Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 12

Gedichte (Hofmannsthal, Hugo von)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 12

Text

12 HOFMANNSTHAL.

Das Salböl aus den Händen
Der todten alten Frau
Lass lächelnd ihn verschwenden
An Adler, Lamm und Pfau:
Er lächelt der Gefährten, —
Die schwebend unbeschwerten
Abgründe und die Gärten
Des Lebens tragen ihn!


II.
GUTE STUNDE.

Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt,
Hier hab ich kein Haus, und hier hab ich kein Zelt!

Die Wege der Menschen sind um mich her,
Hinauf zu den Bergen und nieder zum Meer:

Sie tragen die Waare, die ihnen gefällt,
Unwissend, dass jede mein Leben enthält.

Sie bringen in Schwingen aus Binsen und Gras
Die Früchte, von denen ich lange nicht ass:

Die Feige erkenn’ ich, nun spür ich den Ort,
Doch lebte der lange Vergessene fort!

Und war mir das Leben, das schöne, entwandt,
Es hielt sich im Meer und es hielt sich im Land!

Wien. Hugo v. Hofmannsthal.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 1, Nr. 1, S. 12, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-01-01_n0012.html)