Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 321
Text
Wiener Rundschau.
15. MÄRZ 1898.
WIE JONAS LIE LEBT UND DICHTET.
Von Arne Garborg (Hvalstad).
Autorisirte Uebersetzung von Marie Herzfeld (Wien).
I.
Seit 1882 wohnt Jonas Lie in Paris, einer Stadt, die er lieben
gelernt hat.
Nur im Sommer wird es ihm dort zu heiss; dann zieht er nach
Berchtesgaden, einer kleinen Hochgebirgsstadt in Südbayern. Da hat
er nun seit elf Jahren seine Sommerresidenz.
In Reisebriefen aus Deutschland schildert er mit Begeisterung
«den schönen, von Wäldern umkränzten und in all seiner berggrossen
Herrlichkeit so sehr an die Heimat erinnernden« Ort. »Der Markt
liegt gegen 2000 Fuss hoch. Die Fjeldluft duftet den ersten Tag fast
betäubend von würzigen Alpenkräutern und von all dem neugemähten
Gras, das frisch und fett zur Sonnendörrung über den Wiesen liegt.
Vor meinem mit Weinlaub gedeckten Balkon breitet sich das Königsee-
thal mit seinem Gewimmel malerischer Berg- und Waldlinien, und
rundherum schlagen die Salzburger Alpen einen Ring von Bergen
mit grünen Seiten und gezackten, schwindelerregenden, zum Theil
schneebedeckten Zinken von 6000—8000 Fuss Höhe. Mit dem Opernglas
sehen wir von unten her die Gemsen auf dem Watzmann droben
über die Schneefelder gehen. Zwei, drei Büchsenschüsse unter dem
Hause strömen durch Tannenwald und grüne Grashalden ein paar
breite, eiskalte, milchblaue, im Sonngeglitzer smaragdgrüne Jökulelve,
in denen man die Forellen als hastige Schatten über den Steingrund
hin kann huschen sehen.« »Ueberall Waldessausen und Bäche-
brausen! — Und auf der Landstrasse, jenseits unseres vom Grün halb
überwachsenen, kalkweissen Hauses, saust noch ein Strom: der Reisenden
unablässiger Wagenzug niederwärts zum Königsee. Und zwischen den
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 321, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0321.html)