder Topic-Modeling , sind technisch durchführbar. Dennoch bleibt abzuwägen, was für die Analyse historiographischer Lehrwerke an nächsten Schritten möglich und sinnvoll ist – besonders hierzu und zu einer sinnvollen Nachnutzung der Daten werden Anregungen auf der Tagung erhofft.
Fußnoten
1 Die Forschung zum wilhelminischen Kaiserreich hat bisher lediglich Schuleinteilungen diskutiert, die jedoch die Einzelleistung der Autoren oder ihre Historiographie nicht beachten, siehe (Jung, 2002; Lessing, 2000; Rohls, 2018a; 2018b).
Bibliographie
- Gius, Evelyn. 2015. Erzählen über Konflikte. Ein Beitrag zur digitalen Narratologie. Narratologia 46. Berlin: De Gruyter.
- Gius, Evelyn, Jan Christoph Meister, Malte Meister, Marco Petris, Dominik Gerstorfer und Mari Akazawa. 2024. CATMA 7 (Version 7.1). Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.12092195 (zugegriffen: 20.07.2024).
- Hammann, Konrad. 2021. Paul Siebeck und sein Verlag. Tübingen: Mohr Siebeck.
- Hübinger, Gangolf. 2008. „Theologie und Geschichtswissenschaft. Ihr Verhältnis in Geschichte und Gegenwart“. In Christentumstheorie. Geschichtsschreibung und Kulturdeutung. Trutz Rendtorff zum 24.01.2006, hg. von Klaus Tanner, 19–34. TKH 9. Leipzig: Evang. Verl.-Anst.
- Jansen, Johannes. 2021. Wie Geschichtsschulbücher erzählen. Narratologische, transtextuelle und didaktische Perspektiven. Beiträge zur Geschichtskultur 44. Köln: Böhlau Verlag.
- Jeismann, Karl-Ernst. 1988. „Eröffnungsvortrag. Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik“. In Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, hg. von Gerhard Schneider. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1988. Pfaffenweiler: Centaurus-Verl.-Ges.
- Jung, Martin H. 2002. Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945. Bd. 5. Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen 3. Leipzig: Evang. Verl.-Anst.
- Lessing, Eckhard. 2000. 1870 – 1918. Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
- Martínez, Matías. 2019. Einführung in die Erzähltheorie. 11. Aufl. C.H. Beck Studium. München: Beck.
- McCallum, Andrew Kachites. 2002. MALLET: a machine learning for language toolkit. http://mallet.cs.umass.edu (zugegriffen: 20.07.2024).
- Murrmann-Kahl, Michael. 1992. Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie. 1880 - 1920. Gütersloh: Mohn.
- Reul, Christian, Dennis Christ, Alexander Hartelt, Nico Balbach, Maximilian Wehner, Uwe Springmann, Christoph Wick, Christine Grundig, Andreas Büttner, und Frank Puppe. 2019. „OCR4all—An Open-Source Tool Providing a (Semi-)Automatic OCR Workflow for Historical Printings“. Appl. Sci. 9 (22): 4853. https://doi.org/10.3390/app9224853 (zugegriffen: 20.07.2024).
- Rohls, Jan. 2018a. Protestantische Theologie der Neuzeit. Band I. Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Unveränderte Studienausgabe. UTB 5059. Tübingen: Mohr Siebeck.
- ———. 2018b. Protestantische Theologie der Neuzeit. Band II. Das 20. Jahrhundert. Unveränderte Studienausgabe. UTB 5060. Tübingen: Mohr Siebeck.
- Rüsen, Jörn. 1994. „Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken“. In Historische Faszination. Geschichtskultur heute, hg. von Klaus Füssmann, Heinrich Theodor Grütter, und Jörn Rüsen, 3–26. Köln: Böhlau.
- Vauth, Michael, Malte Meister, Hans Ole Hatzel, Dominik Gerstorfer und Evelyn Gius. 2022. GitMA (1.4.9). Zenodo. https://doi.org/10.5281/zenodo.6330464 (zugegriffen: 20.07.2024).