Wie funktionierte moderne Alltagsmobilität vor dem Automobil? Agentenbasierte Modellierung des Wandels von Mobilitätspraktiken im Berliner ‚built environment‘ der Zwischenkriegsjahre (ca. 1920-1930)

Schmitz, Jascha Merijn
https://zenodo.org/records/14943136
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Mobilität ist in den meisten Städten der Welt seit vielen Jahrzehnten stark von motorisiertem Individualverkehr geprägt. Die Praxis des Autofahrens ist inzwischen aus der Perspektive einer nachhaltigen Gesellschaftsgestaltung im Angesicht des Klimawandels, drohender Ressourcenknappheiten sowie aufgeheizter Debatten um die Raumnutzung in Großstädten ein zentrales Problem geworden. Viele Städte wurden in den vergangenen 100 Jahren unter dem Motto der autogerechten Stadt so umgebaut, dass ihre Verkehrsinfrastrukturen vor allem einem reibungslosen Autoverkehr dienen (Harris 2023; Bess 2023; Möser 2003; Reichow 1959).

Diese Bevorzugung des Autos ist nicht nur ein Ausdruck tiefer kultureller Prägung, sondern stellt ein komplexes, historisch gewachsenes Abhängigkeitsverhältnis dar (Shove, Pantzar, und Watson 2012). In der Stadtgeographie und verwandten Disziplinen wird dieses städtebauliche Erbe auch als built environment bezeichnet, also als erbaute Umwelt (Knight und Ruddock 2008). Die Bewohner der erbauten Umwelt müssen sich und ihr Mobilitätsverhalten anpassen, um erfolgreich in ihr zu „überleben“.

Das übergeordnete Ziel des Dissertationsprojekts ist es, aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Möglichkeiten, Grenzen und das Erleben historischer urbaner Mobilität außerhalb dieser infrastrukturellen Bedingungen der Massen-Automobilität besser zu verstehen. Das Vorhaben schließt an jüngere Ansätze einer Anthropocene History an, die aktiv zum Verständnis der Genese der obengenannten Krisen, die sich unter dem Schlagwort des Anthropozäns versammeln lassen, beitragen will (Silva et al. 2022; Rueda 2022; Travis und Holm 2016).

Im vorgeschlagenen Beitrag zum Doctoral Consortium soll das multimodale Forschungsdesign des Projektes vorgestellt und diskutiert werden, bei dem ein Geoinformationssystem (GIS) mit der in den DH noch relativ unerprobten Simulationsmethode des Agent-based Modeling (ABM) kombiniert wird. Dabei soll insbesondere auf die beiden hauptsächlichen Forschungsziele des Projekts eingegangen werden, einerseits einer nachnutzbaren, multimodalen Simulationsmethodologie zur Erforschung historischer Mobilität, andererseits einer angewandten Methodenkritik der Methode und insbesondere historischer ABM. Im Beitrag werden beide Forschungsziele ausgeführt und dargelegt, wie sie erreicht werden sollen.

Ansatz, Daten und Methoden

Gegenstand des Projekts ist Berlin in den 1920er bis 1930er Jahre n . Berlin hatte damals eines der dichtesten und modernsten Netze des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV). Ende der 1920er Jahre wurde mit den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) ein zentraler Verkehrsverband gegründet, der Bus- und Straßenbahnverkehr bündelte und im Jahr 1929 über 900 Millionen Fahrgäste transportiert e (Autorenkollektiv und Bauer 1987).

Gleichzeitig wurden in dieser Zeit umfangreiche Statistiken zur Verkehrsnutzung gesammelt, die – neben vollständigen Fahrplänen mit An- und Abfahrtzeiten – in den Archiven der BVG und anderswo vorliegen.

Aus diesem umfangreichen Quellenmaterial wird ein GIS erstellt, das in seiner Struktur für die Nutzung als Simulationsumgebung geeignet ist. In einem ABM werden Hypothesen zu alltäglichem Mobilitätsverhalten modelliert. Die Agenten des ABM werden sich in mehreren, experimentellen Simulationsläufen durch das GIS bewegen, was Aufschlüsse über die Möglichkeiten und Grenzen von Mobilität in diesem built environment bieten wird. Auf Grundlage dieser Experimentalläufe wird wiederum das ABM weiter angepasst, um das Modell zu plausibilisieren (für eine weitere Einordnung der Simulationsmethode siehe Lake 2015; Brughmans 2022).

Forschungsziel I: Nachnutzbare Simulationsmethodologie zum Verständnis historischer Mobilität

Stück für Stück sind so die Möglichkeitsräume von Mobilität in einer noch nicht von Automobilverkehr geprägten, modernen Großstadt experimentell erschließbar. Damit schließt die Arbeit an aktuelle Forschung im Bereich der umwelthistorischen und stadtgeographischen Forschung an (siehe etwa Roberts et al. 2024; Bekasova et al. 2020; Haumann, Knoll, und Mares 2020).

Das Ergebnis des Projekts wird ein nachnutzbares GIS der Mobilitätsinfrastruktur Berlins um 1930 sein, das durch weitere sozioökonomische Features erweitert oder auch für andere Nutzungen angepasst werden kann, etwa zur Erstellung eines 3D-Modells. Die Simulationsmodelle werden ebenso für weitere Experimente zur Verfügung gestellt werden, entweder zur Verwendung im gleichen Berliner GIS oder für andere GIS. Zu diesem Zweck wird auch der Workflow zur Erstellung eines simulationsgeeigneten, historischen GIS dokumentiert und geteilt werden.

Eine Auswahl an experimentell gewonnenen ABM, die unter den Bedingungen der historischen Annahmen und denen des Experiments am plausibelsten Erscheinen, werden gesondert veröffentlicht. Diese werden als Repräsentationen neuer Annahmen über historische Mobilitätspraktiken in modernen, noch nicht automobil geprägten Großstädten interpretiert und diskutiert werden.

Forschungsziel II: Methodenkritik von Agent-based Modelling und GIS in den DH

Simulationsmethoden haben in den Digital Humanities und der Digital History eine lange Anwendungsgeschichte (Levison, Ward, und Webb 1972; Wachter, Laslett, und Hammel 1978), werden aber nach wie vor nur selten angewendet (Gavin 2014; Champion 2016; Scheuermann 2022; Graham 2020). Ein weiteres Ziel des Projekts ist daher die Reflexion der hier verwendeten multimodalen, simulativen Methodik. Diese Reflexion umfasst unter anderem die erkenntnistheoretische Bedeutung der Modellierung menschlichen Verhaltens für die DH und konkrete methodologische Anforderungen an historische Simulationen, etwa bezüglich Operationalisierung und Qualitätskontrolle. Angestrebt ist die Formulierung einer angewandten Methodenkritik der verwendeten Methoden, insbesondere zum ABM, für die DH und Digital History.

Die Teilnahme am Doctoral Consortium erlaubt es, das Forschungsprojekt als ganzes, erste Möglichkeiten und Grenzen der vorgestellten, multimodalen Methodik und möglicherweise noch fehlende, relevante methodologische und epistemologische Aspekte des Vorhabens in einem interdisziplinären Forum zu diskutieren. Dies wird im weiteren Verlauf dieses noch in einer frühen Phase befindlichen Projekts einen höheren Grad an Relevanz und Nützlichkeit nicht nur für die mobilitätsgeschichtliche und Digital History Communities ermöglichen, sondern im besten Fall auch Anknüpfungspunkte in den DH insgesamt eröffnen.


Bibliographie

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