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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 280

Text

280 NOTIZEN.

Troll, Märchen von Jonas
Lie. Autorisirte Uebersetzung von
E. Brausewetter. Leipzig. Ver-
lag von Aug. Dieckmann.

»Dass in den Menschen Trolle
(böse Geiste, Kobolde) sind, weiss
ein Jeder, der ein wenig Augen
für dergleichen hat, und er weiss
auch, dass die Trollhaftigkeit in
den Menschen als Temperament,
Naturwille oder Explosivkraft lebt.
Und wie weit dieses Trollstadium
den Menschen auch in das civili-
sirte Leben hinein verfolgt, würde
eine ganz nützliche und belehrende,
vielleicht auch ein wenig über-
raschende Untersuchung abgeben.
Die Angst des Daseins, das grosse
Unbekannte um uns, das auch die
Grundlage unseres religiösen Ge-
fühls ist, wechselt unaufhörlich
Gestalt und Namen, je nach den
verschiedenen Aufklärungsstufen «
sagt Jonas Lie in der Einleitung,
die er dem kleinen Buche gibt.

Die Männer des Nordens sind
Symbolisten — das gewöhnliche
Einerlei des Tages wie des Lebens
tiefste Räthsel verwandeln sich in
ihrer Phantasie zu undeutbaren,
düsteren Geschehnissen; wo Andere
ahnungslos vorüberstürmen, dort
bleiben sie grübelnd, tief nach-
denklich stehen. Und darum liegt
ihnen, die das Dasein nicht als
etwas Selbstverständliches auffassen,
die Dichtung »Märchen« so nahe,
die Form der Poesie, unter deren
scheinbar schlichter Hülle sich so

viel versteckte, abgrundtiefe Wahr-
heit und Weisheit verbirgt.

Zu dieser Form hat auch Lie
in seinem »Troll« gegriffen, um
Wahrheiten zu sagen, dem Leicht-
fertigen verborgene — krystall-
helle Wahrheiten aber denen, die
begriffen haben: in der »Wild-
taube« und im »Walde«, im
»Hühnerhof«, im »Spiegeltroll« und
im »Leuchtthurm«, einem Märchen,
das eines weltfremden Schwärmers
wehes Schicksal schildert, den
seine schweifende Phantasie zu-
gleich mit seinen Freunden zu
weit getragen über die Grenzen
der realen Wirklichkeit.

Doch bei einem kahlen, nüch-
ternem Vorbringen der Wahrheit
hält Lie, der Dichter, nicht inne
— der Meister der poetischen
Form ist und bleibt er stets,
gleich einem anderen nordischen
Märchenbarden, gleich Hans Chri-
stian Andersen: nur Perlen meist
ernst getönter Schilderungen nordi-
scher Küstenlandschaften sind in
diesem Bilderbuch ohne Bilder. Der
Erfasser tiefster, erschütterndster
Seelenprobleme weiss nicht nur den
Blick in die Psyche des Men-
schen
zu tauchen bis zu ihrem
Urgrunde: auf Welle und Woge,
Fjord und Scheere bleibt oft und
lange sein ernstes Auge haften,
bis es der Natur verborgenste
Schönheiten in sich aufgenommen,
sie ganz begriffen hat

A. N.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 7, S. 280, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-07_n0280.html)