Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 322
Text
Wagen allerhand Fussvolk: Damen mit Mappen, Maler mit Regen-
schirmen, Bauern in ihren Nationaltrachten, Touristen und Touristinnen
mit Alpenstöcken, geführt von braunen Gemsjägern mit nackten Knien,
die Jacke über die Achsel geworfen, die Adlerfeder auf dem Hut.«
Wie wohl Jonas Lie sich in Berchtesgaden fühlt, sieht man
daraus, dass fast alle seine späteren Werke da geschrieben sind. Unter
»geschrieben« ist aber bei den grösseren Arbeiten »ausgeführt« zu ver-
stehen. Denn er arbeitet auch in Paris viel, obwohl er da nicht all-
zuviel Ruhe hat.
Seine Wohnung in Rue Carnot 4, später auf der Avenue de la
Grande Armée 7 und nun Rue Poisson 4 ist stets in fast allzu hohem
Grad ein Sammelort nordischer Touristen und Paris-Einlieger gewesen.
Nicht bloss am wöchentlichen Empfangstag hatte er die Stube voll;
kaum jemals konnte er sicher sein, dass nicht ein oder der andere
Besucher die Thürglocke zog, ein Reisender, der Jonas Lie gesehen
haben musste, ein Zeitungsmensch, der ein Interview schreiben sollte,
ein Neuankömmling, der um Rath und Hilfe bitten musste, ein Freund,
der sich an einer Plauderei erfrischen wollte, Bekannte und Künstler,
die einen angenehmen Abend zuzubringen wünschten.
Was Lie half, all diese Einrückung auszuhalten, war — ausser
der Urkraft und den guten Nerven — seine grosse, sehnende Heimats-
liebe, die machte, dass jeder nordische Mensch, der kam, ihm ein
lebendiger und erfrischender Gruss von zu Hause wurde.
Dann hat Lie auch das für einen Norweger nicht Gewöhnliche,
dass er sich in Gespräch und Umgang wirklich wohl fühlt. »Es
amusirt ihn augenscheinlich, unter der leichten, bequemeren Form der
Conversation zu produciren.« »Für ihn ist der persönliche Umgang wie
ein magnetischer Strom Neue Persönlichkeiten nehmen ihn gefangen.
Er fühlt sich in sie hinein, fühlt sich vorwärts, greift erst einzelne
Töne, dann Accorde auf ihnen, wie auf einem musikalischen Instrument,
dessen Klangfarbe und Tonstärke er untersuchen will.« Es ist »eine
Entdeckerfreude an individuellem Leben, ein Naturdienst, ein Persön-
lichkeitscult, der ihn zu dem meist weckenden Geist unter den Nor-
wegern gemacht hat.« (L. Marholm.)
Seine Pariser Wohnung ist in Blättern und Zeitschriften öfters
beschrieben worden. Der Salon ist ein geschmackvoll ausgestattetes,
lichtes Zimmer in gedämpften braunen und moosgrünen Farben,
»mittels Kissen und Teppichen warm und dicht gemacht so wie daheim,
wo wir zugestehen, dass es etwas gibt, das Winter heisst«. An den
Wänden Skizzen und Bilder, Geschenke von Künstlern. Lie hat viele
Freunde unter ihnen. Auf Kamingesims und Etagère allerlei hübsche
Kleinigkeiten, Tafeluhr, Candelaber, Photographien (Victor Hugo,
Björnson, Bull, Grieg u. A. m.), ein paar Büsten, darunter eine von
Jonas Lie selbst, ausgeführt vom finnischen Bildhauer Runeberg. In der
Ecke neben dem Fenster Decorationspflanzen. Eine richtig gemüthliche,
nordfranzösische, künstlerisch arrangirte Stube. Das Arbeitsgemach in
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 2, Bd. 3/4, Nr. 9, S. 322, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-02-01-09_n0322.html)