Der texgenetische Apparat in der digitalen Edition – eine Zukunftsvision, die technisch machbar ist Die Textgenese auf Wort- und Satzebene in bestehenden Online-Editionen Neuerer deutscher Literatur und in der neuen digitalen Gotthelf-Gesamtausgabe (dHKG)

Reichen, Roland
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Textgenese in der gedruckten Edition und in bestehenden Online-Editionen Neuerer deutscher Literatur

In den germanistischen Bucheditionen des späteren 20. Jahrhunderts hatte die Textgenese bekanntlich einen „eminenten Stellenwert“ (Nutt-Kofoth, 2019). Den „Prozeß der Textentstehung über mehrere Bearbeitungsstufen hinweg zu verfolgen und in einem Apparat verständlich darzustellen“, ohne dass die Lesenden auf die originalen Manuskripten zurückgreifen müssten, gelte „heute als eine der wichtigsten editorischen Aufgaben“, schrieb etwa Bodo Plachta 1997 in seiner unterdessen klassischen Einführung in die Editionswissenschaft. Er rekapitulierte so die Aufwertung, die die Rekonstruktion von Textbildungsvorgängen aus einer genauen Analyse der Handschriften seit den 1920er-Jahren in der Fachwissenschschaft erfahren hatte, angefangen bei Reinhold Backmann (1924) und dessen größerer Wertschätzung des Apparats gegenüber dem abgedruckten Text. Auf die Spitze trieb diese Aufwertung 1971 und dann auch wieder 1998 Gunter Martens, indem er den textgenetischen Apparat schlichtweg zum „Kernstück“ der Edition erklärte (Martens, 1971). Mit seinem Konzept der „Textdynamik“ redete er einer Editionsform das Wort, die „das dichterische Schreiben […] als Prozeß offenlegt“ und „die Textgenese als eigenständige bedeutungstragende Geste vorführt“ (Martens, 1998). Entsprechend verzichtete die von ihm mitherausgegebene textgenetische Ausgabe der Gedichte Georg Heyms (1993) ganz auf die „Herausstellung gesonderter ‚edierter Texte‘“ und die „traditionelle Trennung von ‚Text‘ und ‚Apparat‘“ (Martens, 1998).

Demgegenüber messen digitale germanistische Editionen den Textbildungsprozessen bislang meist keine herausragende Bedeutung zu. Rüdiger Nutt-Kofoth stellte 2019 fest:

Digitale Editionen scheinen bisher stark in der Präsentation archivalischer Befunde in unterschiedlichen Ansichten und der Verknüpfung mit bestimmten textuellen Angeboten zu sein (Faksimiles, Transkriptionen – auch in Überblendung des Schriftbildes im Faksimile, Lesetexte, Variantenlistungen). Gleichfalls gelingen makrogenetische Überblicke durch grafische Visualisierungen (Diagramme) und Verknüpfung mit leichterer Benutzerführung als in der Buchedition. Das Feld der Mikrogenese, in dem die Buchedition große Erfolge vorzuweisen hat, wird bisher jedoch von der digitalen Edition unzureichend bedient […].

Ähnlich Beobachtungen machte ebenfalls 2019 Wolfgang Lukas: Als „absolute[n] Standard“ in der digitalen Editorik erkennt er die „Trennung einer mimetisch-diplomatischen Transkription im Verbund mit einem Faksimilearchiv einerseits und eines Lesetextes andererseits“.

Eine von der Räumlichkeit des Dokuments abgelöste genetische Wiedergabe als eigene und weitere Ansicht des Textes einer handschriftlichen Seite bei komplexen mehrfachen Änderungsprozessen findet sich, soweit ich sehe, hingegen nicht; die genetische Information wird entweder in die diplomatische Umschrift integriert […] oder separiert in Gestalt eines (mehr oder weniger traditionellen) genetischen Apparats vermittelt. […] Eine Fokussierung auf eine mikrogenetische Einheit – Wort, Satz, Vers – mit expliziter Markierung der Varianz bieten bislang überhaupt nur wenige Projekte […].

Mit der Mikrogenese beziehen sich Nutt-Kofoth und Lukas, der das an der zitierten Stelle ja schon umschreibt, auf die Textvarianz auf „Ebene des Wortes oder der kleineren Menge an zusammenhängenden Worten“. Sie unterscheiden davon eine textgenetische „Mesoebene“, die Varianz im Rahmen größerer Textblöcke und unterschiedlicher „Textstufe[n]“. Die „Makroebene“ betrifft die Abweichungen zwischen den verschiedenen „Fassungen“ eines „Werks“ (Nutt-Kofoth, 2016; Lukas, 2019).

Ein aktueller Blick in eine Reihe digitaler germanistischer Editionen zeigt, dass die Befunde von Nutt-Kofoth und Lukas auch fünf Jahre später noch Gültigkeit haben. Nimmt man die folgenden Online-Projekte zur Grundlage, ist namentlich eine eigenständige mikrogenetische Ansicht die absolute Ausnahme in der digitalen germanistischen Editorik: Faustedition; Briefedition Wedekind; Theodor Fontane: Notizbücher; kleist-digital; edition humboldt digital; Arthur Schnitzler digital; Hermann Burger: Lokalbericht. Digitale Edition; Heinrich-Heine-Portal; Jean Paul – Sämtliche Briefe digital; Musil online.

Die Auswahl ist einigermaßen repräsentativ für die digitale Editionspraxis im Bereich der Neueren deutschen Literatur. Mit Lukas’ Worten herrscht bezüglich der Mikrogenese „der Modus […] des ‚Zeigens‘“ klar gegenüber demjenigen „des ‚Sagens‘“ (Lukas, 2019) vor: Acht der zehn genannten Editionen präsentieren handschriftliche oder handschriftlich bearbeitete Texte in Form diplomatischer Umschriften. Die Umschrift ist in der Regel die einzige Textansicht, die Rückschlüsse auf die Mikrogenese erlaubt, wobei die meisten Projekte die Darstellung wenigstens mit einigen genetischen Informationen anreichern. Das sei an vier Beispielen verdeutlicht:

Wenige genetische Zusatzinformationen zur diplomatischen Transkription bietet die Musil-Edition. Aufgrund der grafischen Hervorhebung von gestrichenem und hinzugefügtem Text lassen sich einfache Tilgungen und Ergänzungen in Musils Nachlassdokumenten zwar relativ leicht erkennen. Man wünschte sich aber eine genauere Differenzierung bei Ersetzungen, die lediglich in der Kombination von gestrichenem und ergänztem Text erkennbar werden, so etwa, wenn nach der gestrichenen Buchstabenfolge „vermoch“ der hinzugefügte Text „konn“ steht, gefolgt von der nicht hervorgehobenen Endung „ten“ (Musil, 2016). Gerade in diesem Fall wäre man froh um einen Hinweis, ob es sich um eine Ersetzung in oder über der Zeile handelt, da man so womöglich besser einschätzen könnte, ob man von einer Sofortkorrektur oder einer nachträglichen Anpassung ausgehen darf. Der XML-Code für die Stelle bringt keinen Aufschluss, denn die Ersetzung ist als bloßes <subst>-Element ohne jede weitere Typenauszeichnung codiert (Musil, 2018, Z. 906–909). Und zumindest am Testtag (18.11.2024) schien auch das Faksimile der fraglichen Seite nicht vorhanden, so dass es nicht möglich war, die Ersetzung selbständig über andere Ansichten innerhalb der Edition genauer zu bestimmen.

Das Berliner Humboldt-Projekt nutzt ebenfalls die Mouseover-Funktion, um seine diplomatischen Umschriften mit textgenetischen Informationen anzureichern. Aufgrund grafischer und insbesondere farblicher Hervorhebung erkennt man Streichungen und Ergänzungen auf einen Blick; anhand der farblichen Kombination kann man auch Ersetzungen nahezu mühelos identifizieren. Die Probleme, die es bei Musil mit der genaueren Bestimmung von Ersetzungskorrekturen gibt, finden sich bei Humboldt kaum, denn das Projekt nutzt Popup-Kästchen, um ergänzten Text sehr feingliedrig zu differenzieren: Es wird unterschieden, ob dieser Text in der Zeile (Humboldt, 2023a, „28“ nach dem gestrichenen „29“) oder außerhalb der Zeile steht (Humboldt, 2023b, „30 Avril“ oberhalb des gestrichenen „Mai“) oder ob er „über den ursprünglichen Text geschrieben“ wurde (ebd., die Überschreibung von „8“ mit „7“). So lässt sich rasch bestimmen, wo man es mit einem reinen Textzusatz etwa am linken Rand zu tun hat (Humboldt, 2023a) und wo mit unterschiedlichen Formen von Ersetzungskorrekturen.

Die Faust-Edition hebt in ihrer diplomatischen Umschrift, der Textansicht „Dokumentarische Transkription“, Ergänzungen außerhalb der Zeile und Streichungen grafisch hervor, aber auch Überschreibungen (Goethe, 2023b). Als einziges der untersuchten Projekte bietet sie eine eigene mikrogenetische Ansicht, die „Textuelle Transkription“, die zur dokumentarischen hinzugeschaltet werden kann. In der textuellen Ansicht sind Ersetzungen, Ergänzungen und Tilgungen grafisch markiert und zudem über eine Mouseover-Funktion als solche identifizierbar (Goethe, 2023a, V. 3821, 3820, 3833). Bei Ersetzungen fehlt der Ort des ersetzenden Textes – der lässt sich aber in der Parallelansicht mit der dokumentarischen Transkription, die die Spatialität des Manuskripts nachbildet, leicht feststellen (Goethe, 2023c, V. 6218).

Uneinheitlich sind in der textuellen Transkription Überschreibungen von einzelnen Buchstaben wiedergegeben, mal als Ersetzung, so etwa eine Überschreibung von „ü“ mit „i“ im Wort „Verbürgst“, mal als Tilgung, so ein mit „d“ überschriebenes „t“ im Wort „Quit“, mal als Ergänzung, so ein mit „ff“ und nachfolgendem „t“ überschriebenes „ft“ im Wort „Luft“. – Die Mouseover-Funktion der dokumentarischen Transkription klärt einen indes darüber auf, dass man es in all diesen Fällen mit Überschreibungen zu tun hat (Goethe, 2023a, V. 3821, 3820, 3833). Obwohl man hier also auf die mimetische Ansicht ausweichen muss, um die korrekte genetische Information in Erfahrung zu bringen, ist die Faust-Edition doch das einzige unter den behandelten Projekten, das die Mikrogenese lückenlos für alle bearbeiteten Textstellen in expliziter Weise beschreibt.

Die digitale Schnitzler-Edition bietet Manuskriptseiten in einer Parallelansicht von Faksimile und diplomatischer Umschrift dar, wobei letztere unter anderem Streichungen und Überschreibungen grafisch hervorhebt (Schnitzler, 2024a, Reiter „Legende“ aktiviert). Zu allen veränderten Textstellen auf einer Seite kann man in einer Randspalte aber zusätzliche „Annotationen“ aufrufen. Ein Reiter ermöglicht es, sich scheinbar sämtliche Ersetzungen und Tilgungen auf der gewählten Seite anzeigen zu lassen. Etwas verwirrend ist dabei, dass dieselbe Textstelle sowohl unter „Tilgung“ wie auch „Ersetzung“ aufgelistet ist, wenn es sich um ersetzten Text handelt (ebd., Reiter „Annotationen [transkriptübergreifend]“ aktiviert, Z. 4: „die Luft“). Zudem werden reine Tilgungen manchmal unter „Tilgung“ aufgelistet (Schnitzler, 2024c, Reiter „Annotationen [transkriptübergreifend]“ aktiviert, Z. 16: „oh Gott“), manchmal aber auch nicht. Und unter „Ersetzung“ sind die – freilich grafisch hervorgehobenen – Überschreibungen nicht aufgeführt (Schnitzler, 2024a, Reiter „Annotationen [transkriptübergreifend]“ aktiviert, Z. 9f: Das gestrichene „einä“ auf Z. 9 ist unter „Tilgung“ nicht aufgeführt, die Überschreibung von „sah“ mit „hat“ auf Z. 10 fehlt unter „Ersetzung“).

Teilweise Abhilfe schafft hier ein zweiter Reiter. Wenn er aktiviert ist, kann man auf dem Faksimile oder im transkribierten Text ein Wort auswählen und erhält dann „Annotationen“ allein zum gewählten Wort. Diese „Annotationen“ identifizieren etwa Überschreibungen (ebd., Reiter „Annotationen [transkriptbezogen]“ aktiviert, Z. 10: die „Überschreibung“ von „sah“ mit „hat“), aber auch Textergänzungen, die außerhalb der Zeile stehen und in der diplomatischen Umschrift nicht distinkt erschienen (Schnitzler, 2024b, Reiter „Annotationen [transkriptbezogen]“ aktiviert, Z. 1: „telegrafisch“ als „Textzusatz […] über der Zeile“ ausgewiesen). Bei getilgten Wörtern erhält man indes lediglich die Information, dass diese durchgestrichen sind (Schnitzler, 2024a, Reiter „Annotationen [transkriptbezogen]“ aktiviert, Z. 9: das gestrichene „einä“). Um zu erfahren, ob solche Streichungen ersatzlos oder im Rahmen von nicht überschreibenden Ersetzungskorrekturen erfolgt sind, wäre man auf den im letzten Absatz erwähnten Reiter angewiesen – der aber eben nicht zuverlässig alle Tilgungen auf einer Seite auflistet. So müssen die Benutzenden in einigen wenigen Fällen selber bestimmen, welche textgenetische Operation einem gestrichenen Wort zugrunde liegt.

Nur die Faust-Edition hält also wirklich für jede bearbeitete Textstelle in einem Manuskript explizit und differenziert fest, welche Art von Texteingriff jeweils vorgenommen wurde. Umso bedauerlicher ist es, dass man sich nur bedingt an dem orientieren kann, was in deren textueller Ansicht als Tilgung, Ersetzung oder Ergänzung ausgezeichnet ist. Weil man zur korrekten Bestimmung teilweise Stelle für Stelle mit der Mouseover-Funktion der dokumentarischen Ansicht überprüfen muss, gewinnt man erst allmählich einen Überblick über sämtliche Texteingriffe auf einer Seite und so eine mesogenetische Perspektive.

Textgenese in der digitalen Gotthelf-Gesamtausgabe

Die digitale Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Jeremias Gotthelf (dHKG) bietet demgegenüber eine textgenetische Ansicht, die Mikro- wie Mesogenese gerecht wird: Alle bearbeiteten Textstellen auf einer Seite werden zugleich mit dem jeweils vorliegenden Eingriffstyp angezeigt.

Für Handschriften bietet die dHKG, die im Frühjahr 2025 online geht, neben den jeweiligen Faksimiles zwei Grundansichten, eine Lesefassung und eine textgenetische Ansicht. In der Lesefassung sind die Resultate der einzelnen Textbearbeitungen berücksichtigt, aber nicht hervorgehoben. Haben mehrere Hände in einen Text eingegriffen und liegen also Textstufen mit verschiedenen Bearbeitungsversionen bestimmter Stellen vor, sind diese Hände in einer Randleiste aufgelistet. Wählt man eine Hand an, wird jeweils der gesamte Text in der Bearbeitungsversion jener Hand angezeigt, inklusive der Stellen, die gegebenenfalls unverändert von vorangehenden Händen übernommen wurden.

Hier ein Beispiel für die Standardeinstellung der textgenetischen Ansicht. Der Apparat ist vollständig in den edierten Text integriert (Gotthelf, 2025a, S. 1, Z. 9–16):

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Die Ansicht ist in der Regel zeilengenau. Sämtliche Textstellen, die Gotthelf im Manuskript bearbeitet hat, sind grau hinterlegt, und eine Legende über der Zeile gibt jeweils an, welcher Eingriffstyp an der betreffenden Stelle vorliegt. Was Ersetzungskorrekturen angeht, differenziert die dHKG zwischen Überschreibungen, nicht überschreibenden Ersetzungen in der Zeile („Korrektur“) und ersetzendem Text außerhalb der Zeile („Ersetzung“). Textbestandteile, die im Rahmen der Bearbeitung entfallen, erscheinen grau, solche, die beim Bearbeiten hinzukommen, in schwarzer Schrift.

Über eine Randleiste ist eine Legende der verwendeten Sonderzeichen einblendbar: „x“ in kleinen Spitzklammern markieren beispielsweise unleserliche Zeichen; beim hochgestellten „i“-Kreis lassen sich Popup-Kästchen mit weiteren Informationen zum betreffenden Eingriff aufrufen.

Über die Randleiste kann man auch eine Leseinformation zur textgenetischen Ansicht aufrufen. Sie erläutert unter anderem die Darstellung mehrstufiger Bearbeitungsprozesse wie auf Zeile 15: Auf Zeilenhöhe ist der letzte Korrekturschritt eingeblendet, hier die Korrektur zu „vor sich schlug“. Die farbliche Hervorhebung des letzten Korrekturschritts erstreckt sich dabei über alle vorangehenden Korrekturvarianten. Diese stehen auf einer je eigenen Stufe, etwas abgesenkt in und unterhalb des Farbbalkens, mit dem die jeweils nachfolgende Korrekturversion markiert ist. Beim Beispiel auf Zeile 15 handelt es sich lediglich um einen zweistufigen Eingriff; „st“ wurde ersetzt durch „sieg“ mit einem unleserlichen Zeichen danach, was wiederum ersetzt wurde durch „vor sich schlug“. Die Darstellung gibt die Hierarchie im XML-Code wieder, in dem der erste Korrekturschritt innerhalb des zweiten codiert ist (Gotthelf, 2025b):

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Haben mehrere Hände in einen Text eingegriffen, sind diese Hände wie in der Lesefassung in der Randleiste aufgelistet. Sie sind aber zusätzlich in unterschiedlichen Farben markiert. Mit den entsprechenden Farben sind im Text die Eingriffe der jeweiligen Hand hervorgehoben (Gotthelf, 2025c, S. 4, Z. 18f.):

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An Stellen, an denen nur die erste Hand den Text verändert hat, sind die Bearbeitungen in der Zeile eingeblendet, so im Beispiel die beiden Überschreibungen Gotthelfs auf Zeile 18. An Stellen, an denen spätere Hände eingegriffen haben, steht außerhalb der Zeile, in einer farbigen Blase unterhalb der Stelle, an der der Eingriff beginnt, zunächst die Textvariante der ersten Hand, und zwar unabhängig davon, ob die erste Hand den Text dort – wie mit der Ergänzung auf Zeile 18 – ebenfalls bearbeitet hat oder – wie auf Zeile 19 – nicht. Unter der Variante der ersten Hand folgen die Texteingriffe der späteren Hände an jener Stelle; sie sind ihrerseits in Blasen in der ihnen zugeordneten Farbe wiedergegeben. Über den Zeilenzähler sind die Varianten der korrekten Manuskriptzeile zugeordnet.

In den Varianten ist die Schrift danach differenziert, ob ein Eingriff von Gotthelf stammt (Serifenschrift recte) oder von einer anderen Person seiner Zeit (Serifenschrift kursiv). Mit rückwärts geneigter Serifenschrift sind Bearbeitungen und Textbestandteile unsicherer Autorschaft markiert. Der jeweiligen Schrift angepasst sind dabei auch allfällige Bezugswörter, die aus einer früheren Variante unverändert übernommen wurden, im Beispiel bei der Tilgung auf Zeile 18 das dem Eingriff vorangehende und folgende Wort.

Nicht zuletzt bietet die textgenetische Ansicht einen Suchfilter (Gotthelf, 2025c):

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Links kann man die Hand wählen, deren Textversion man sehen möchte. Die Fassung der ersten Hand und die Bearbeitungen der Hände, die vor der gewählten in den Text eingegriffen haben, sind in der Standardeinstellung aber auch immer in die Ansicht integriert. So ist gewährleistet, dass Korrekturschritte auch dann nachvollzogen werden können, wenn sie auf bereits verändertem Text aufbauen.

Neben der Hand-Auswahl sind die neun Eingriffstypen aufgelistet, die die dHKG erfasst. In je eigenen Spalten gibt der Filter gesamthaft und für jede Hand einzeln an, wie viele Texteingriffe total vorkommen und welche wie oft. Indem man die Hand- und die Eingriffstypen-Auswahl kombiniert, kann man die Anzeige auf bestimmte Eingriffe einer einzelnen Hand einschränken. Mehrstufige Korrekturprozesse bleiben so lange sichtbar, bis alle darin vorkommenden Bearbeitungsformen abgewählt sind. Mit den Pfeilen vor der Zahl des Vorkommens kann man zum Beispiel von einer Überschreibung Gotthelfs zur nächsten vor und zurück durch den Text navigieren.

Bezogen auf Handschriften, an denen verschiedene Hände nacheinander gearbeitet haben, setzt die dHKG im Digitalen um, was Hans Zeller in der gedruckten Ausgabe von Conrad Ferdinand Meyers Gedichten mit der „partiturmäßige[n] Anordnung mehrerer Zeugen“ zu erreichen versuchte: die Möglichkeit, sowohl eine einzelne „Stufe […] in ihrem Verlauf vom Anfang zum Ende“ eines Textes zu verfolgen, was die farbliche Markierung der Hände in der dHKG erlaubt, wie auch die Textentwicklung an einer ganz „bestimmte[n] Stelle“ jederzeit im Auge zu haben (Zeller, 1964).

Die digitalen Editionstechnologien befähigen uns, die hundertjährige Geschichte der Aufwertung der Textgenese auf einer neuen Stufe fortzusetzen. Sie gestatten es nicht nur, die textphilologischen Standards gedruckter Editionen für digitale Ausgaben zu übernehmen, sondern ermöglichen es überdies, den textgenetischen Apparat von der traditionell randständigen Position, die er in gedruckten Editionen hat, in den edierten Text hineinzuschieben, ihn vollständig, aber auch variabel direkt an den betreffenden Textstellen sichtbar zu machen. Es liegt an den digitalen Editionsprojekten, das philologische Potenzial der digitalen Editorik auszuschöpfen.


Bibliographie

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