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Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 400

Text

400 NOTIZEN.

sätze geschöpft hat. In der kurzen
Zeit seiner Amtsthätigkeit hat er
das einzig richtige Mittel zur
Schaffung eines österreichischen
Kunstgewerbes angewandt, d. h.
er hat den Wienern, welche bisher
nur die pompösen Schätze des
Herrn Sandor Jaray anzustaunen
Gelegenheit hatten, die Elegance
und Einfachheit des englischen
Kunstgewerbes endlich einmal ge-
zeigt. Die verschiedenen Herren
Jarays, aus ihrer Unbeweglichkeit
geweckt, zeterten unter local-
patriotischen Vorwänden gegen
den »Ruhe-Störer«. Man darf die
besorgten Geschäftsleute aber viel-
leicht daran erinnern, dass das
Kunstgewerbe nicht bloss eine
Gewerbe-, sondern auch eine
Kunstangelegenheit ist. Hoffen wir,
dass diese kurzsichtige Agitation
die zielbewusste Thatkraft des Hof-
rathes Scala in keiner Hinsicht
schwächt oder schädigt.

—n .

Der Berliner sozialde-
mokratische »Vorwärts«
hat auch eine literarische Beilage,
deren Inhalt aber mit dem des
Hauptblattes seltsam contrastirt.
In diesem wird energisch gegen
politische und wirthschaftliche
Knechtung zu Felde gezogen, in
jener verharrt man ängstlich in
reactionärem Stumpfsinn. Von der
Seite ist die »Wiener Rundschau«,
welche unentwegt für die moderne

Kunstrichtung eintritt, schon wieder-
holt durch Angriffe ausgezeichnet
worden. In unserer letzten Nummer
war es der Artikel über Ibsen,
welcher wie ein rothes Tuch auf
den betreffenden Literaturreporter
wirkte, der sich doch nachgerade
an diese Parteifarbe gewöhnen
könnte. Er geht gleich mit der
Schere auf uns los, schneidet ein-
zelne Sätze des Artikels heraus
und nagelt sie mit seichten Worten
für seine bescheidenen Leser an.
Für eine derartige kritische Thätig-
keit wären wohl die Dramen
Ibsen’s selbst ein noch ergiebigeres
Gebiet. Darin gibt es tausende
von Stellen, die man nur aus dem
Zusammenhang herauszureissen
braucht, um die »Ueberspanntheit«
des Dichters zu illustriren. Wir er-
warten von dem fraglichen Literatur-
reporter des »Vorwärts« diese
Tempelschändung. Derlei kostet
wenig Hirnschmalz; aus Eigenem
braucht man nichts hinzuzuthun.
Und darauf kommt es wohl Schrift-
stellern solcher Sorte an. Sie haben
den Wahlspruch: Schreiben ist
Schreiben. Sie lassen keine eigene
Zeile von sich in die Welt, denn
damit könnte man an den Literatur-
galgen kommen. Weiteren derlei
Scherenattentaten sehen wir mit
Vergnügen entgegen und empfehlen
uns der Ironie der »Vorwärts«-
Literaten.



Herausgeber: Gustav Schoenaich, Felix Rappaport.

Verantwortlicher Redacteur: Gustav Schoenaich.

Ch. Reisser & M. Werthner, Wien.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 10, S. 400, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-10_n0400.html)